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#Verafake ist die Konsequenz aus dem, was Zuschauer wollen

Ein ehemaliger Privatfernsehen-Redakteur erzählt: "Reality war noch nie wirklich Realität, sondern höchstens eine Zusammenfassung davon."

Robin war schon nicht echt, wurde von RTL aber noch extra gefaket. Foto: Screenshot aus dem YouTube-Video von Neo Magazine Royal

Normalerweise spricht Philipp* selten über seine Zeit beim Fernsehen. Und wenn, dann nur in Andeutungen. "Für das, was ich gemacht habe, kommt man in die Hölle", sagt er dann, halb im Ernst, halb im Spaß. Zwei Jahre war Philipp Redakteur bei einer Firma, die im Auftrag eines Privatsenders Magazine und Reality-Formate im Nachmittagsprogramm produziert. Als sich jetzt Böhmermann mit #verafake zurück auf die Bildschirme katapultierte, hat er sich ziemlich gewundert. Philipp versteht einfach nicht, wieso die Leute überrascht sind, dass bei RTL und Schwiegertochter gesucht Kandidaten überredet, die Sorgfaltspflicht verletzt und Dinge übertrieben werden. Er möchte gern anonym bleiben, denn er will niemanden bloßstellen. Deshalb haben wir seinen Namen geändert.

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"Ich bin erstaunt, dass die Zuschauer erstaunt sind. Es ist doch offensichtlich, dass bei solchen Shows zugespitzt wird und Geschichten aus dramaturgischen Gründen gelenkt werden müssen. Gerade, wenn man sieht, dass die gezeigten Personen kaum in der Lage sind, die einfachsten Dinge im Leben zu meistern."

Die scheinbar "echten" Storys sind ein feines Gewebe, in dem Reality und Script kaum mehr auseinanderzuhalten sind. "Reality war noch nie wirklich Realität, sondern höchstens eine Zusammenfassung davon", sagt Philipp.

Als Beispiel erzählt er von der Dame mit der Doppel D. Die meldet sich vielleicht bei der Firma, sie will eine Brustverkleinerung. "Als Redakteur trifft man sich mit ihr und arbeitet erst einmal die Geschichte aus. Überlegt, was man alles machen könnte, schlägt Sachen vor wie: Probier's doch vorher mit Wassergymnastik, melde dich bei deiner Krankenversicherung, und so weiter. Man schreibt die Geschichte auf und schickt sie dem Sender. Und der nickt auch solche ab, bei denen er von vornherein weiß, dass sie Beschiss sind."

Wer beim oder für das Privatfernsehen arbeitet, hat seine Tricks. Offiziell sei Scripten nicht erlaubt, erzählt Philipp. Wer nur einen Drehtag für sechs bis acht Minuten Sendezeit hat, wie das bei ihm oft der Fall war, kann aber nicht darauf warten, dass die richtigen Sätze von alleine fallen. Dafür gibt es Methoden, sagt Philipp:

"Wir haben Werkzeuge, um Protagonisten hinzubiegen. Das wichtigste: Nettsein. Viele Leute haben einfach das Bedürfnis, ernst genommen zu werden. Man kann die Sache auch aufstacheln, zum Beispiel den einen immer gut finden und den anderen immer doof. Das funktioniert gerade bei Sendungen, in denen die Leute gegeneinander antreten. Wir arbeiten auch viel mit Übermüdung: Es wird wenig geschlafen beim Dreh. Für dich als Professionellen ist das kein großes Problem. Aber für die Protagonisten ist das übel anstrengend. Die fangen dann an rumzuknutschen oder was weiß ich. Das passiert wie von Zauberhand. Und die Kamera macht auch viel aus: Wenn ständig die Aufmerksamkeit auf sie gerichtet ist, agieren die Leute extremer. Das geht bis zum Ausrasten."

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Und Philipp wird noch konkreter, auch wenn das Beispiel fiktiv ist: "Man erklärt der Familie: Jetzt frühstückt mal, wie ihr immer frühstückt. Sie fangen an, essen und reden, alles ganz normal. Dann stachelst du als Redakteur etwas und sagst zum Beispiel: Guck mal, sie hat dir gerade ein Käsebrötchen gegeben. Hast du nicht gesagt, du willst Wurstbrötchen? Und dann sagt er: Ja, eben, das hab ich schon! Und da diese Leute meistens tatsächlich Probleme haben, fangen sie an rumzuschreien. Wenn du diese ganzen Szenen abgedreht hast, nimmst du den Mann beiseite und sagst: 'Ey, Digga, raff' dich jetzt mal. Erklär' mal, was dich wirklich ärgert.' Und weil er nicht weiß, wie er die Situation beschreiben soll, hilfst du ihm dabei. Dann hast du die ruhigen Töne."

Das war der Stein des Anstoßes: #verafake

Vorsagen, wie Böhmermann bei Schwiegertochter gesucht kritisiert hat, passiere dabei fast automatisch. "Die Frage ist: Wie kann jemand, der nicht fernseherfahren ist, richtig formulieren? Wir Redakteure wiederholten häufig das Gesagte beziehungsweise boten Sätze an. Je weniger Zeit man für einen Dreh hat, desto mehr sagt man vor. Oder du fragst nach: "Willst du wirklich sagen, dass du Heiko gar nicht gut findest? Oder möchtest du vielleicht sagen, dass Heiko dich gerade noch nicht richtig anspricht, weil du ihn ja noch gar nicht richtig kennst?" Man kann die Antworten in die Richtung bekommen, die man will."

Es ist eine merkwürdige Doppelrolle: Einerseits ist Philipp der Aussteiger, der irgendwann genug hatte vom Fernsehen. Andererseits hat er jahrelang als Redakteur in dieser Welt gearbeitet, und viele seiner Freunde tun es noch. Wenn er davon erzählt, ringt er oft um die richtigen Worte. "Wir kennen doch alle diese Programme: Man will sich am Leid der Anderen erfreuen, und das muss irgendwie produziert werden. Der Akt des Produzieren an sich ist schon interessant. Aber der Redakteur weiß genauso wie der Zuschauer: Du führst Leute vor, und das ist geschmacklos. Aber natürlich redet man sich das auch schön. Viele kommen von der Uni und träumen davon, bei Arte oder ARD wichtige Filme zu machen. Die rutschen da so rein. Und viele können das dann nicht und brechen ab. Bei mir hat es nur etwas länger gedauert."

"Du musst möglichst viele Geschichten zusammenbekommen und genug Beiträge verkaufen, und die Konkurrenz ist groß. Wir haben auch Tests gemacht, für Spargel oder Schulranzen. Da war immer klar, dass das mittelpreisige Produkt gewinnen muss, weil die Zuschauer nicht so kaufkräftig sind. Zum Beispiel, indem wir den Testpersonen Tipps gaben, welcher jetzt der gute Spargel ist. Manchmal tauschten wir die Aussagen auch einfach aus."

Am Ende liegt die Verantwortung beim Zuschauer, der immer wieder einschaltet. "Anscheinend wollen die Leute so etwas sehen. Der Sender weiß schließlich sehr genau, wer wie lange wo einschaltet. Wenn der Zuschauer eklige Sachen sehen will, kriegt er eben eklige Sachen zu sehen." Die Quoten und die hohen Gewinne, weil niedrige Produktionskosten, geben den Sendern letztlich Recht. Philipp weiß: Das System Privatfernsehen funktioniert gut.