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Verbrechen

Die brutale Gewalt gegen Obdachlose in Großbritannien

Von Angela Millington fand man nur noch das Skelett und eine Panzertape-Maske. Ihr Fall ist nur einer von vielen, für die sich die Öffentlichkeit kaum interessiert.
angela millington mord
Links: Angela Millington | Rechts: Ein Nachbau der Maske von Kriminologen | Beide Fotos: Essex Police

Zuerst fanden sie ihr Skelett, dann, nicht weit davon entfernt, die Maske. Sie war aus schwarzem Panzertape, das man ihr offenbar mehrfach um den Kopf gewickelt hatte. Das mit Matsch bedeckte Gebilde mutete an wie aus der Requisite eines Horrorfilms. Die Kopfform inklusive der Stelle, an der einmal die Nase gewesen war, war noch klar erkennbar. Von der Leiche selbst war außer Knochen nicht mehr viel übrig, sie hatte eindeutig einige Zeit im Wasser gelegen. Erst nach einem Monat konnten forensische Untersuchungen Gewissheit geben: Die Tote war Angela Millington, 33 Jahre, aus Southend-on-Sea in der britischen Grafschaft Essex.

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Es waren Wanderer, die Millingtons Überreste am 21. Juni 2014 in den Salzwiesen von Foulness Island entdeckt hatten – einer kleinen Insel etwa 17 Kilometer von Southend entfernt. Ihren ungewöhnlichen Namen hat sie aus dem alten Englisch der Angelsachsen: "fugla næsse" bedeutet in etwa "Vogel-Kap". Unter Ornithologen ist die Insel noch heute beliebt. Daneben ist sie vor allem als Munitionstestgebiet des britischen Militärs bekannt.


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Aber es leben auch Zivilisten auf Foulness Island. 2011 waren es laut Zensus 151, aber die Zahl dürfte in den vergangenen Jahren erheblich gesunken sein. Abgesehen von Explosionen und Gewehrsalven passiert nicht viel. Der letzte Pub schloss 2007.

Aufgrund der hohen Sicherheitsbestimmungen, die auf der Insel herrschen, sowie dem Fundort der Knochen geht die Polizei nicht davon aus, dass Angela Millington auf Foulness getötet wurde. Viel wahrscheinlicher sei es, dass ihr Körper irgendwo an der Küste ins Wasser gebracht wurde und dann von der Strömung nach Osten auf die Insel gespült wurde.

angela millington

Angela Millington (links) | Foto: Essex Police

Der brutale Mord an Willington ist ein Beispiel für die Gewalt gegen Wohnungslose und die vielen Todesfälle, über die selten gesprochen wird, wenn es um die grassierende Obdachlosigkeit in Großbritannien geht. Ein Bericht des Guardian zeigte im April, dass sich die Zahl der Wohnungslosen, die auf der Straße oder in Unterkünften gestorben waren, in den vergangenen fünf Jahren mehr als verdoppelt hat. 2017 ist demnach etwa jede Woche eine obdachlose Person auf der Straße gestorben. Die Zahlen dürften allerdings noch höher sein, weil die britische Regierung auf nationaler Ebene keine Zahlen führt und die Behörden vor Ort nicht verpflichtet sind, diese niederzuschreiben. Das Durchschnittsalter von Obdachlosen zur Zeit ihres Todes liegt bei etwa 43 Jahren. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Großbritannien liegt bei fast 81.

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Angela Millington war in Southend als Wohnungslose bekannt. Ihr üblicher Schlafplatz war die High Street, die Fußgängerzone, die vom Bahnhof mit leichtem Gefälle zum Meer führt. Manchmal übernachtete sie auch bei ihrem Partner, der in der Nähe wohnte. Straßen-Seelsorger berichteten, sie Ende Januar, Anfang Februar 2014 noch im Ort gesehen zu haben. Millington hielt sich die meiste Zeit mit Obdachlosen und Trinkern auf. Die Polizei beschrieb ihren Lebensstil als "chaotisch".

Bei den Ermittlungen gab es zwei Spuren, aber beide Verdächtigen – ein Mann Ende 60, ein anderer Anfang 50 – wurden wieder entlassen. Frustriert wandten sich die Ermittelnden an die Medien. Irgendjemand musste doch etwas wissen. Die Wohltätigkeitsorganisation Crimestoppers schrieb sogar eine Belohnung von 10.000 Britischen Pfund für Hinweise aus, die zu einer Verurteilung des oder der Täter führen würden. Auf Twitter versuchte man, den Hashtag #answersforangela in Umlauf zu bringen, aber ohne Erfolg. Die Obdachlosen in Southend wundern sich nicht über das Desinteresse.

"So ist das, wenn man hier auf der Straße lebt", sagt Lynn, eine 61-jährige Obdachlose, die am Uferstreifen vor einem Spielcasino schläft. "Mich haben sie abgestochen", sagt sie und zeigt den zerfetzten Stoff ihres Mantels. Sie trägt ein T-Shirt der Metal-Band Cradle of Filth, eine Kleiderspende. Die Neonlichter der Spielhalle versprechen CASH PRIZES. "Ich habe keine Zähne mehr", sagt Lynn und zieht zum Beweis ihre Unterlippe runter. "Jemand hat sie mir mit einem Baseballschläger entfernt."

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Mit 29 Jahren ist Lee noch nicht mal halb so alt wie Lynn, aber auch er weiß: "In Southend geschehen Obdachlosen böse Dinge."

Eigentlich stammt Lee aus London. Nachdem seine Mutter vor einem Jahr gestorben war und damit das Geld ausblieb, das er mit ihrer Pflege verdiente, endete er auf der Straße. Lees Gesicht ist mit Schrammen übersät, es sind die Hinterlassenschaften eines Raubüberfalls. "Ich bin ein Tottenham-Hotspurs-Fan, also habe ich immer vor dem Spurs-Shops auf der High Street geschlafen. Nicht mehr. Ich habe gelernt, am Wochenende nicht auf der High Street zu schlafen. Eines Morgens bin ich aufgewacht, weil fünf Männer über mir standen, mich vollgepisst und gelacht haben. Die haben auf mich gepisst und ich habe geweint."

Unterbrochen von Gefängnisaufenthalten schläft Kiwi seit 20 Jahren auf der Straße. "Niemand interessiert sich für das Leben eines Obdachlosen", sagt er. Kiwi heißt so, weil er den Kiwi and Apple Relentless Energydrink so mag. "Ich versuche, den Menschen hier in der Gegend zu helfen. Ich weiß, wie man es macht, weil ich schon so lange dabei bin. Aber ich habe in dieser Zeit auch fünf Freunde verloren", sagt er. "Drei sind an Lungenentzündungen gestorben. Die anderen beiden … ich weiß nicht, was passiert ist. Ich denke nicht gerne darüber nach. Wir sind hier sehr verletzlich auf der Straße."

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Alex MacDonald (links) und Charlie White (rechts)| Fotos: Kent Police

Tatsächlich hat es in jüngerer Zeit eine Reihe brutaler Übergriffe auf britische Wohnungslose gegeben, viele von ihnen mit Todesfolge. Im Januar dieses Jahres wurden Charlie White und Alex MacDonald, beide 19, zu mindestens 16 Jahren Haft verurteilt. Sie hatten im Mai 2017 den 21-jährigen Razvan Sirbu in Tovil, Maidstone, im Südosten Englands brutal ermordet. Neben seinem Zelt schlugen sie mit diversen Waffen auf den Wohnungslosen ein, unter anderem mit einem Fleischermesser. Als Begründung für die Tat hatte MacDonald zu Freunden gesagt: "Weil es witzig war."

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Im Februar ermordete Miroslav Kolman, 36, den Wohnungslosen Jiri Ulman. Ulman stammte aus Tschechien, lebte aber in Manchester auf der Straße. Weil er auf Krücken angewiesen war, war Ulman auch als "Stick Man" bekannt. Kolman hatte den körperlich beeinträchtigten Mann in seine Wohnung gelockt und unter Zwang Bleichmittel verabreicht. Er wurde zu 35 Jahren ohne Bewährung verurteilt.

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Im März wurde der 36-jährige Piotr Krowka tot in einem verlassenen Haus im nordirischen Maghera gefunden. Er war an den schweren Folgen einer Schlägerei gestorben. Krowka lebte seit 2017 auf der Straße. Die Polizei veröffentlichte später Überwachungsaufnahmen, auf denen zu sehen ist, wie Krowka von einem Mann mit Kapuzenpulli verfolgt wird. Im Juli wurden im Zusammenhang mit dem Fall zwölf Teenager im Alter zwischen 15 und 19 verhaftet.

In Southend-on-Sea nähert sich die Situation der Wohnungslosen der Belastungsgrenze. Im Januar dieses Jahres landete der Küstenort mit 170.000 in der offiziellen Obdachlosenstatistik auf dem achten Platz. Gill Harwood, Leiterin der örtlichen Wohnungslosenhilfe Harp, fordert mehr Unterstützung vom Staat. Vergangenen November gab sie den Behörden von London eine signifikante Mitschuld am Anstieg der Obdachlosen in Southend. Überfordert mit der eigenen Krisenhilfe soll diese Wohnungslose laut Harwood mit Fahrkarten in den etwa 70 Kilometer entfernten Küstenort ausstatten.

Im Fall von Angela Millington bleiben die wichtigsten Fragen weiterhin unbeantwortet: Wer war es? Warum? Die Obdachlosen auf den Straßen von Southend fragen sich derweil vor allem: "Wen trifft es als Nächstes?"

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