Ich nehme Ritalin gegen mein Aufmerksamkeitsdefizitsynd ... oh, ein Eichhörnchen!
Fotos: Grey Hutton

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Ich nehme Ritalin gegen mein Aufmerksamkeitsdefizitsynd ... oh, ein Eichhörnchen!

Die meisten Ritalin-Patienten berichten von dem Gefühl, sich in einen Roboter zu verwandeln, der emotionslos und fokussiert arbeiten kann. Bei mir passiert genau das Gegenteil.

"Wie ist es Ihnen ergangen?", fragt mich Frau Dr. Pichler, als ich ihr Büro in einem Altbau in Berlin-Charlottenburg betrete. Psychotherapeuten haben in der Regel sehr schicke Büros. Sehr bequeme Sitzgelegenheiten auch!

Wer Glück hat, arbeitet die hässliche Scheidung seiner Eltern gar auf einer waschechten Chaiselongue auf (ein Wort, das ich natürlich ohne Duden richtig schreiben kann). Je verrückter du bist, desto bequemer sitzt du. Bei Frau Dr. Pichler gibt es keine Chaiselongue. Saftladen.

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"Gut, wie geht es Ihnen?" Sie antwortet nicht. Schon bei unserem ersten Treffen hat mich Frau Dr. Pichler belehrt, dass man seinen Psychotherapeuten sowas nicht fragt, denn das Wohlergehen des Psychotherapeuten ist für den Patienten irrelevant. Ich frage sie trotzdem jedes Mal.

Seit zwei Jahren treffen wir uns alle sechs Wochen, jedes Treffen dauert etwa 20 Minuten und läuft nach folgendem Schema ab:

1. Frau Dr. Pichler fragt mich, wie es mir ergangen sei.

2. Ich frage Frau Dr. Pichler, wie es ihr jetzt gerade gehe.

3. Frau Dr. Pichler ignoriert meine Frage und stellt mir ein Rezept für 50 Kapseln 40mg retardiertes und 100 Tabletten 10mg unretardiertes Methylphenidat. Das Zeug dürfte den meisten unter seinem Handelsnamen bekannt sein: Ritalin.

Falls nicht gerade von Jura-Studenten vor dem Staatsexamen missbraucht, wird Ritalin zur Behandlung von ADS eingesetzt. ADS, also Aufmerksamkeitsdefizitsynd … oh, ein Eichhörnchen!

Wo war ich? Ach ja, das ADS-Dingsbums. Das wird normalerweise schon im Kindesalter diagnostiziert, unter den Kiddies wird das Ritalin auch viel großzügiger verteilt. Es ist eine Verhaltensstörung, die in manchen Fällen auch körperliche Hyperaktivität verursachen kann. Also zappeln manche halt rum.

Andere, wie ich zum Beispiel, leben ihre Hyperaktivität im Kopf aus und schaffen es nicht, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Das heißt nicht, dass wir uns gar nicht konzentrieren können—wir können uns nur nicht auf das konzentrieren, worauf wir uns gerade konzentrieren sollten. Menschen mit ADS sind nicht faul, sie haben ein fragmentiertes Gedächtnis. Und das steht ständig unter Strom.

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Die Diagnose besteht aus einer Reihe von Tests. Man wird zu seinem Alltag und seinen Emotionen befragt, zu Kindheit und Familie. Manchmal kommt auch ein Intelligenztest dazu, da ein hoher IQ die Wahrscheinlichkeit einer Konzentrationsstörung erhöht. Mein ADS wurde erst vor zwei Jahren von Frau Dr. Pichler bestätigt, ich bin also gut 26 Jahre lang ohne Ritalin ausgekommen.

In der Schule waren meine Noten gut, obwohl ich immer viel zu wenig Zeit ins Lernen investiert habe. Meinen Job habe ich auch auf den letzten Drücker immer irgendwie hinbekommen, doch ich war ständig müde. Egal, wie gut ich geschlafen habe, verbrachte ich den ganzen Tag gähnend. Ich wechselte so oft zwischen Arbeit, Facebook, Essen, Katzenvideos auf YouTube und Kätzchenvideos auf YouPorn, dass ich gleichzeitig alles und nichts gemacht habe—also wie in einem herkömmlichen BWL-Studium. Hatte ich es irgendwie doch geschafft, mich auf eine Sache zu konzentrieren, war ich regelrecht besessen davon und verbrachte meine gesamte Zeit nur damit.

DOCH IHR WERDET NICHT GLAUBEN, WAS DANN GESCHAH!!1!

Jeden Morgen schmeiße ich mir mittlerweile eine von diesen violett-grauen Kapseln ein. Nach gut 40 bis 60 Minuten fängt das Methylphenidat an zu wirken. Man entwickelt keine Toleranz für das Medikament, und es gibt auch nicht diese ganze "Du musst dich darauf einlassen"-Scheiße, die dir irgendwelche Hippies im Club zuflüstern, während sie dir Ahoi-Brause als MDMA verticken. Wenn das Ritalin einsetzt, merkst du es.

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Die meisten Patienten berichten von dem Gefühl, sich dann in einen Roboter zu verwandeln, der emotionslos und fokussiert arbeiten kann. Bei mir passiert genau das Gegenteil: Ich werde nicht nur wach und konzentriert, sondern auch sozial. Ich habe Lust, unter Menschen zu sein und Gespräche zu führen. Ich bin nicht mehr ständig sauer und verbittert, sondern nur noch 80 Prozent der Zeit. Das ist schon was!

Manchmal fühle ich mich sogar regelrecht glücklich. Frau Dr. Pichler sagt, meine Euphorie wird von der Erkenntnis verursacht, dass ich dank des Medikaments besser mit anderen Menschen kommunizieren kann.

Trotzdem verwandelt mich das Ritalin nicht in einen anderen Menschen. Es lässt nicht all meine Probleme magisch verschwinden, sondern hilft mir lediglich dabei, sie zu bekämpfen. Andere sind nicht in der Lage zu erkennen, wann ich es genommen habe und wann nicht. Es ist eher eine innere Revolution.

Kreativität soll das Ritalin angeblich auch eliminieren, da die Defragmentierung des Hirns die Assoziationen von Dingen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, eher verhindern soll. Zum Beispiel Krokodile und Echtholz-Buttplugs aus dem Erzgebirge. Oder Nickelback und Musik.

Auch das kann ich nicht bestätigen. Ich habe in den letzten zwei Jahren ein Buch geschrieben, Musik komponiert, Filme gedreht, Songs geschrieben, Webseiten gestaltet und TV-Spots konzipiert—alles unter dem Einfluss von Ritalin (#HumbleBrag). Außerdem ernähre ich mich gesünder und treibe Sport. Also, ich treibe ein bisschen Sport. Das ist schließlich ein Medikament, kein Zaubermittel.

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So weit, so geil. Nicht so geil sind allerdings die Reaktionen, die ich oft höre, wenn das Thema aufkommt. Diese reichen von "ADS? Das ist doch Fake!" über "Da nimmst du jeden Tag Medikamente? Wie traurig!" bis zu "Ach, Grünen Tee trinken und 'ne Runde joggen, dann geht's wieder!". Menschen, die unter Depressionen leiden, wissen, was ich meine.

Wenn du dir den Arm brichst, würde niemand auf die Idee kommen, dir eine Behandlung mit Tee und Räucherstäbchen zu empfehlen. Bei mentalen Baustellen scheinen es aber viele für einen plausiblen Lösungsvorschlag zu halten—sogar die Krankenkassen. Da die Diagnose erst nach meinem 18. Lebensjahr erfolgte, muss ich die Kosten für die Medikamente selbst tragen. Das sind etwa 140 Euro im Monat. Homöopathische Globuli-Scheiße übernimmt die Krankenkasse wiederum herzlich gerne.

Eine private Krankenversicherung kann ich für den Rest meines Lebens vergessen, genau wie jeder andere, der unter einer psychischen Störung leidet oder gelitten hat. Die werden durchweg abgelehnt. Das spiegelt eigentlich den Umgang der Gesellschaft mit geistigen Erkrankungen perfekt wider.

Sollte man also wirklich Tag für Tag so ein unnatürliches Medikament zu sich nehmen? Wenn es die Lebensqualität steigert, unbedingt! Man kann auch auf Zahnpasta und Deo verzichten, weil sie voller Chemie sind, aber dann wirkt man eben aus wie einer der Kandidaten bei Schwiegertochter gesucht. Ich will nicht bei Schwiegertochter gesucht enden.

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Und jetzt kommt mir nicht mit "Ich mache mir meine Zahnpasta aus Rosmarin und Heilerde selbst", ihr Ökos. "Natürlich" bedeutet nicht automatisch "gut", das kann jeder bestätigen, der im Wald schon mal den falschen Pilz gegessen hat. Oder in Thailand.

Manche Menschen schließen auch gerne auf ganz andere Krankheiten, wenn man ihnen erzählt, dass man ADS hat und Medikamente nimmt, und erklären einen gleich zum labilen Pflegefall.

Letztens hat mir eine Arbeitskollegin während einer Diskussion unterstellt, ich würde unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden. Sie erzählte, dass ihr Ex-Freund, der "ebenfalls Borderline war", das Auto seines Vaters gestohlen hat, nach Polen gefahren ist und einen Hundewelpen für 2.000 Euro gekauft hat. Ein typisches ADS-Syndrom also. Der polnische Hundewelpenmarkt hat seinen wirtschaftlichen Aufschwung bekanntermaßen nur Ritalin zu verdanken.

Aber Menschen, die ADS haben, sind nicht automatisch borderline, oder depressiv, oder bipolar—auch wenn sich diese Krankheiten oft gemeinsam auftreten. Nicht jeder, der Verstopfungen hat, leidet automatisch auch an Hodenkrebs. Und wenn Menschen mit ADS mal sauer oder traurig oder unfreundlich sind, genau wie jeder andere, liegt es nicht unbedingt daran, dass sie vergessen haben, ihre Medikamente zu schlucken. Vielleicht führst du dich auch einfach gerade wie ein Arschloch auf.

Ich kann sehr gut verstehen, dass viele Menschen, die psychische Probleme haben, diese für sich behalten. Wir leben in einer Gesellschaft, die für sowas kein Verständnis hat. Wer diese vermeintliche "Schwäche" von sich preisgibt, kann fest damit rechnen, danach anders wahrgenommen zu werden. Viele Menschen nutzen das aus, um einem Unfähigkeit oder Irrationalität zu unterstellen. Wenn du aber die Energie und Geduld hast, deine Mitmenschen für dieses Thema zu sensibilisieren, solltest du es trotzdem tun.

Es wird Zeit, dass wir unseren Umgang mit psychischen Störungen überdenken. Es wird Zeit, dass wir Depressionen, ADS, ADHS und was auch immer AfD-Wähler haben, als das bezeichnen, was sie sind. Es wird Zeit, dass wir aufhören, Menschen mit psychischen Erkrankungen auszuschließen und zu diskriminieren.

Frau Dr. Pichler stempelt einen kleinen, gelben Zettel ab und drückt ihn mir in die Hand.

"Bis in zehn Wochen", sagt sie.

Ich stecke das Rezept ein und werfe beim Rausgehen einen Blick auf die sehr bequemen Stühle. Ob ich irgendwann gestört genug für eine richtige Chaiselongue bin? Ich schließe die gepolsterte Tür des Büros und denke: "Irgendwann, Shahak. Irgendwann."