Dieser Mann ist seit zwei Jahren in U-Haft, weil er mit IS-Terroristen im selben Flüchtlingsboot saß
Fotos mit freundlicher Genehmigung

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Terror-Prozess

Dieser Mann ist seit zwei Jahren in U-Haft, weil er mit IS-Terroristen im selben Flüchtlingsboot saß

Mourad T. lebte in Wien, steht aber wegen Terror in Polen vor Gericht – und beteuert seine Unschuld. Rund um das Verfahren werden fragwürdige Vorgänge geschildert. Auch österreichische Behörden spielen dabei eine wichtige Rolle.

Bei Rapid-Spielen trug Mourad T. immer seinen Fan-Schal. Seine Freizeit verbrachte er im Wiener Museumsquartier, auf Pool-Partys und im Prater. Die dutzenden Fotos seines Facebook-Profils zeigen ihn als hippen Mittzwanziger mit auffälligem Haarschnitt und bunten T-Shirts – jemand, der seinen Aufenthalt in Österreich wie ein Austauschsemester zu gestalten schien. "Wien ist die beste Stadt in Europa. Hier möchte ich leben", schrieb er damals seiner Schwester in Marokko.

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Und dann ist da noch eine junge Frau; eine Polin, die Mourad einst beim Surfen daheim in Agadir kennenlernte. Ein Urlaubsflirt, mit dem der Kontakt anhielt. Als es ihn dann im Frühjahr 2015 nach Österreich verschlug, zog auch sie hierher. In Wien wurden der Marokkaner und die Polin ein Paar. Sie fuhren Tretboot an der Alten Donau, schossen Unterwasser-Selfies, gingen in Clubs, zogen in eine gemeinsame Wohnung. Im März 2016 entschlossen sie sich sogar zu heiraten.

Von dieser heilen Welt ist nichts mehr übrig. Die fast schon kitschig-perfekte Romanze vom scheinbar in Erfüllung gegangenen Lebenstraum eines jungen Migranten und einer jungen Migrantin nahm ein drastisches Ende.


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Heute trägt Mourad keine bunten T-Shirts mehr. Vor seinen Gerichtsterminen muss er jedesmal einen orangen Overall überziehen. Man kennt das Stück Kleidung aus dem US-Gefangenenlager in Guantanamo. Diesmal aber ist der polnische Staat, der damit ein unmissverständliches Signal an die Öffentlichkeit senden möchte: Mourad sei der "erste IS-Terrorist auf polnischem Boden", wie es in den Zeitungen nach der Anklageerhebung im März hieß.

Er sei ein "Scout" der Bataclan-Terroristen gewesen und soll ihren Drahtzieher Abdelhamid Abaaoud persönlich gekannt haben. Seit bald zwei Jahren sitzt der 28-Jährige deshalb in Untersuchungshaft in Katowice. Bis heute beteuert er vehement seine Unschuld. Im August soll sein Prozess in Polen zu Ende gehen. Immer wieder wurde die Verhandlung vertagt.

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Dabei lebte Mourad T. eigentlich in Wien, nur war über seine persönliche Geschichte hierzulande bis jetzt nichts bekannt. Lediglich eine Kurzmeldung der Kronen Zeitung widmete sich ihm als "Terrorhelfer der Pariser-Attentäter". Andere internationale Medien übernahmen ebenfalls nur die vagen Informationen aus der polnischen Presse.

VICE begab sich auf die Spurensuche des angeblichen Bataclan-Terrorhelfers und führte etliche Gespräche mit Angehörigen in Marokko, seinem polnischen Anwalt, seinen besten Freunden und seiner Frau. Ihren Darstellungen nach ist Mourad T. Opfer eines gewaltigen Behördenirrtums. Tatsächlich löste sich ein anfänglicher Verdachtsmoment bald in Luft auf, Unterlagen des Gerichts strotzen vor Übersetzungsfehlern. Daneben sei Mourad T.s Frau unter Druck gesetzt worden. Letztlich spielen auch die österreichischen Behörden in dem Fall eine zentrale Rolle.

"Er wollte sich in Europa seine Zukunft aufbauen"

Auf einer Bank im Wiener Esterhazy Park sitzt Karolina*. Lange wollte sie sich gar nicht gegenüber einem Journalisten äußern. Überhaupt wollte sie irgendwann nichts mehr mit der Sache zu tun haben. Zu sehr habe es sie über die Jahre psychisch fertig gemacht. "Mourad ist verrückt. Ein aufgedrehtes Energiebündel. Wenn ihm jemand auf der Straße nach dem Weg fragt, verwickelt er die Person sofort in ein Gespräch. Er machte immer Quatsch und zog gleich sein Handy raus für ein Selfie", erzählt sie. So sei es auch bei ihr selbst gewesen, als sie vor Jahren am Strand von Agadir saß und Mourad T. plötzlich vor ihr stand. "Natürlich wollte er immer schon nach Europa. Alle jungen Leute in Marokko wollen das. Er wollte sein Leben so leben wie die jungen Leute hier."

Doch die Chancen für eine legale Auswanderung nach Europa stehen bekanntlich mehr als schlecht. Schon bevor die große Flüchtlingsbewegung im Herbst 2015 Mitteleuropa erreichte, versuchten deshalb immer mehr junge Leute aus den Maghreb-Staaten, über die neu entstandene Flüchtlingsroute von der Türkei aus nach Griechenland überzusetzen. Darunter sei auch Mourad T. gewesen.

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"Wien ist die beste Stadt in Europa" Mourad T. genoss das Leben in Österreich.

Seine jüngere Schwester, die als Lehrerin in Casablanca arbeitet, erinnert sich an die Abreise. "Es war sein großer Wunsch, seit er in der Schule war. Er spezialisierte sich auf Tourismus, machte Zertifikate, arbeitete in Hotels. Er lernte die Menschen aus Europa kennen, er glaubte fest, dass es dort besser ist. Er wollte sich eine Zukunft in Europa aufbauen."

Am 14. September 2014 besteigt Mourad T. gemeinsam mit einem Freund eine Maschine nach Istanbul. Die beiden landen zunächst in der türkisch-bulgarischen Grenzstadt Edirne, wo damals tausende Migranten stranden. Immer wieder versuchen sie, über den Landweg in die EU zu gelangen, und scheitern. Eines Nachts gelingt es dem Freund, die Grenzpatrouillen zu überlisten; nur Mourad T. bleibt zurück.

Wenig später tut sich eine neue Möglichkeit auf: Er werde es per Boot versuchen, meldet er der Familie nach Hause. Unter den tausenden Migranten in den türkischen Küstenstädten kursieren damals die dafür nötigen Schlepperkontakte. Die Umstände zur Überfahrt auf eine der nahe gelegenen griechischen Inseln sollten Mourad T. später aber zum entscheidenden Verhängnis werden. Als er Athen erreicht, ist es gerade Neujahr. Er gelangt er weiter nach Serbien, Ungarn und landet schließlich im Februar 2015 in Wien. Eine Zeit lang wohnt er in einer Asylunterkunft in der Nussdorfer Straße. Mit einem Asylantrag versucht er sich seinen Aufenthalt zumindest für eine Zeit zu sichern.

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"Sein Traum war es, irgendwann ein Restaurant zu eröffnen – mit marokkanischer Küche", sagt seine Schwester. "Er hat in der Schule Kochkurse belegt und besitzt auch Zertifikate dafür. Am liebsten hätte er dafür unsere Mutter nach Wien geholt und mit ihr das Lokal gemeinsam geführt." Der Bruder habe Anschluss in Wien gefunden, soll sich mit Gastrojobs was dazu verdient haben. Und er hielt Kontakt mit Karolina, die schließlich im Herbst 2015 nach Wien zog. Auch sie fand eine Stelle in einem italienischen Restaurant.

Schon im Sommer davor besuchten die beiden erstmals auch ihre Familie im polnischen Rybnik. "Die Leute bei mir daheim mögen keine Ausländer und sahen Mourad immer komisch an, wenn wir auf der Straße gingen", erinnert sich Karolina. Ihre große Familie habe Mourad T. jedoch recht herzlich aufgenommen – auch als die beiden begannen, Pläne für eine Hochzeit zu schmieden. Das war Ende 2015. "Klar, wir waren verliebt. Aber es ging uns vor allem darum, endlich zusammen herumreisen zu können. Und Mourad hatte seine Familie damals ja auch seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Die Zeremonie war uns nicht so wichtig, wir beide sind ja alles andere als konservativ", erzählt Karolina. Eine Hochzeit brachte zudem den Vorteil, das wackeliges Asylverfahren in einen gesicherten Aufenthaltstitel zu verwandeln.

Direkt nach der Hochzeit im Visier der Geheimdienste

Als sie im März 2016 beim Standesamt in Polen erscheinen, beginnen allerdings die Probleme. Die zuständige Beamtin wird skeptisch wegen Mourad T.s Herkunft und Status. Sie verständigt die Fremdenpolizei. Er kommt in Gewahrsam, die Polizei nimmt ihm Fingerabdrücke ab, kontaktieren auch die Behörden in Österreich. Nachdem diese anscheinend erklärten, für Mourad T.s Verfahren zuständig zu sein, kommt er frei. Am nächsten Tag wird dem Paar schließlich doch die Eheschließung ermöglicht.

Rückblickend deutete aber vieles daraufhin, dass Mourad T. spätestens hier ins Visier der Sicherheitsdienste geriet. Ein paar Monate später, als die beiden wieder in Polen sind, erscheint ein Polizist an der Haustür. Es habe sich vorrangig um Aufenthaltsfragen gedreht, meint Karolina, aber Mourad T. sei auch zu verschiedenen Personen und Namen befragt worden. Man habe sich darüber kurz gewundert, doch der Vorfall war bald vergessen.

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Im Sommer 2016 reist das Paar nach Spanien, an die Algarve und schließlich auch in Mourad T.s Heimatland Marokko. Urlaubsfotos dokumentieren das Sonnenbaden an den Atlantikstränden, das Kennenlernen mit Mourad T.s. Familie in Casablanca. Doch der Rückflug nach Warschau bringt die endgültige Wende.

Am Flughafen in Polen wird das Paar erst stundenlang durchsucht, ehe man sie einreisen lässt. Daheim verteilen sie an Karolinas Familie noch die mitgebrachten Geschenke und Souvenirs. Zwei Tage später wollen sie den Bus zurück nach Wien nehmen. Dann, am 5. September 2016, erscheint erneut die Polizei im polnischen Elternhaus. Sie nehmen Mourad T. mit. Diesmal wird er nicht mehr freikommen.

"Niemand wusste zuerst was los war", erzählt Karolina. "Ich war verzweifelt." Wieder geht sie zunächst von Problemen mit Mourad T.s Aufenthaltstitel aus und engagiert einen Anwalt. Nach zwei Tagen offenbart sich dann aber ein unglaublicher Vorwurf: Am Flughafen habe man auf Mourad T.s. Kleidung Spuren von Sprengstoff entdeckt.

Im selben Boot mit Bataclan-Terroristen

Wenn man die Vorwürfe gegen Mourad T. verstehen will, muss man auch den Weg jenes Mann kennen, der für die schlimmsten Anschläge gegen Frankreich seit dem Zweiten Weltkrieg verantwortlich ist. Abdelhamid Abaaoud, belgischer Staatsbürger mit marokkanischen Wurzeln, wuchs im Brüsseler Stadtteil Molenbeek auf. Schon im Jahr 2013 reiste er nach Syrien und stieg in der sich formierenden Terrormiliz IS zu einer bedeutenden Figur auf. Heute geht man davon aus, dass Abaaouds Funktion bald allein darauf konzentriert war, Terrorattentate in Europa zu planen und zu koordinieren.

So stand er im direkten Kontakt mit Attentäter des jüdische Museums in Brüssel im Mai 2014, sowie dem verhinderten Angreifer aus dem Thalys-Zug vom 21. August 2015. Bei den verheerenden Terroranschlägen von Paris am 13. November 2015 soll er selbst einer der Attentäter gewesen seien, die vor Cafés in der Pariser Innenstadt ein Massaker verübten. Tage später erschoss ihn die Polizei in in seinem Versteck in einer Wohnung in Saint-Denis.

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Bis heute ist nicht vollständig geklärt, wie es Abaaoud gelang, mehrere Terroristen – und vor allem sich selbst – zwischen Europa und dem IS-Gebiet hin und her zu schleusen. Ende 2014 schaffte es Abaaoud von Syrien aus nach Griechenland, er galt da für die Behörden längst als gefährlicher Terrorist. In einer Athener Wohnung fand er Unterschlupf und plante seine weiteren Schritte.

Abdelhamid Abaaoud, Redouane S. - Die polnische Justiz wirft Mourad T. vor, Teil des Bataclan-Netzwerkes gewesen zu sein

Zwei Männer gelten mittlerweile als die dafür wichtigsten, logistischen Helfer. Den jungen algerischen Schlepper Bilal C., sowie der Marokkaner Redouane S. lernte Abaaoud offenbar in der Türkei kennen. Beide bezahlte er für verschiedenste Dienste. Redouane S. soll die Wohnung in Athen gemietet, dort gekocht und elektronische Geräte beschafft haben. BiIal C. dürfte wiederum die Überfahrt von Abaaoud und anderen Terroristen organisiert haben.

2015 wurde C. dann von Abaaoud beauftragt, über die Balkanroute weiterzureisen und ihn über Grenzkontrollen und die "illegale" Route genau zu informieren. C. habe für die Kommunikation zwischen ihnen auch mehrere Facebook-Profile erstellt. Inwieweit Redouane S. und Bilal C. in die genauen Pläne Abaaouds involviert waren, ist noch unklar. Sie wurden in Deutschland im April und Dezember 2016 verhaftet und nach Frankreich ausgeliefert.

Von ihnen spannt sich der Bogen zurück zu Mourad T. Denn in einem der von Bilal C. organisierten Schlepperboote fand er – neben vielen anderen Migrantinnen und Migranten – selbst seinen Platz nach Europa. Die Anklageschrift wirft ihm deshalb vor, Teil der Zelle rund um Abdelhamid Abaaoud gewesen zu sein. Mourad T. soll – ebenso wie Bilal C. und Redouane S. – als "Scout" losgeschickt worden sein, um für Terroranschläge dienliche Informationen an die IS-Miliz weiterzugeben.

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Übersetzungen der Anklage "strotzen vor Fehlern"

Bis heute bestreitet Mourad T. die Anschuldigung vehement. Sowohl in seinen Einvernahmen, als auch vor Gericht beteuert er immer wieder, dass er Bilal C. und Redouane S. bloß zufällig am Bahnhof in Edirne kennengelernt habe; als zwei von tausenden anderen Migranten, die sich ihm gegenüber völlig unauffällig verhalten hätten. In weiterer Folge sei er mit ihnen auch auf Facebook befreundet gewesen. Sämtliche Facebook-Profile sind VICE bekannt. So sei es aber auch mit dutzenden anderen Personen gewesen, die er auf seiner Reise kennenlernte und sich mit ihnen via Facebook, wo er mehrere tausend Freunde hat, kurzschloss.

Bilal C. habe ihm Zugang zu einem Schlepperboot verschafft; Redouane S. sei ebenfalls dort mitgefahren. Als sie in Griechenland ankamen, habe der Mitreisende Redouane S. dann noch ein Foto von Mourad T. gemacht, als bloßes "Andenken", meint er. Später, als sich Mourad T. dann bereits in Österreich befand, sendete ihm Bilal C. noch eine Nachricht auf Facebook: "Hast du die Nummer von dem Schlepper?", schrieb er und Mourad T. antwortete: "Du bist der Schlepper, hahahaha."

In der Originalnachricht soll Bilal C. den Begriff "Schlepper" mit dem algerischen Dialektwort "moharib" umschrieben haben. Die Ermittler übersetzen es mit dem hocharabischen Wort "muḥārib", das fast identisch aussieht, aber so viel wie "Krieger" bedeutet. VICE liegen die arabischen Gerichtsakten in weiten Teilen vor. Professionelle Dolmetscher, denen wir im rahmen unserer Recherche die Unterlagen zeigten, meinen durch die Bank, dass diese vor Fehlern strotzen würden.

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Die Facebook-Kontakte und die wenigen mit ihnen ausgetauschten Nachrichten machen Moruad T. für die polnischen Behörden jedenfalls zum Terror-Helfer der Bataclan-Anschläge. Ein loser, erster Hinweis zu ihm sei laut polnischen Staatsanwalt vom amerikanischen Geheimdienst CIA eingegangen. Offenbar hatte die CIA in den Nachwehen der Pariser Anschläge sämtliche Freundeslisten der verdächtigen Profile ins Auge genommen und beobachtet. Auf beispielsweise einem, von Bilal C. erstellten Fake-Profilen, ist Mourad T. einer von nur etwa dreißig "Freunden".

Von den angeblichen Sprengstoff-Spuren vom Flughafen ist jedenfalls seit langem keine Rede mehr. Bald nach der Verhaftung im September 2016 gestanden die Ermittler, dass man sich dabei "geirrt habe". Eine Untersuchung im Labor hätte keinen solchen Nachweis erbracht. Sein Verteidiger ist sich sicher, dass der Vorhalt lediglich als "Türöffner" diente, um Mourads persönlichen Besitz zu durchforsten.

Die Beamten des polnischen Inlandsgeheimdienstes ABW beschlagnahmten nach der Verhaftung sein Handy und die Passwörter, werteten alles aus, konnten auch etwaige, gelöschte Chats wiederherstellen. Sie durchsuchen die Häuser von Karolinas Verwandtschaft, nahmen elektronische Gegenstände mit, die Mourad T. hätte benutzen können.

Parallel dazu traten auch die Kollegen des österreichischen BVT auf den Plan. Die Polizisten brachen die Wiener Wohnung von Karolina und Mourad T. auf, als dort gerade ein Freund der beiden übernachtete. Sie finden bei ihm ein paar Ecstasy-Pillen und Marihuana – Delikte, die Mourad T. heute gerne auf seine Kappe nimmt. Vorgeworfen wird ihm auch, während der Reise über die Balkanroute falsche Angaben zu seinem Geburtsdatum gemacht zu haben. Auch hier zeigt er sich geständig.

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Aber abgesehen von diesen kleineren Vergehen gibt es nichts, das seine angebliche Rolle im Bataclan-Netzwerk weiter untermauern würde – keine Kontaktdaten oder Instruktionen, kein Propagandamaterial oder gefährliche Gegenstände. Immer wieder aber wird die Untersuchungshaft in Polen um weitere Monate verlängert. Später soll Mourad T. angeboten worden sein, eine Art Geständnis zu unterschreiben und als Kronzeuge Informationen zu anderen Terroristen zu liefern. Es sei ihm dafür Aufenthalt und finanzielle Absicherung in Aussicht gestellt worden, erzählen separat seine Schwester und seine Frau gegenüber VICE. Er habe den Beamten aber nicht mehr sagen können, als er es bis dahin schon tat; dass er die Attentätern von Paris oder deren Komplizen nie wirklich kannte.

"Im gesamten Akt gibt es keinerlei Hinweise [auf Bombenpläne auf Mourads Handy]. Das war eine reine Falschmeldung in den Medien und ich frage mich, wer dafür verantwortlich ist." – Jurist und Verteidiger Christoph Mlodzik

Im März 2018, nach neunzehn Monaten Untersuchungshaft, erhebt die Staatsanwaltschaft in Katowice dann gegen ihn Anklage. Von den Journalisten wird Sprecher Piotr Zak nach den Details der Vorwürfe gefragt. Er gibt sich bedeckt. "Alles wird sich im Laufe des Prozesses klären", heißt es vor den TV-Kameras. Parallel dazu wird in polnischen Medien aber die Meldung lanciert, dass auf Mourad T.s Handy Bombenbaupläne gefunden worden sein.

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Sein Verteidiger Christoph Mlodzik widerspricht dem heftig: "Im gesamten Akt gibt es dazu keinerlei Hinweise. Das war eine reine Falschmeldung in den Medien und ich frage mich, wer dafür verantwortlich ist", meint er im Gespräch mit VICE. Ansonsten äußert sich der Anwalt knapp: "Dieser Mann hat mit Terrorismus nichts zu tun." Die Meldung zu den angeblichen Bombenplänen schaffte es über die Nachrichtenagentur Reuters dennoch in die internationale Presse. Es ist bis heute im wesentlichen alles, was außerhalb Polen bisher zu dem Fall berichtet wurde.

Was seitens der Staatsanwaltschaft nach der Anklageerhebung ansonsten betont wurde, sei die gute Zusammenarbeit mit den anderen europäischen Geheimdiensten. Erwähnung findet hier besonders auch die Behörde in Österreich.

Mourads Frau musste ihren Pass abgeben, bis sie einer Scheidung zustimmte

Dort gerät auch Mourad T.s Frau immer mehr in Bedrängnis. An einem Nachmittag im November 2016 klingelt es an ihrer Wohnungstür in Wien-Wieden. Karolina öffnet einem Beamten in Zivil, der ihr erklärt, dass sie beim BFA, dem Bundesamt für Asyl- und Fremdenwesen, erscheinen soll. Es gehe auch um ihren Mann, soll der Beamte gesagt- und ihr eine Nummer zugesteckt haben. Bald daraufhin bekommt sie auch eine Vorladung per Post.

Sie berichtet von dem Termin beim BFA, bei der ihr eine "Frau S." gegenübersaß. Ausführlich sei sie zunächst über ihren Mann und seine persönliche Geschichte befragt worden. Dann habe ihr die Beamtin erklärt, dass nun auch sie - als Frau eines Terrorverdächtigen - eine Gefahr für den österreichischen Staat darstelle. Ihr weiterer Aufenthalt in Österreich sei deshalb fraglich. Die Polin entgegnete, dass sie einen Job habe, ihr Aufenthalt als arbeitende EU-Bürgerin hier völlig rechtens sei. Weil das Hauptproblem bei ihrem Mann liege, solle sie sich doch einfach scheiden lassen, wird ihr geraten. Karolina weigerte sich zunächst. Dann konfiszierten die Beamten ihren Pass.

Karolina, die es bis dahin verabsäumte, sich in Wien zu melden, erfährt beim Amt, dass sie vom System blockiert sei. Erst nach sechs Monaten, als sie wieder einmal mit Frau S. telefoniert und sich aufgrund der behördlichen Probleme für eine Scheidung bereit erklärt, habe man die Sperre aufgehoben und ihr den Pass wieder ausgehändigt. VICE stellte an das Innenministerium mehrere Anfragen zu der Causa, eine entsprechende Antwort wollte man uns aber nicht geben. In einer kurzen Telefonauskunft hieß es nur knapp, dass man Einzelfälle nicht kommentiere. Karolina glaubt jedenfalls, dass sich die Behörden durch die Scheidung eine Abschiebung Mourad T.s als Option offen halten. Schon in Polen habe ein Ermittler nach einem Gefängnisbesuch auf sie einwirken wollen. "Verbau dir nicht deine Zukunft, wir sind 110 Prozent sicher, dass er schuldig ist.", soll der ABW-Mann zu ihr gesagt haben.

"Mourad hat mit Terrorismus nichts zu tun, aber niemand in Polen interessiert sich für ihn. Die Öffentlichkeit ist gegen ihn; deshalb könnte er trotzdem verurteilt werden."

Machte der Fall zu Prozessbeginn noch Schlagzeilen, scheint er mittlerweile auch aus den polnischen Medien verschwunden zu sein. Aktuelle Berichte zu den letzten Verhandlungsterminen gibt es nicht. Eigentlich hätte es noch vor dem Sommer ein Urteil geben sollen, doch immer wieder vertagte man um weitere Monate. Jene Verwandte der polnischen Familie, die als Zeugen geladen wurden, wiederholten vor Gericht dasselbe: Mourad T. sei ihnen weder religiös oder irgendwie verdächtig vorgekommen. Man habe gemeinsam Fußball geschaut, Weihnachten gefeiert, sei zusammen in die Kirche gegangen. Auch eine Aussage von Bilal C. wurde bei einem Termin im Juli verlesen. Dieser gab an, dass Mourad T. mit den Terrorplänen Abaaouds nichts zu tun hatte.

Wenn die Schwester in Marokko mit Mourad T. telefoniert, brechen beide meist in Tränen aus, erzählt sie. Seit Prozessbeginn sitzt der 28-Jährige in Einzelhaft. "Wir waren eine fröhliche Familie. Mourad wuchs mit viel Liebe auf. Er war sehr glücklich in Wien, aber mittlerweile wünschten wir, wir hätten ihn nie fortgehen lassen." Für sie ist der Vorwurf, ihr Bruder sei ein Islamist, schlchtweg verstörend: "Der Islam ist in unserem Herzen. Eine Tradition. Aber niemals würden wir anderen Leuten damit irgendwie schaden. Wir sind wie ihr. Mourad liebte Europa!" Unterdessen hege der Verteidiger ihr gegenüber immer mehr Bedenken: "Er sagt, es gebe keinerlei Beweise gegen meinen Bruder. Er ist völlig davon überzeugt, dass Mourad mit Terrorismus nichts zu tun hat, aber niemand in Polen interessiert sich für ihn. Die Öffentlichkeit ist gegen ihn; deshalb könnte er einfach trotzdem verurteilt werden."

Eigentlich wollte die Richterin am 21. August ein Urteil fällen. Jetzt wackelt der Termin – zum wiederholten Mal – und könnte verschoben werden. Mourad T. wird dann wieder in seinem orangen Overall erscheinen und beteuern, dass er Europa liebt und die Terroristen verachtet. Sie seien auch dafür verantwortlich, dass Marokkaner wie er nun unter Generalverdacht stehen würden, meinte er bei einem früheren Gerichtstermin. Bei einer Verurteilung als IS-Unterstützer drohen ihm acht Jahre Gefängnis.

*Name auf Wunsch von der Redaktion geändert

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