Warum in Deutschland über 7.000 minderjährige Flüchtlinge vermisst werden
Foto: imago | Christian Mang

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Warum in Deutschland über 7.000 minderjährige Flüchtlinge vermisst werden

Auf den Strich geschickt und zum Dealen gezwungen – das harte Schicksal vermisster Flüchtlingskinder

Stell dir vor, du bist 16 Jahre alt und hast gerade alleine ohne Eltern einen monatelangen Weg aus deiner zerbombten Heimat nach Deutschland zurückgelegt. Vielleicht hast du in einem überfüllten Schlauchboot gesessen und hattest Angst zu ertrinken, als immer höhere Wellen hinein geschwappt sind. Oder es haben dich ungarische Polizisten misshandelt, nachdem du es irgendwie doch über die Mauer geschafft hast – in die Festung Europa.

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Und dann bist du endlich in Berlin angekommen. Dich erwartet eine überfüllte Notunterkunft, du darfst nicht arbeiten. Weil du keinen Vormund hast, kannst du keinen Asylantrag stellen. Wenn du endlich einen Asylantrag stellen kannst, dauert die Bearbeitung ewig.

Für tausende minderjährige Flüchtlinge ist das Realität. Und es ist auch der Grund, warum so viele von ihnen verschwinden.

In den vergangenen Jahren hat sich die Zahl der vermissten Kinder und Jugendlichen in Deutschland vervierfacht. Laut Zahlen des Bundeskriminalamts sind es in Deutschland zurzeit über 9.500 Jugendliche und Kinder, davon ungefähr jede fünfte Person jünger als 14 Jahre. "Der starke Anstieg erklärt sich durch die zusätzlich in die Statistik aufgenommenen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, von denen Tausende verschwunden sind", erklärt Daniel Kroll von der Initiative Vermisste Kinder gegenüber VICE. "Bei in Deutschland vermissten Kindern sind die Zahlen seit Jahren konstant."

1983 rief US-Präsident Ronald Reagan den 25. Mai als Tag der vermissten Kinder ins Leben um Etan Patz zu gedenken, der als Sechsjähriger auf dem Schulweg entführt und später ermordet wurde. Seit 2003 richtet die Initiative Vermisste Kinder den Gedenktag auch in Deutschland aus.

Auf das Problem aufmerksam zu machen, ist auch bitter notwendig. Drei von vier in Deutschland verschwundenen Kindern und Jugendlichen sind Flüchtlinge. Insgesamt gelten über 7.000 minderjährige Flüchtlinge als vermisst. Europol warnte bereits vor anderthalb Jahren, dass sie besonders gefährdet seien, Opfer des organisierten Verbrechens zu werden. Sie werden gezwungen an Straßenecken Drogen zu verkaufen und auf den Strich geschickt.

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Daniel Kroll berichtet von Fällen, in denen Flüchtlingskinder als Drogenkuriere missbraucht wurden, weil sie noch nicht strafmündig waren: "Viele Flüchtlingskinder sind wehr- und schutzlos und wissen nicht, wo sie hinsollen." All diese Probleme kann man seit Jahren in Griechenland und Italien studieren, trotzdem waren die deutschen Behörden zu wenig auf diese Gefahren vorbereitet, als zehntausende unbegleitete Minderjährige ins Land kamen. Kroll glaubt, dass man dem durch eine bessere Koordinierung der Zusammenarbeit hätte besser vorbeugen können: "Wir sind alle gefordert, allen Kindern denselben Schutz zu bieten."

Amei von Hülsen-Poensgen von der Berliner Flüchtlingsinitiative Willkommen im Westend macht die schlechten Bedingungen in den Aufnahmeeinrichtungen dafür verantwortlich, dass so viele minderjährige Flüchtlinge als vermisst gemeldet sind: "Bei vielen macht sich Verzweiflung breit. In der Hoffnung einen besseren Ort als die Berliner Notunterkünfte zu finden, sind viele abgehauen und gelten seither als vermisst." Für Verbrecher seien die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge leichte Beute. Hülsen-Poensgen berichtet von teuren, weißen Mercedes, die um die Ecke von Unterkünften warten und Flüchtlingskinder und Jugendlichen abholen und zu "was auch immer" mitnehmen.

Minderjährige Flüchtlinge auf dem Strich

In den Büschen des Berliner Tiergartens verkaufen sich junge Afghanen, Iraner und Pakistanis an ältere Männer um ihre Drogensucht zu finanzieren, zwischen Görlitzer Park und Warschauer Brücke dealen sie. Auch unter ihnen sind einige, die offiziell als vermisst gelten. Wie viele es genau sind, weiß niemand. Das LKA und das Innenministerium haben keine Daten oder Schätzungen über minderjährige Flüchtlinge, die in die Prostitution und Drogenhandel abgerutscht sind. "Da hat man lange weggeschaut", kritisiert Amei von Hülsen-Poensgen. "Wenn ich einen 17-Jährigen einsperre, schlecht betreue und keinen Schulplatz für ihn habe, dann muss man sich nicht wundern, wenn sie verschwinden."

Der 44-Jährige Andreas Meißner arbeitet seit 19 Jahren mit minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen. In den vergangenen zwei Jahren hat sich sein Job gewandelt: "Durch die vielen Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan hat sich die Dynamik verändert. Wir erleben eine Dramatisierung der Situation, weil in diesen Herkunftsländern kein Frieden in Sicht ist, und das die jungen Menschen sehr belastet." Meißner beklagt, dass es zu wenige Plätze in Einrichtungen gibt und zu wenig Fachkräfte, um die Jugendlichen zu betreuen.

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Wenn ein minderjähriger Flüchtling sich nach 24 Stunden nicht in der Einrichtung meldet, muss Meißner die Person als vermisst melden. Die meisten Fälle lösen sich nach kurzer Zeit auf, weil die Vermissten zurückkommen oder woanders wieder auftauchen. Manche fühlen sich in den Einrichtungen schlicht bevormundet, weil sie um 22.00 Uhr zu Hause sein müssen, nicht arbeiten und nicht rauchen dürfen. "Wie viele dauerhaft vermisst sind, Opfer eines Verbrechens wurden oder in einem Keller eingesperrt sind, das wissen wir nicht." sagt Meißner.

Die Hoffnung auf das schnelle Geld

Weil es für die meisten Menschen keine legalen Fluchtwege nach Europa gibt, ist die Reise teuer. Viele Familien der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge haben daher hohe Schulden, die Jugendlichen wollen ihre Verwandten in der Heimat unterstützen, gut machen, was die für sie getan haben. Vielen ist zudem gar nicht bewusst, dass sie noch nicht als Erwachsene gelten. Sie haben teils in der Heimat bereits gearbeitet und fühlen sich spätestens nach den monatelangen Strapazen der Flucht als Erwachsene. Und genau das, so Meißner, führt zu Problemen: "Sie kommen mit der Vorstellung her, schnelles Geld verdienen zu können. Für viele ist es ein Schock, dass sie nicht sofort arbeiten dürfen, sondern erstmal in die Schule gehen und eine lange Ausbildung machen müssen. Die Situation wird noch dadurch verschlimmert, dass viele gar nicht wissen, ob sie in Deutschland bleiben können." Wenn sie dann aus den Jugendeinrichtungen verschwinden, gelten auch sie als vermisst.

Doch nicht alle Fälle haben einen dramatischen Hintergrund. Viele Jugendliche sind mehrfach unter anderen Namen registriert. Das hat oft nichts mit Absicht oder Täuschungsversuchen zu tun, sondern auch mit banalen Übersetzungsschwierigkeiten. So kann es vorkommen, dass Mohammed woanders als Muhammed oder Mohammad eingetragen ist. Wenn Mohammed an einem anderen Ort wieder auftaucht und der Name anders geschrieben wird, gilt er für die Behörden trotzdem noch als vermisst.

Andere sind bei Freunden oder der Familie untergekommen, ohne sich zu melden oder ins Ausland gegangen, weil Deutschland für sie nur eine Station auf der Flucht ist. Oft wissen sie schlicht nicht, dass sie als vermisst gelten. Zum einen "verliert" der deutsche Staat die Kinder und Jugendlichen also einfach, zum anderen passt er nicht gut genug auf sie auf. So lange die Bedingungen, unter denen junge Flüchtlinge leben, so schlecht sind, dass sie keine Perspektive haben, solange wird es jährlich Tausende geben, bei denen niemand weiß, wo sie geblieben sind.

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