Insassen spielen in einem US-Gefängnis Basketball

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Culture

So ist der Alltag für psychisch kranke Insassen in einem US-Gefängnis

Cook County Jail gehört nicht nur zu den größten Untersuchungs-Gefängnissen der USA, sondern ist auch die größte Therapieeinrichtung Illinois'. Lili Kobielski hat die Menschen dort porträtiert.

Über fast 400.000 Quadratmeter erstreckt sich der Gefängniskomplex des Cook County Jail in Chicago, Illinois. Es ist eins der grössten Untersuchungsgefängnisse der USA. Die meisten der rund 8.000 wechselnden Insassen warten noch auf ihre Verhandlung, knapp ein Drittel von ihnen leidet unter psychischen Erkrankungen.

Zwischen 2009 und 2012 kürzte der US-Bundesstaat Illinois die Förderung für psychiatrische Einrichtungen und Programme um 113,7 Millionen US-Dollar. Zwei stationäre Einrichtungen und sechs psychiatrische Kliniken in Chicago mussten schliessen. Die Zahl der Menschen, die wegen psychischer Krisen reguläre Notaufnahmen aufsuchten, stieg in dieser Zeit um 19 Prozent an. Vor allem arme und sozial benachteiligte Menschen kommen wegen unbehandelter psychischer Krankheiten mit dem Gesetz in Konflikt und landen im Gefängnis. Der zuständige Sheriff, Tom Dart, hat deswegen seine Haftanstalt zu einer der grössten Therapie-Einrichtungen der USA gemacht.

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Ende 2015 begann die Fotografin Lili Kobielski, die Insassen des Cook County Jail zu besuchen und zu porträtieren. Daraus ist das Buch I Refuse for the Devil to Take My Soul entstanden. Wir haben uns mit Kobielski über ihr Projekt unterhalten.

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© Lili Kobielski mit freundlicher Genehmigung von powerHouse Books

VICE: Wie bist du auf die Idee gekommen, die Insassen des Cook County Jail zu fotografieren?
Lili Kobielski: Es begann mit einem Aufruf des Magazins Narratively . Zusammen mit dem Vera Institute of Justice suchten sie nach Geschichten über Gefängnisse. Bei meiner Recherche stiess ich irgendwann auf das Cook County Jail und mir fiel auf, dass sie den Anteil der psychisch erkrankten Insassen auf ihrer Seite angeben.

Da viele Menschen in meinem Umfeld von psychischen Problemen betroffen sind, berührt mich das Thema sehr. Cook County Jail ist so besonders, weil dort alle Neuankömmlinge auf psychische Probleme untersucht werden. Die Sozialarbeiterinnen und -arbeiter trennen sie von den übrigen Gefangenen: psychotische und ernsthaft psychisch kranke Personen kommen in den Krankenhaustrakt Cermak. Dann gibt es noch die sogenannte Division Two, wo Menschen mit leichteren Problemen unterkommen. Die Abteilung platzt gerade aus allen Nähten.

In Division Two gibt es keine Zellen, sondern offene Schlafsäle mit Stockbetten. Alle Menschen dort sind in Therapieprogrammen.

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© Lili Kobielski mit freundlicher Genehmigung von powerHouse Books

Wie hast du Zugang zu den Insassen bekommen?
Tom Dart, der Sheriff von Cook County Jail, respektiert das Vera Institute und hat mir den Zugang ermöglicht, den ich sonst nicht bekommen hätte. Ich hatte immer jemanden von der Öffentlichkeitsabteilung dabei. Bis ich allerdings jemanden interviewen konnte, ohne von mehreren Wärtern umgeben zu sein, dauerte es. Sobald ich ihr Vertrauen gewonnen hatte, liessen sie mich mein Ding machen. An keinem Punkt habe ich mich unsicher gefühlt oder mir Sorgen um meine Sicherheit gemacht.

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Am Anfang hat das Gefängnis die Insassen ausgesucht, mit denen ich sprechen durfte. Nachdem sie meine ersten fertigen Arbeiten mit den Insassen gesehen hatten, haben sie mich in Abteilungen mit 50 bis 100 Menschen gebracht und gesagt: "Hier ist die Fotografin. Sie möchte euch interviewen und Fotos von euch machen. Wer hat Lust mitzumachen?" In der Regel wollten 90 Prozent der Leute mitmachen.

Ich habe nur die fotografiert, die mir ihr Einverständnis gegeben haben. Ich habe auch nie jemanden heimlich fotografiert. Auf Bitte der Anwälte habe ich mit den Menschen auch nicht über ihre laufenden Verfahren gesprochen. Sie waren ja noch nicht verurteilt. Die meisten hatten noch nicht mal eine Richterin gesehen.

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© Lili Kobielski mit freundlicher Genehmigung von powerHouse Books

Worum ging es dir bei dem Projekt?
Ich wollte die Geschichten der Menschen hören, von ihnen selbst. Jedes Interview in dem Buch ist eine direkte Abschrift des aufgenommenen Gesprächs. Ich bat alle, ihre Geschichte so zu erzählen, wie sie sie gerne lesen würden. Sie sollten von ihrer Kindheit, ihren Erfahrungen, ihrem Leben und ihren psychischen Problemen erzählen – alles, was die Welt ihrer Meinung nach über sie wissen sollte.

Wie sah ein typischer Arbeitstag für dich aus?
Ich fotografierte und interviewte von neun bis fünf – je nachdem, wie verfügbar die Menschen von der Öffentlichkeitsabteilung waren. Im Grunde war es eine 40-Stunden-Woche und trotzdem hatte ich nie das Gefühl, genug Zeit zu haben.

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Ich versuchte, offen und respektvoll zu sein. Den Menschen zuzuhören, ohne grosse Anweisungen zu geben. In den Interviews habe ich nur wenige Fragen gestellt. Die Menschen haben hinter Gittern einen extrem strengen Tagesablauf. Ihnen wird ständig gesagt, was sie zu tun und zu lassen haben. Ich versuchte also, das Gegenteil zu tun und ihnen die Kontrolle zu überlassen.

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© Lili Kobielski mit freundlicher Genehmigung von powerHouse Books

Was ist dir bei ihren Geschichten besonders aufgefallen?
Egal, ob Frauen oder Männer, ihre Geschichten waren fast immer die gleichen. Die Menschen kommen aus denselben Gegenden in Chicago, vor allem der South Side. Sie sind in Armut bei alleinerziehenden Eltern aufgewachsen und in Heimen. Sie haben früh traumatische Erfahrungen gemacht und Missbrauch erlebt, Chancenlosigkeit und Gewalt in ihrer Nachbarschaft wahrgenommen.

Fast alle Männer hatten mit Gangs zu tun. Mit ihren Geschwistern lebten sie bei ihren Müttern, die kein Geld für die Stromrechnung hatten. "Als ich elf war, wollte ich ein Mann werden, also bin ich auf die Strasse, um mich einer Gang anzuschliessen. Ich wollte so meiner Mutter helfen." So fängt es bei vielen an. Mit 13 werden sie verhaftet und landen im Strafrechtssystem.


VICE-Video: Ein Tag in Südamerikas angenehmstem Gefängnis


Die Frauen hatten ähnliche Geschichten, aber sie waren selbstzerstörerischer mit Drogen und Alkohol. Viele waren Sexarbeiterinnen. Als ich begann, mit diesen Frauen zu arbeiten und mir ihre Geschichten anzuhören, hat mich das wirklich berührt. Sie haben fast alle Kinder und Familien.

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Es gab Tage, an denen meine Stimme und meine Hände am Ende gezittert haben, weil alles so intensiv war.

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© Lili Kobielski mit freundlicher Genehmigung von powerHouse Books

Wie hast du in deiner Arbeit Gefängnis-Klischees vermieden?
Jede Session war eine Kollaboration. Jede Person hat bei ihrem Fotoshooting die Regie geführt. Ich habe fast alles mit Blitz fotografiert, um die Beleuchtung des Gefängnisses zu neutralisieren und individuellere Porträts zu machen.

Manche wussten genau, was sie wollten, und haben mich angeleitet. Das war super. Andere waren etwas schüchterner und ich musste mehrere Vorschläge machen. Die meisten waren überrascht, dass ich sie überhaupt gefragt habe. Aber auf eine gute Art.

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© Lili Kobielski mit freundlicher Genehmigung von powerHouse Books

Mit was was für Problemen haben die Insassen zu kämpfen?
Ich habe mit vielen älteren Menschen gesprochen, die überhaupt nicht mehr wussten, wie oft sie schon verhaftet worden waren. Es wird zu einer Art Lebensstil. Den Communitys schadet das extrem. Es reisst Familien auseinander, Kinder wachsen ohne Eltern auf und sehen das als einzigen Weg. Eine Haft ist eine traumatische Erfahrung. Wenn man mit den Therapeutinnen und Sozialarbeitern spricht, sagen die: "Hier zu sein, ist das Schlimmste, was man für eine Genesung tun kann." Der ständige Stress und die Traumatisierung machen alles schlimmer.

Ein anderes Problem ist, dass Menschen im Gefängnis therapiert werden und sich bessern, draussen aber kaum Unterstützung bekommen. Weil so viele Kliniken geschlossen sind, kann es schwer sein, an Medikamente zu kommen. Und dann beginnt der Kreislauf von Neuem. Jemand setzt die Medikamente ab, schläft auf einer Parkbank oder klaut eine Cola – es sind in der Regel sehr geringe Vergehen – und landet dann wieder im Gefängnis. Einige der Wärter kennen die Inhaftierten schon mit Vornamen, weil sie so oft zurückkommen. Sie haben mir von Fällen erzählt, die harmlose Verbrechen begehen, damit sie wieder ins Gefängnis in Behandlung kommen. Das ist für sie die einzige Möglichkeit, überhaupt therapiert zu werden.

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Die 113 Millionen US-Dollar, die gespart wurden, wurden komplett aus dem Fenster geworfen. Illinois musste stattdessen 131 Millionen für den wachsenden Anteil psychisch kranker Insassen ausgeben. Es ist systemischer Rassismus. Die Leute werden auf diese Weise in der Armut gehalten. Ich habe das Privileg, eine Ausbildung zu haben und eine Familie, die mich unterstützt. Aber wenn du einen Fehler machst und niemanden hast, der dich auffängt, landest du schnell in der gleichen Situation wie die Insassen.

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© Lili Kobielski mit freundlicher Genehmigung von powerHouse Books

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© Lili Kobielski freundlicher Genehmigung von powerHouse Books

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© Lili Kobielski mit freundlicher Genehmigung von powerHouse Books

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© Lili Kobielski mit freundlicher Genehmigung von powerHouse Books

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