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Diese Menschen können sich haargenau an jeden einzelnen Tag ihres Lebens erinnern

Vom hyperthymestischen Syndrom Betroffene können sich bis ins kleinste Detail an so banale Sachen erinnern, zum Beispiel welche Fernsehsendung sie wann vor 20 Jahren gesehen haben. Wir haben uns mit Wissenschaftlern und Betroffenen unterhalten.

Ein Gehirnscan während einer Gedächtnisaufgabe. Bild von John Graner | Wikimedia Commons | Public Domain

Wir alle haben diese Momente, in denen uns unser Gedächtnis im Stich lässt. Montagmorgen könne wir unseren Kollegen auf der Arbeit schon nicht mehr berichten, was wir Freitagabend getrieben haben; oder wir fachsimpeln mit Freunden über Musik und uns will peinlicherweise nicht einfallen, wie der Sänger von The Cure heißt. Wie auch immer, für Menschen, die vom hyperthymestischen Syndrom—oder kurz HSAM für Highly Superior Autobiographical Memory—betroffen sind, ist es kein Problem, sich an irgendwas zu erinnern. Ob das eine gute oder schlechte Sache ist, lassen wir da bei fürs Erste außen vor.

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HSAM zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, dass man sich fast minutengetreu an so gut wie jeden einzelnen Tag seines Lebens nach dem elften oder zwölften Lebensjahr erinnern kann. Nur Anhand eines beliebigen zurückliegenden Datums wissen Menschen mit HSAM in der Regel, welche Farbe ihre Klamotten an dem Tag hatten oder wie das Wetter war. Es ist bislang unbekannt, ob Menschen mit HSAM geboren werden oder diese Fähigkeit in ihren frühen Lebensjahren entwickeln. Bislang sind 61 Menschen auf der ganzen Welt mit HSAM diagnostiziert worden—56 US-Amerikaner und 5 Briten.

Ich habe Joey DeGrandis, einen 30 Jahre alten New Yorker mit HSAM gefragt, was er am 9. Juli 1995 gemacht hat. Ohne zu zögern antwortete er durch das Telefon: „9. Juli 1995—das war ein Sonntag—ich war mit meiner Familie zum Urlaub in Chicago. Und ich glaube, dass wir an dem Tag ins Shedd Aquarium gegangen sind. Eine andere zufällige Erinnerung: Ich weiß noch, wie ich ein paar Tage später, am Dienstag dem 11. Juli, bei meine Freund Jamie zu Hause I Love Lucy gesehen habe. Es war eine Folge, bei der Lucy und Ethel am Ende geweint haben … es war aber ‚lustiges' Weinen."

Das Datum, das ich Joey gegeben habe, war mein Geburtstag, und ich für meinen Teil kann mich kaum noch daran erinnern, was ich letztes Jahr an dem Tag gemacht habe. Wie um Himmelswillen schafft es also Joey, sich so klar an das zu erinnern?

Joey sagt mir, dass die Art, wie er seine Erinnerungen abspeichert und aufnimmt, sehr chronologisch sei: „Ich kann es am besten so beschreiben, dass ich mein Leben wie einen Film sehe. Es ist fast so, als würde man sich bei einer DVD durch die verschiedenen Kapitel-Szenen suchen. Wenn ich über mein Leben nachdenke, dann konzentriere ich mich auf einen bestimmten Zeitraum und greife darauf zu, wie du das auch im Kapitelmenü einer DVD machen würdest."

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James McGaugh von der University of California, Irvine, war der Erste, der dieses Phänomen 2006 anhand einer Frau, die sich selbst „AJ" nannte, entdeckt hatte. McGaugh hat inzwischen 56 Menschen mit HSAM ausfindig gemacht und Hunderte getestet. Aurora LePort, eine Doktorandin am Centre for the Neurobiology of Learning and Memory an der UCI bezeichnete die Fähigkeit in einem News-Update der Universität als „rätselhaft". Sie schrieb: „Man gibt ihnen ein Datum und unmittelbar kommt die Antwort. Der Wochentag ist einfach so in ihrem Gedächtnis—sie brauchen noch nicht einmal zu überlegen. Das funktioniert bei unglaublich vielen verschiedenen Daten und dabei sind die Betroffenen 99 Prozent akkurat. Es ist immer wieder verblüffend."

Das klingt wie eine dieser Fähigkeiten, die einem im Alltag ziemlich nützlich sein könnte. Menschen mit HSAM schneiden aber zum Beispiel in Prüfungen und Klausuren aber gar nicht besser als andere Menschen ab. Ihre Fähigkeit äußert sich viel mehr darin, bestimmte Erinnerung abzurufen, die in Bezug zu ihrem Leben und bestimmten Erfahrung stehen. Bislang ist noch ziemlich unklar, warum das so ist. Gegenüber UCI News sagte McGaugh: „Wir sind hier wie Sherlock Holmes. Wir suchen in einem ganz neuen Forschungsbereich nach Hinweisen."

Die Gedächtnisexpertin Professorin Giuliana Mazzoni von der University of Hull erzählte mir, dass die Nachricht von HSAM „Musik in den Ohren einer Gedächtnisforscherin" gewesen sei. Als sie von der Entdeckung des Phänomens in den USA hörte, machte sie sich daran, Fälle in Großbritannien zu suchen. Von den 200 Menschen, die sich auf einen Aufruf gemeldet hatten, konnte sie mit absoluter Sicherheit bei fünf Personen HSAM diagnostizieren.

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Mazzoni testet einen Mann auf HSAM

Mazzoni verwendet eine Reihe von Methoden, um sicherzugehen, dass ihre Versuchspersonen ihr nicht nur etwas vormachen. Eine davon ist zum Beispiel auch, nach Fakten zu fragen, wie „Was lief an dem Tag im Fernsehen?" oder „Wie war das Wetter?" Menschen, die vielleicht mehr an Sport interessiert sind, können sich an Turniere, Teams und Punktestände erinnern; Menschen, die viel Fernsehen gucken, können sich hingegen an das TV-Programm erinnern. Sie verwendet auch eine Methode namens „Test Re-Test", wobei sie eine Untergruppe dieser Daten nimmt und die Versuchsperson nach zwei Monaten noch einmal bittet, sich daran zu erinnern—nach vier Monaten ein weiteres Mal und so weiter. Dieses wurde dann mit dem Inhalt einer weiteren Untergruppe von Daten abgeglichen. Mazzoni war von der Genauigkeit der Resultate beeindruckt. „Sie konnten sich an scheinbar banale Sache erinnern—und das verlässlich über einen langen Zeitraum hinweg. Es war großartig."

Fand sich im Aufbau dieser Gehirne nun ein großer Unterschied, der Mazzonis Beobachtungen untermauern konnte? Erstaunlicherweise nicht. Mazzoni konnte keine großen Unterschiede in der Hirnstruktur feststellen. Was sie aber sah, waren Unterschiede in der Reihenfolge, in der das Gehirn arbeitet—also welche Areale des Gehirns zuerst aktiv werden, welche danach und so weiter.

Mazzonis vorläufige Hypothese lautet, dass für diese Menschen episodische Erinnerungen—das heißt kontextuelle Erinnerungen autobiografischer Ereignisse—in gewisser Hinsicht Fakten werden. Diese Menschen nutzen ihre semantischen Fähigkeiten aus—also ihre Fähigkeit Ideen und Konzepte zu verarbeiten, die nicht von einer persönlichen Erfahrung abgeleitet sind—und als Ergebnis davon haben sie ein fantastisches episodisches Gedächtnis. „Das Datum wird mit einer Reihe von Ereignissen assoziiert, die sehr eng miteinander verbunden sind und sofort als Reaktion zu dem Datum wieder hervorgeholt werden. Sie werden quasi als vorgepackte Faktenbündel wieder hervorgeholt."

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Mazzoni sagte mir auch, wie sich ein derartig ungewöhnliches Gedächtnis in sozialen Situationen niederschlagen könnte. „Menschen mit HSAM werden von anderen in gewisser Weise als Erinnerungsspeicher benutzt." Sie werden plötzlich zu einer Art Buch, in dem die Vergangenheit aller anderen aufgezeichnet ist. Die Betroffenen werden dann oft gebeten, sich an diesen oder jenen Tag, was sie hier und dort gemacht haben und so weiter zu erinnern. Mazzoni gab zu bedenken, dass „das zwischenmenschliche Beziehungen strapazieren kann, weil es jemanden in eine bestimmte Rolle zwängt. Man wird als anders wahrgenommen und anders wahrgenommen zu werden, selbst wenn es sich dabei um eine tolle Fähigkeit handelt, macht es einem nicht unbedingt leichter oder ist erwünscht."

In meiner Unterhaltung mit Joey äußerte er eine ähnliche Meinung: „Manchmal versuche ich, es etwas runterzuspielen, und sage: ‚Ja, ich habe einfach ein verdammt gutes Gedächtnis.' Aber oft genug muss ich trotzdem darauf eingehen, weil neun von zehn Menschen einfach davon fasziniert sind. Von da an geht es dann richtig los: ‚Was war an meinem Geburtstag?' oder ‚Was war an Tag XY?' Es wird zu einer Art Spiel. Wenn es mal in einer Unterhaltung zur Sprache kommt, schafft es das irgendwie immer, die komplette Konversation nur darauf zu lenken." Es mag ein guter Aufhänger für eine Unterhaltung sein, aber mit der Zeit wird es ziemlich eintönig.

Als Joey 2014 an der UCI an einer Studie zu HSAM teilnahm, hatte er dort die Gelegenheit, andere Menschen mit HSAM kennenzulernen, was er als „erfrischend" beschrieb. „Zum einen mussten wir uns nicht immer wieder erklären, wenn wir Details zu einem bestimmten Datum rausgehauen haben. In einer normalen Unterhaltung zieht das in der Regel ein ‚Wie konntest du das nur wissen?' nach sich, aber hier blieb unsere Unterhaltung einfach im Fluss. Wir merkten, dass wir uns ziemlich ähnlich waren, was unsere Erinnerungen anging und die Art, wie wir Dinge verarbeiteten. Es war schön, auf diese Art eine zwischenmenschliche Bindung aufzubauen."

Viele der Menschen mit HSAM, die Joey traf, hatten ihre Probleme, schlechte Erinnerungen zu vergessen—vor allem auch wegen des sehr emotionalen Inhalts. „Alles, was mir irgendwie wichtig ist, alles, was ich in mein Gedächtnis aufnehme, bleibt auch wirklich da. Das Gute und das Schlechte: Wenn ich mich an etwas erinnere oder daran zurückdenke, dann durchlebe ich diese Erinnerung auch beinahe emotional wieder. Ich bin dann wieder an diesem Ort in der Vergangenheit. Es ist wie eine Zeitreise." Auf diese Weise können die Emotionen aus seiner Vergangenheit auch sehr überwältigend für ihn sein, sagte Joey. Sie befinden sich nicht wirklich in der Vergangenheit, sondern verbleiben in der Gegenwart. „Das ist nicht besonders gut für Beziehungen, weil man schnell an all die Sachen denken kann, die zuvor schiefgelaufen sind", sagt er. „Es ist eine Art Selbstanalyse auf die denkbar schlechteste Art. Es ist fast so, als wäre dein Verstand dein schlimmster Feind."

Ich habe Professorin Mazzoni gefragt, ob sie selber gerne so ein Supergedächtnis hätte. Sie war sich nicht sicher. „Ich habe etwas gemischte Gefühle deswegen. Auf der einen Seite denke ich, dass es mein Leben wirklich bereichern könnte—sich an all die Dinge zu erinnern, die mir passiert sind, wäre wundervoll. Auf der anderen Seite könnte das aber problematisch werden—und zwar in der Art, dass man sich an die guten Sachen, aber auch an die schlechten Sachen erinnert. Man macht schließlich relativ oft schlechte Erfahrungen im Leben und so könnte man zu dem Schluss kommen, dass man mehr schlechte als gute gehabt hat, und bekommt mit der Zeit eine negativ geprägte Einstellung."

Trotz der praktischen und mehr emotionalen Vorteile von HSAM handelt es sich bei der Fähigkeit ohne Zweifel um ein zweischneidiges Schwert. Ich habe Joey gefragt, ob er gerne darauf verzichten würde, wenn er könnte. „Auch wenn mich manchmal die schlechten Erinnerungen heimsuchen, bin ich im Großen und Ganzen froh darüber, diese besondere Fähigkeit zu haben."