Vergesst eure Sonntags-Mails – ein Plädoyer gegen die Erreichbarkeit
Illustration von Janinski

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Hackler, Jobber, Karrieristen

Vergesst eure Sonntags-Mails – ein Plädoyer gegen die Erreichbarkeit

Weil die psychische Gesundheit so viel wichtiger ist als jede E-Mail.

Dieser Artikel wird präsentiert von der Arbeiterkammer Wien und ist ohne Einflussnahme in der VICE-Redaktion entstanden.


Wenn dir dein Chef am Sonntag Nachmittag auf WhatsApp schreibt und fragt, ob du dich nur kurz – "geht auch ganz schnell, versprochen" – um diese eine Mail kümmern könntest, was antwortest du dann? Stehst du von der Couch auf, drückst bei Netflix auf Pause und erledigst die Sache ganz einfach, weil es eben dazugehört, du nicht pingelig sein und einen guten Eindruck machen willst? Ignorierst du die Nachricht so lange wie möglich und antwortest schließlich, dass du leider gerade nicht vor dem Computer bist? Oder sagst du einfach "Nein", weil Sonntag ist und du gerade viel bessere Dinge (nämlich nichts) zu tun hast? Mit großer Wahrscheinlichkeit wirst du dich für die erste Variante entscheiden – genauso wie ziemlich viele (vor allem junge) Menschen das tun, die in keinem klassischen 9-to-5-Job arbeiten und gerade keine Lehre machen, also zum Beispiel im Mediensektor, bei Agenturen oder anderweitig kreativ tätig sind.

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Dabei ist es selbstredend mehr als OK, in der Freizeit nicht für Chef oder Kollegen abrufbar zu sein und sein Leben nicht den Bedürfnissen des Molochs unterzuordnen. Wir wissen aber auch – sowohl aus eigener Erfahrung, aus dem Bekanntenkreis und auch aus der Forschung –, dass das alles dann doch nicht so einfach ist, wie man sich wünschen würde. Auch wenn wir sonst alle mit voller Geschwindigkeit in ein kollektives Burnout schlittern.

Wahrscheinlich wurden seit der Einführung von Smartphones schon viel zu viele Artikel über die sagenumwobene Work-Life-Balance geschrieben, die sich alle darum drehen, dass es durch die Digitalisierung und die Kommunikation auf verschiedensten Kanälen immer schwerer wird, abzuschalten und wir mal wieder raus in die Natur gehen oder gleich Digital Detox in einer Klinik in Bad Oaschloch machen sollten.


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Aber das hier soll keine Verteufelung von Smartphones oder dem großen weiten Internet sein. Schließlich wissen wir es alle besser – und sind noch dazu realistisch genug, um nicht die Rückkehr in Zeiten von Briefen und Faxen zu fordern, so wie auch niemand mehr ernsthaft die Rückbesinnung auf den Stummfilm verlangt (obwohl, bei der FPÖ haben wir gar nicht gefragt). Es geht auch nicht darum, so zu tun, als würden neue Medien alles schlechter machen; tatsächlich ist eher das Gegenteil der Fall und schwarzmalerische Gerüchte darüber, dass die Menschheit insgesamt dümmer wird, wenn wir mehr Technologie nutzen und uns weniger auswendig merken müssen, gibt es bereits seit Platon.

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Aber hier geht es um etwas anderes. Und zwar um einen Appell zum besseren und vor allem gesünderen Umgang mit der Dosis unsres Onlineseins, weil wie immer genau die das Gift macht.

Laut einer Studie der Arbeiterkammer Niederösterreich sind immer mehr Menschen, genauer gesagt 70 Prozent der Befragten, permanent erreichbar – sei es in der Freizeit, im Urlaub oder Krankenstand. Genau diese ständig erreichbaren Menschen sind es auch, die häufiger als andere Depressionserscheinungen aufweisen. Während der Anteil an Depressionserkrankten unter denen, die in ihrer Freizeit kaum oder nicht erreichbar sind, bei zirka 11 Prozent liegt, liegt er bei den ständig Erreichbaren bei 24 Prozent.

Eine Untersuchung des Beratungsunternehmens Randstad Austria hat außerdem gezeigt, dass eben diese permanente Erreichbarkeit von 45 Prozent aller Arbeitgeber in Österreich erwartet wird.

Das ist weit von einem rein theoretischen Problem entfernt. Jeder Zweite liest laut einer Studie des deutschen Meinungsforschungsinstituts YouGov auch am Feierabend und Wochenende Nachrichten, die mit dem Job zu tun haben. Zwei Drittel empfinden diese dauerhafte Erreichbarkeit als Belastung für ihr Privatleben und ihre Beziehungen.

Und es ist auch nicht so, dass wir gegenüber dem Partner besonders nachsichtig wären, nur weil wir uns selbst von Job und Boss zur Arbeit in der Freizeit gezwungen fühlen, im Gegenteil: Umgekehrt findet es nämlich auch jeder Zweite nervig, wenn der Partner in seiner Freizeit Anrufe und Mails aus dem Büro beantwortet. Als ich mich unter Kolleginnen und Freundinnen umhöre, erzählt mir mein Freund Julian*, dass er dieses Problem aus seiner Beziehung kennt: "Oft, wenn ich meine Freundin nach einem langen Arbeitstag abends treffe, merke ich, dass sie quasi nur körperlich anwesend ist. Sie ist immer zum Abruf bereit und selbst, wenn um 22 Uhr noch wer anruft, nimmt sie sich die Zeit. Das kann ziemlich frustrierend sein und man bekommt das Gefühl, dass die Arbeit immer wichtiger als die Beziehung ist."

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Vorsichtig gesagt manövrieren wir uns mit unserer Nutzung also anscheinend in eine Pattsituation. Weniger vorsichtig gesagt steht es um unser nichtberufliches Leben ziemlich beschissen.

Angesichts dieser Tatsache stellt sich die berechtigte Frage, warum wir das alles eigentlich zulassen. Warum betreiben wir freiwillig diese Art der Selbstausbeutung? Warum kann diese eine Mail nicht bis morgen warten? Wer bestimmt über unsere Work-Life-Balance? Wir selbst, unsere Vorgesetzten oder die Kollegen und anderen Menschen, die außerhalb der Arbeitszeiten anrufen, Mails schreiben und Nachrichten schicken? Können wir überhaupt selbstbestimmt über unsere Zeit entscheiden? Und selbst, wenn wir glauben, eigenständig zu handeln, wenn wir Mails "freiwillig" in der Freizeit beantworten – warum zur Hölle riskieren wir unsere Beziehungen dafür, dass wir in der Arbeits-Bubble ein bisschen mehr Anerkennung bekommen?

Abgesehen davon bleiben aber auch Dinge auf der Strecke, die Soziopathen genauso betreffen – wie Haushalt und Spaß mit sich selber. Und da reden wir noch gar nicht von der esoterisch klingenden Fähigkeit, einfach mal abzuschalten und Dinge bis zum nächsten Arbeitstag warten zu lassen, um zumindest für ein paar Stunden seine Mitte zu finden.

Auf den ersten Blick wirkt diese Einstellung wie der Traum vieler Arbeitgeber. Aber auch das könnte täuschen: Folgeschäden wie Burnout können auch für Unternehmen negative Folgen haben und bedeuten finanzielle Belastungen – und auch das wissen wir, theoretisch, nicht erst seit gestern. Psychische Probleme, wie sie durch Überbelastung ausgelöst werden, sind in Österreich der zweithäufigste Grund für Arbeitsunfähigkeitspensionen.

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Stress ist im Arbeitsleben junger Menschen eine Realität und Burnout eine ernsthafte Gefahr. Aktuell empfinden 41 Prozent der 18- bis 34-Jährigen eine akute Stressbelastung am Arbeitsplatz, wie eine Allianz-Studie Anfang 2017 ergab; jeder vierte Mensch in derselben Altersgruppe empfindet den Stress auch in der Freizeit als Belastung.

Und nicht nur die Chefs stressen, sondern auch die Kollegen, die noch schnell, ganz kurz, nur einen Moment diese eine kleine Sache von uns brauchen, die wirklich nur zwei Clicks benötigt. Sie stressen per Mail, per WhatsApp und im Facebook-Messenger – und damit auch an den Orten, wo man keine Abwesenheitsnotizen einstellen kann und sich auch nicht verstecken will. Sie haben Hintertüren gefunden und nutzen sie schamlos aus; nicht nur ohne böse Absicht, sondern auch ohne schlechtes Gewissen.

Das Ganze ist vor allem ein Problem, das junge Menschen betrifft: Eine Studie aus dem Jahr 2013 ergab, dass jüngere Menschen sich schlechter vom Job abgrenzen können; jeder zweite Berufstätige unter 30 findet es normal, in der Freizeit und auch im Urlaub erreichbar zu sein.

Ein Grund dafür könnte sein, dass viele jungen Menschen in ihrem Job nicht nur eine Geldquelle, sondern Erfüllung und Selbstverwirklichung suchen. Dafür sind sie bereit, vieles zu geben. Um sich von der Konkurrenz abzuheben und maximale Leistung anzuspornen, wird Eigeninitiative von vielen Arbeitnehmern, beispielsweise im kreativen Bereich, als oberstes gefordert.

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Um den Anforderungen zu entsprechen und nicht als faul zu gelten, erfüllen viele diese Forderung und verzichten somit auch aus eigenem Antrieb auf persönliche Dinge. So wird man schnell zum Selbstausbeuter, obwohl man eigentlich nur einen guten Job machen will. Wenn ich mich in meinem Bekanntenkreis umhöre, wird mir genau das bestätigt: Gleich mehrere Freunde und Bekannte erzählen mir, dass sie sich Gedanken darüber machen, was der Chef wohl denkt, wenn sie das Büro pünktlich verlassen und nicht aus Prinzip Überstunden machen. Darum bleiben sie vorbeugend gleich ein bisschen länger sitzen. Andere erzählen, dass sie in quasi jeder Situation auf berufliche Nachrichten und Anrufe reagieren: Sei es um 22 Uhr beim Filmschauen mit der Freundin, am Wochenende im Freibad oder im Krankenstand. Glücklich sind damit die wenigsten.

Der individuelle Umgang mit den Erwartungen, die wir selbst und andere an uns stellen, entscheidet darüber, wie es uns im Job geht und welche Auswirkungen er auf unsere psychische Gesundheit hat. Die Arbeiterkammer fordert als ersten Schritt klare Regelungen dafür, wie die Verlagerung der Arbeit in die Freizeit finanziell entschädigt werden kann, und eine gesetzliche Verpflichtung zur betrieblichen Gesundheitsförderung.

Aber nicht nur unsere Arbeitgeber auf höchster Ebene sollten hier aufgefordert werden, etwas zu tun. Auch uns Arbeitnehmern muss bewusst werden, dass wir das Recht auf Freizeit haben und nicht gleich als faul gelten, wenn wir nach ohnehin schon einigen Überstunden pro Woche mal nicht an unser Handy gehen wollen und am Sonntag einfach mal "Schau ich mir gerne morgen an" antworten und währenddessen den nächsten Film auf Netflix aussuchen.

Denn unser Privatleben, das wir so gestalten, wie wir möchten, ist nicht ganz unwichtig – nicht nur für die generelle Zufriedenheit, sondern auch für die Motivation, nach einem guten Wochenende wieder ins Büro zu gehen. Und erst recht für unsere psychische Gesundheit. Das alles ist mit großer Sicherheit um einiges wichtiger als die meisten Mails, die an einem Sonntag im Postfach landen.

Verena auf Twitter: @verenabgnr

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