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Ich verstehe euren Snapchat-Wahn nicht

Es wird Zeit, die Lobgesänge auf Snapchat zumindest für kurze Zeit zu unterbrechen.

Foto von VICE Media

Seit gefühlt ein paar wenigen Monaten beginnt beinahe mein gesamtes Umfeld, sich auf Snapchat anzumelden und es exzessiver zu nutzen als jeder 14-Jährige, den ich mir in meinem schlimmsten Albtraum vorstellen könnte. Erwachsene Männer mutieren zu Teenagern in ihrer reinsten Form, filmen sich selbst beim Karaoke, Kinobesuch und Kaka-Machen (ja, wirklich). Frauen setzen sich virtuelle Blumenkronen auf und strecken einem ihre lange Hunde-Zunge entgegen.

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Snaps von wunderschön angerichteten Speisen und abartigen Faceswaps (zum Beispiel mit Hitler) bahnen sich ihren Weg durch das Internet und alle Snapper klopfen sich gegenseitig für die Story vom Vortag auf die Schulter. Nach Monaten des konsequenten Hatens bin auch ich ein bisschen infiziert. Ich habe zwar bisher erst einen Snap verschickt, aber dafür Haufenweise kranke Faceswaps gemacht. Ich sitze also im sprichwörtlichen Glashaus und werfe mit Steinen—aber ich hasse Snapchat und mich selbst für jede Träne, die ich wegen eines Faceswaps mit meinem Miley Cyrus-Poster lachend vergeudet habe.

Man kann offensichtlich nicht leugnen, dass Snapchat nun mal verdammt lustig ist. Es kann einen schon mal ein Vorglühen lang amüsieren, wenn man mit allem und jedem das Gesicht tauscht und lustige Selfies macht. Aber warum entsteht gerade jetzt so ein Hype darum, wobei es Snapchat schon seit fünf Jahren gibt? Wahrscheinlich werden uns die anderen Netzwerke mittlerweile einfach zu langweilig. Facebook ist längst zu einem Ort mutiert, an dem man nur noch wenig Privates postet, sondern stattdessen mit beruflichem Networking und dem Aufbau seiner Ich-Marke als den nächsten Armin Wolf beschäftigt ist; und seit auf Instagram der Newsfeed nun auch durch einen teuflischen Algorithmus kontrolliert wird und man nicht mehr jeden Post chronologisch angezeigt bekommt, ist auch die letzte Bastion des selbstbestimmten Online-Lebens gefallen.

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Auf Snapchat gilt im Gegensatz zu Facebook & Co.: Je depperter, desto besser—wobei man deppert auch durch flüchtig oder YOLO ersetzen kann. Man will seine Freunde oder Follower unterhalten, der Lustigste und immer um einen Snap verrückter als die anderen sein. Auf Snapchat wird fast ausschließlich Privates gepostet—man nimmt die Follower hinter die Kulissen des eigenen Lebens mit, als wäre man eine deutsche Moderatorin bei der Oscar-Verleihung. Man zeigt auf Snapchat, was man gerade macht, wenn man nicht perfekt gestylte Fotos auf Instagram hochlädt oder sich auf Facebook mit Arbeitskollegen austauscht: Man ist richtig schön albern, lustig und daneben—begeisterte User nennen es auch gerne "ehrlich". Außerdem kann man auf Snapchat immer noch selbst bestimmen, was man sehen möchte und bekommt (zumindest jetzt noch) keine auf das eigene Profil zugeschnittenen Werbeinhalte ausgespielt.

All das spricht für Snapchat—oder macht es zumindest verständlicher für mich, warum gerade so viele deswegen durchdrehen. Es gibt da aber auch einige Punkte, die ich weniger nachvollziehen kann. Und es wird Zeit, dass die Lobgesänge auf Snapchat zumindest für ganz kurze Zeit unterbrochen werden. Ich muss euch enttäuschen: Dieser Artikel zerstört sich zu eurem Leid nicht nach einem Tag von selbst.

Snapchat ist ein Rückschritt

Erinnert ihr euch noch dunkel an die Zeit, als wir alle angefangen haben, auf Facebook und Instagram unsere weichgezeichneten Gesichter und unberührten, wunderschönen Brunches, Avocados und frisch lackierten Fingernägel zu posten? Und erinnert ihr euch noch, was dann kam? Falls ihr die Erinnerung schon aus euren Köpfen gesnappt habt: Es gab zahllose Diskussionen darüber, dass wir aufhören müssen, unser Leben für Social Media zu inszenieren und Situationen zu kreieren, die so eigentlich nie passieren würden. Es gab ganze Pamphlete darüber, dass Bloggerinnen ihre extra für Instagram frei geräumten Wände in der Wohnung wieder vollräumen müssten—und überhaupt sollten wir alle wieder anfangen, zu leben, hieß es. Das Ganze gipfelte dann im Video des Instagram-Models Essena O 'Neill, das uns allen unter Tränen offenbart hat, dass das, was sie auf Instagram verkörpert und wofür sie so viel Geld kassiert hat, Achtung, nicht echt ist.

Jetzt fängt der ganze Wahnsinn wieder von vorne an. Wenn ich mit meinen Freunden beim Essen bin, verbieten sie mir, abzubeißen, bevor sie ein Video von unserem Tisch gemacht haben. Sie kommen zu spät zu einem Treffen, weil sie noch eine Story machen mussten, für die sie extra Hintergrundmusik ausgesucht und ein lustiges Shirt angezogen haben. Natürlich müssen wir uns alle damit abfinden, dass Social Media nie das echte Leben widerspiegelt. Dass wir für Snapchat aber wieder beginnen, Dinge zeitintensiv und im Ausmaß eines Kurzfilms zu inszenieren, ist ein echter Rückschritt für unser digitales Leben. Wie lange es wohl dauert, bis das erste Snapchat-Model durchdreht und uns allen beichtet, dass die Inhalte auf Snapchat genau so wenig "echt" oder "ehrlich" sind wie auf anderen Plattformen? Hoffentlich nicht mehr lange.

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Snapchat ist und bleibt Selbstprofilierung

Auf Snapchat sind wir nicht die aalglatten, makellosen Wesen, sondern die ungeschminkten Menschen, die sich einen Monster-Filter übers Gesicht legen und jemandem ein Bussi schicken. Ja, eh. Aber der Punkt ist nicht, ob wir nach Photoshop oder nach Geisterbahn aussehen. Der Punkt ist, dass wir immer das tun, was gerade mehr Aufmerksamkeit bringt. Und nach einer langen Phase der Perfektionierung auf anderen Plattformen ist das Internet jetzt eben übersättigt mit Schönheit und wir wechseln auf die nächstbesten Aufmerksamkeitsgaranten: Unser abgedrehtes, lustiges, total flippiges, abgeschminktes, verkatertes Ich.

Natürlich kann man einwenden, dass das immer noch besser ist, als das makellose Bild von uns selbst, das wir auf anderen Kanälen präsentieren. Auf den ersten Blick: Ja. Aber genauso, wie wir auf Facebook eben die meiste Zeit perfekt und seriös sein wollen, sind wir auf Snapchat die meiste Zeit lustig und lachen am Handybildschirm über unsere eigene Hässlichkeit. Und genauso wie auf Facebook wollen wir durch unsere Snapchat-Ichs den anderen beweisen, dass wir etwas können. In diesem Fall: Über uns selbst lachen, hässlich und lustig sein. Das mag zu Beginn vielleicht sympathisch und total selbstironisch wirken. Es mag so wirken, als sei einem egal, was die anderen über einen denken, denn schließlich zeigt man sich total idiotisch im Internet. Am Ende des Tages geht es trotzdem immer noch darum, den Freunden zu imponieren.

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Ihr wollt doch nur mithalten

Irgendwie fühle ich mich auf Snapchat wie einer dieser grauhaarigen Männer, die plötzlich in die Midlife-Crisis schlittern, sich für ihr gesamtes Vermögen ein Cabrio anschaffen und auf Parship mit Selbstverständlichkeit nach einer 30-jährigen, schlanken, blonden Frau suchen. Der gemeine Snapchat-User ist jünger als ich. Ich weiß, dass ich hier eigentlich nichts zu suchen habe und dass die Kids höchstens ein müdes Lächeln für meine Bemühungen übrig hätten.

Klar, man muss sich nicht immer nach den Altersempfehlungen der Mehrheit richten und Lego darf man auch über 99 noch spielen. Aber auch, wenn man mit 40 natürlich noch snapchatten darf, stellt sich doch die Frage, warum man es unbedingt sollte. Ich verstehe, dass Teenager dem Gruppendruck erliegen und keinen Hype auslassen können—so war das auch schon vor sozialen Netzwerken, bei Kleidung und überhaupt allem, was jemals in Schulen in war. Aber Menschen jenseits der 20 machen sich den Druck meistens selbst, weil sie meinen, kein neues Netzwerk auslassen zu dürfen. Also springen sie auf und wirken dabei wie Mütter, die sich vor lauter Modebewusstsein die Michael Kors-Taschen ihrer Töchter leihen, oder andere darum bitten, ein Selfie von ihnen zu machen.

Das Midlife-Crisis-Cabrio ist 2016 billiger geworden und heißt jetzt Snapchat.

— Hanna Herbst (@HHumorlos)23. April 2016

Wie gesagt: Immer wieder schwappen neue soziale Netzwerke an die Oberfläche und lösen Hypes aus. Früher waren wir alle auf Studi VZ oder MySpace. Plötzlich waren wir auf Facebook. Und jetzt sind wir auf Snapchat. Der Unterschied ist nur, dass sich Snapchat und Facebook beispielsweise viel weniger ähnlich sind als das alte MySpace und Facebook. Auf letzteren hat jede Person eine eigene Chronik und es wird auf generell langfristige Effekte gesetzt—Kontakte und Freundschaften sollen erhalten bleiben, alte Postings sind sichtbar. Kurz: Das eine hat die Funktion des anderen übernommen.

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Laut einer amerikanischen Studie ist Snapchat in den USA mittlerweile das beliebteste soziale Netzwerk—noch vor Facebook. War mein Leben die letzten Jahre über eine einzige Lüge? Ist Facebook mittlerweile die Plattform, auf der nur alte Leute sind? Wahrscheinlich ja. Und ja, wir alle sind die "alten Leute".

Nichts ist für die Ewigkeit

Auf Snapchat segnen Storys wie gesagt nach 24 Stunden das Zeitliche. Privat verschickte Snaps und Nachrichten bleiben so lange online, bis sie vom Empfänger gesehen wurden. Das mag all diejenigen unter uns freuen, die gerne Dickpics verschicken, aber dann irgendwie doch zu feige sind, sie via WhatsApp für die Ewigkeit festzuhalten. Und sobald jemand einen Screenshot macht, bekommt man eine Benachrichtigung.

Immer, wenn ich mit jemandem über Snapchat diskutiere (was ich in letzter Zeit erschreckend oft tue), fällt das Argument der Halbwertszeit. Angeblich ist es super, dass die Snaps verschwinden. Aber verschwinden sie wirklich? Wenn mir jemand auf Snapchat ein Foto von seinem Penis schickt, ist das Foto zwar weg, aber das Bild in meinem Kopf nicht. Und ich kann auch ohne das physische Bild jedem genau beschreiben, was darauf zu sehen war—und weiß tief in meinem Inneren, dass mir jemand ein Foto von seinem Schwanz geschickt hat.

Folgt man dieser Logik, sind eigentlich alle, die mit diesem Argument für Snapchat eintreten, ein bisschen feige. Sie sind froh, dass ihnen die Peinlichkeiten aus der Vergangenheit niemals angelastet werden können. Aber wenn uns Facebook in den letzten Jahren eines beigebracht hat, dann wohl, dass kleine Peinlichkeiten zum Leben gehören. Und damit meine ich die echten Peinlichkeiten, von denen man nicht schon im Vorhinein weiß, dass sie welche sind.

Verena auf Twitter: @verenabgnr