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Salafismus in Österreich

Wer sind die Koran-Verteiler auf der Mahü?

Immer wieder wird kritisiert, dass hinter den Gratis-Koranverteilungen eine radikale, salafistische Gruppierung stecken soll. Wir haben uns mit den Verteilern unterhalten.

Titelfoto: Thomas Hoisl / VICE Media

Den Sommer in Wien verbringen zu müssen, ist ja an sich schon bisschen eine Strafe. Stellt euch aber vor, ihr müsstet dazu noch den ganzen Tag bei gefühlten 40 Grad auf der Mariahilfer Straße rumstehen und dürftet dabei nicht mal einen Schluck Wasser, ja geschweige denn Alkohol, zu euch nehmen.

Eine Gruppe bärtiger Typen mit Strickkappen und weißen, knöchellangen Gewändern tut das mehrmals die Woche freiwillig—derzeit, im muslimischen Fastenmonat Ramadan, sogar ohne dabei zu trinken oder zu essen. An einem Infostand verteilen sie kostenlos mehrsprachige Übersetzungen des Korans an Passanten. Laut eigenen Angaben würden dabei an einem Tag fünf- bis sechshundert Stück weggehen.

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Die Koranverteilungskampagne gibt es seit dem Jahr 2011 und nahm ihren Ausgang in Deutschland. Mittlerweile gibt es sie vielerorts in Europa, von Schweden bis Albanien und in kleinen Provinzstädten—von Hall in Tirol bis Eisenstadt. Gleichzeitig wird das Projekt aber immer wieder scharf kritisiert. So soll es sich bei den handelnden Personen um eine salafistische Gruppierung handeln, die einen ultrakonservativen Islam propagiere und Nährboden für Dschihadisten bereite.

Eines steht fest: Nach dem YOLO-Prinzip leben die Typen nicht, vielmehr fängt für sie der Spaß erst an, wenn das kurze, irdische Leben vorbei ist. Und so schwitzen sie zwar in der Hitze des Diesseits an der Ecke Neubaugasse/Mariahilfer Straße, tun dies aber mit der festen Überzeugung, nach dem Tod im ewigen Paradies zu landen, während Ungläubige wie du und ich für immer in der Hölle schmoren werden.

Als ich den Infostand besuche, will einer von ihnen gleich vorweg klarstellen: „Wir sind keine Salafisten, wir sind normale Muslime". Salafismus sei ein von den Medien konstruierter Begriff. Ziemlich genau in dem Moment geht ein männlicher Passant vorbei und ruft „Scheiß Salafisteschweine!" in Richtung der Verteiler. Mein Gegenüber sieht sich bestätigt. „Diese Leute sind leider alle manipuliert. Wir nehmen es ihnen aber nicht übel und sind genau deshalb hier—um aufzuklären." Er selbst ist erst seit zwei Jahren praktizierender Muslim. Seine Eltern, die aus Albanien stammen, hätten ihn nicht strenggläubig erzogen.

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Ich frage ihn, was er von der Scharia halte. „Das ist ein großes Thema", meint er, „das muss man genau studieren. Wir halten uns grundsätzlich an alles, was Gott im Koran gesagt hat." Ob er dabei auch das Auspeitschen unterstütze? „Mit Strafen kenne ich mich nicht aus, auch das muss man genau studieren. Aber es geht in der Scharia nicht nur um Handabhacken, sondern auch um Vergebung und Reue." In Fragen des Islamischen Rechtes empfiehlt er, den YouTube Channel „Stimmen der Gelehrten" anzusehen.

In über tausend Clips beantworten dort hohe, saudiarabische Gelehrte Fragen des Alltags bis ins kleinste, absurdeste Detail—was etwa tun, bei Blähungen während des Gebets? Ist es erlaubt, alkoholfreies Bier trinken? Dürfen Männer tanzen und Frauen Sonnenbrillen tragen? Alle Ratgeber Clips sind dabei mit deutschen Untertitel versehen. Auch von Terrorismus und IS ist oft die Rede. Davon würde man sich klar distanzieren, wird in den Videos erklärt.

Foto: Thomas Hoisl / VICE Media

Mein Gesprächspartner auf der Mariahilfer Straße bezieht gegen den IS ebenfalls Stellung: „Es gibt keinen Islamischen Staat. Was diese Menschen machen, passt nicht mit dem Koran zusammen." Haarsträubender wird es aber, als ich ihn auf Demokratie anspreche. „Wählen, das gehört nicht zum Islam", findet er und ist sich auch nicht sicher, ob ein demokratischer Staat zu 100 Prozent mit dem Islam kompatibel sei. Das klingt zwar bedenklich, ist aber eigentlich nur logisch, wenn man konsequent Normen gehorcht, die von saudi-arabischen Rechtsgelehrten stammen. „Wir halten uns an das österreichische Grundgesetz und respektieren es", betont er gleichzeitig.

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Die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich zeigt sich mit den Verteilaktionen „nicht glücklich", wie mir Präsident Fuat Sanac mitteilt. Erstens gäbe es im Islam grundsätzlich keine Missionierungen und zweitens seien die verteilten Korane auch nicht geprüft—für die darin verbreiteten Inhalte werde daher von offizieller Seite keine Verantwortung übernommen.

In Deutschland steht das „Lies!"-Projekt unter genauerer Beobachtung. In einer Studie behaupten Verfassungsschutz und BKA, dass sich sogar jeder fünfte, ausgereiste Syrien-Kämpfer über das Projekt radikalisiert hätte. Bei uns in Österreich sieht man das gelassener. Auf eine parlamentarische Anfrage antwortete Innenministerin Mikl-Leitner im Mai, dass man bisher keinen Anlass gefunden habe, über die Gruppe Daten zu sammeln. Ein Sprecher des Innenministeriums teilt mir mit, dass man die Umstände polizeilich genau geprüft und es bisher keinen Grund zur Beanstandung gegeben hätte.

Nur in Wiener Neustadt werden die Verteilaktionen seit vergangenem Herbst untersagt. FP-Stadtrat Schnedlitz begründet das mit mehreren Vorfällen und Beschwerden aus der Bevölkerung. Eine ältere Dame sei beispielsweise unter Tränen ins Rathaus gekommen, nachdem sie von den Verteilern beschimpft worden wäre. Auch wenn man die Verteilungen auf kommunaler Ebene an sich faktisch nicht verbieten kann, werden die Verteilungen dort seither nicht bewilligt.

Paradoxerweise behauptet die Gruppe auf der Mariahilfer Straße, offiziell gar nicht zum Lies-Projekt zu gehören, auch wenn neben ihrem Stand zwei große Plakatständer mit dem „Lies!"-Logo stehen. Man kaufe zwar Korane in Deutschland und stelle das denen zuliebe auf, sei aber im Prinzip völlig unabhängig.

Bevor ich den Infostand verlasse, komme ich noch kurz mit einem zweiten Verteiler ins Gespräch. Er wirkt ziemlich jung, maximal zwanzig, und erzählt, dass er erst vor acht Monaten zum Islam konvertiert sei. Er habe früher sogar eine römisch-katholische Privatschule besucht und komme aus einer „ganz normalen" österreichischen Familie. In einer spirituellen Auseinandersetzung sei er aber zu der Ansicht gekommen, dass die Kirche ja nicht einmal mehr selbst von ihrem Glauben überzeugt ist und begann sich dem Islam zuzuwenden.

Oft hört man von genau diesem Typus junger Konvertiten, ohne jeglichen Migrationshintergrund aus muslimischen Ländern. Man kennt die showhaften Islam-Übertritte bei Veranstaltungen von Pierre Vogel, wo dieser neue-alte Islam fast wie eine Art Subkultur rüberkommt. Und man kennt diverse Biografien von Teenagern, die sich innerhalb kürzester Zeit radikalisiert haben und schließlich in Syrien landeten. Man sollte das natürlich trennen. Und Konversionen und Koranverteilungen halte ich an sich auch nicht für das eigentliche Problem. Beunruhigender ist der Umstand, dass in zunehmend komplexeren Zeiten die Nachfrage nach diesen fundamental einfachen Antworten zunimmt.

Thomas auf Twitter: @t_moonshine