Menschen

Wir haben einen Forscher gefragt, wieso Menschen Obdachlose anzünden

"Gewalt gegen Obdachlose findet oft ohne direkten Anlass statt."
Passanten gehen an einer obdachlosen Person vorbei
Foto: imago images / Emmanuele Contini

In den frühen Morgenstunden des 4. September 2019 haben Unbekannte die Decke eines Obdachlosen in Berlin-Mitte angezündet, während er schlief. Solche brutalen Angriffe auf die Schwächsten in unserer Gesellschaft sind keine Seltenheit und können auch tödlich enden. Allein für das letzte Jahr verzeichnet die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG) 17 Todesfälle – in 9 Fällen waren die Täter selber wohnungslos. Die Dunkelziffer wird weitaus höher geschätzt. Woher kommt diese Gewalt? Was verleitet einen Menschen dazu, die Wehrlosigkeit eines anderen auf der Straße derart brutal auszunutzen? Wir haben mit Paul Neupert gesprochen, der beim Dachverband für Wohnungslosenhilfe (BAG) die Gewaltfälle an Wohnungslosen dokumentiert.

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VICE: Vergangene Woche wurde in Berlin ein Obdachloser angezündet, mal wieder. Nimmt die Gewalt gegen Obdachlose zu?
Paul Neupert: Nur ein kleiner Teil von Gewalt gegen Wohnungslose wird dokumentiert und ist der Polizei bekannt. Es nehmen zwar die Fälle zu, die dokumentiert werden, aber es ist nicht klar, ob die Gewalttaten auch real zunehmen. Es gibt es ein großes Dunkelfeld, da Gewalttaten oft nicht angezeigt werden. Prinzipiell ist aber eine generelle Zunahme der Gewalttaten anzunehmen, schon allein weil die Zahl der Wohnungslosen – also die Zahl der potentiellen Betroffenen – seit Jahren zunimmt.

Um was für Übergriffe handelt es sich da?
Ganz unterschiedlich. Oft sind es Schlägereien, aber auch Verletzungen durch Schuss- oder Stichwaffen, Tötungsdelikte und Morde.


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Wer ist besonders betroffen von Gewalttaten auf der Straße?
Vor allem die Leute, die als obdachlos zu erkennen sind. Das stereotype Bild vom Obdachlosen ist ja meist das des Bettelnden, der in der S-Bahn sitzt und müffelt. Es gibt aber viele Menschen, die Strategien entwickelt haben, wie sie überhaupt nicht auffallen und in der Masse untergehen. Die fahren ordentlich gekleidet mit der Bahn oder setzen sich in die Bibliothek und lesen. Diejenigen, die nach außen dem Stereotyp des Obdachlosen entsprechen, weil sie z.B. alkoholisiert und verwirrt sind, werden häufiger attackiert.

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Und Frauen?
Frauen sind deutlich häufiger Opfer sexualisierter Gewalt. Wobei da schwer zu sagen ist, ob sie generell häufiger von Gewalt betroffen sind.

Einen Menschen anzuzünden, das ist besonders brutal. Warum machen Menschen so etwas?
Gewalt gegen Obdachlose – wenn sie nicht von anderen Obdachlosen kommt – findet oft ohne direkten Anlass statt. Die passiert spontan und überfallartig. Häufig aus Gruppen junger Männer heraus und mit besonderer Brutalität. Die Täter nutzen die Wehrlosigkeit der Opfer regelrecht aus.

Also werden Obdachlose angegriffen, weil sie einfache Opfer sind?

Ja, Obdachlose werden oft ausgesucht, weil sie nicht in der Lage sind, sich zu wehren, gerade wenn eine obdachlose Person schläft oder alkoholisiert ist. Die Täter wollen sich an irgendjemandem abreagieren. Und bei sowas spielen sogenannte Hate-Crime-Motive, also Vorurteilskriminalität eine ganz entscheidende Rolle.

Was bedeutet Hate Crime?
Das ist die Gewalt gegen Menschen, die damit begründet wird, dass sie einer bestimmten Gruppe angehören. Viele Menschen verachten Obdachlose. Da reicht die Wohnungslosigkeit als Beweis für die "Minderwertigkeit" der Opfer schon aus und wird genutzt, um die Tat zu legitimieren. Außerdem wird dem Opfer eine individuelle Erklärung für seine Wohnungsnot unterstellt – also im Sinne von "Die Person hat es sich selbst ausgesucht, auf der Straße zu leben". Damit werden Obdachlose von Anfang an als schlechtere Menschen abgewertet.

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Wissen Sie irgendwas über weitere Motive?
Das ist sehr schwer zu sagen, weil häufig Täter nicht gefasst werden und man den Grund deshalb nicht festmachen kann. Und wenn sie gefasst werden, schweigen auch viele. Aber Professorin Daniela Pollich hat anhand von Polizeimeldungen festgestellt, dass circa 40 Prozent der Straftaten an Obdachlosen dem Hate-Crime-Motiv zuzuordnen sind. Die Amadeu Antonio Stiftung geht davon aus, dass 20 Prozent der seit 1990 dokumentierten Todesopfer rechter Gewalt wohnungslos waren.

Wie wehren sich Obdachlose gegen Gewalt?
Die Strategien, mit dieser Gewalt umzugehen, sind sehr unterschiedlich. Obdachlose wissen, dass sie jederzeit Opfer von Gewalttaten werden können. Sie sind permanent im Alarmmodus. Das macht natürlich viele echt krank. Ich habe Menschen kennengelernt, die sich ganz weit in den Wald zurückziehen in der Hoffnung, dass sie niemand dort findet. Wenn sie dann aber von einem Täter gefunden werden, sind sie so weit weg von Zeugen, dass sie eigentlich chancenlos sind.

Welche Strategien gibt es da noch?
Es gibt auch solche, die legen sich mit Absicht beim belebten Bahnhof unter eine Videokamera. Dort fühlen sie sich von der Präsenz möglicher Zeugen geschützt. Andere halten Hunde oder schließen sich in Gruppen zusammen, um jemanden zu haben, der sie warnt. Ich habe auch Obdachlose kennen gelernt, die mit einem Messer im Schlafsack schlafen. Frauen wiederum schließen sich oft einem Partner an, von dem sie sich Schutz erhoffen. Das bedeutet nicht unbedingt, dass es den Frauen damit besser geht, denn auch diese Partnerschaft kann gewalttätig sein.

Was können wir gegen Gewalt an Wohnungslosen tun?
Der beste Schutz sind die eigenen vier Wände. Aber wenn es keine Wohnung gibt, müssen wir Menschen Unterkünfte bereitstellen, die ein Mindestmaß an Privatsphäre aufweisen. Es muss abschließbare Einzelzimmer und getrennte Räumlichkeiten für Männern und Frauen geben. Außerdem muss Gewalt gegen Wohnungslose auch entsprechend geahndet werden. Obdachlose sind keine Opfer zweiter Klasse. Viele haben Angst, dass man ihnen sowieso nicht glaubt und ihre Anzeige nichts bewirkt. Das muss sich ändern. Die Strafverfolgungsbehörden müssen an der Stelle mehr Vertrauen schaffen.

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