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rechte Gewalt

Eine 19-Jährige wird wegen eines Antifastickers überfallen – und niemand erfährt davon

Mitten in München schlug jemand die Frau blutig und bewusstlos, doch die Polizei hat bis heute keine Pressemitteilung dazu herausgegeben.
Foto: imago | 7aktuell

"Antifaschistische Aktion München" steht auf dem Sticker, den Kathi auf ihren Rucksack geklebt hat. Den Rucksack trägt sie auch, als sie am 3. September durch den Pasinger Stadtpark in München läuft. Es ist etwa 20 Uhr, Kathi ist auf dem Weg nach Hause. Es ist ein großer Sticker, die Aufschrift ist gut erkennbar. Wahrscheinlich, das vermutet sie, sei der Typ so auf sie aufmerksam geworden. "Scheiß Antifas!", habe sie es hinter sich rufen gehört, da ist sie sich ganz sicher. "Scheiß Antifaschistin!" Dann wird es dunkel.

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Als sie wieder zu sich kommt, ist sie blutüberströmt und benommen. Die Sonne ist bereits untergegangen. Der Pasinger Stadtpark, in dem sie sich befindet, ist weiterhin gut besucht, Menschen laufen an ihr vorbei. Kathi möchte ins Krankenhaus, zu Fuß, aber schon nach ein paar Minuten halten Passanten sie auf und rufen den Notarzt. Kathi hat sehr viel Blut verloren, sie kommt sofort in die Notaufnahme.

Am nächsten Morgen vermerkt die Polizei München in ihrer Pressemitteilung zum vergangenen Tag drei Straftaten: einen Einbruch in eine Großhandelsfirma, eine Brandstiftung in einem Mehrfamilienhaus und einen verhinderten Einbruch in einem Getränkemarkt. Kein Wort von dem allem Anschein nach rechts-motivierten Angriff auf die 19-Jährige.

Gibt es hier kein öffentliches Interesse?

Am 27. August hat Chemnitz Schlagzeilen gemacht: Wegen der Hetzjagden auf Migranten, die dort stattgefunden haben und wegen den Angehörigen der großen Politik, die das Wort Hetzjagden lieber nicht verwenden wollen. Der Angriff auf Kathi passierte genau eine Woche später. Unklar ist, wie groß das Ausmaß der rechten Gewalt in Deutschland ist, gerade auch außerhalb von Chemnitz. Opferberatungsstellen sprechen gegenüber VICE von "einer Dimension, die wir so noch nie erlebt haben". Aber wie viel bekommen wir überhaupt davon mit – und macht die Polizei rechtsmotivierte Straftaten als das öffentlich, was sie sind?

Kathi selbst kann aktuell nicht darüber sprechen, was ihr passiert ist. Körperlich geht es ihr besser, emotional nicht. Aber sie möchte, dass bekannt wird, was passiert ist. Deswegen erzählen ihre Freunde, die sie seitdem besucht haben, unabhängig voneinander ihre Geschichte. Ihre Freundin Anna, mit der sie seit vier Monaten zusammen ist. Und ihr Freund Andreas. Kathi, sagt Andreas, sehe nicht gut aus aktuell: blaue Flecken im Gesicht, eine große Platzwunde am Kopf. Ihr Körper werde wohl keine Schäden zurückbehalten.

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Der Gerichtsmediziner habe gesagt, als Kathi am Boden lag, sei wohl auf sie eingetreten worden. Die Hämatome am ganzen Körper sprechen dafür. Kathi und Anna heißen eigentlich anders. Sie haben darum gebeten, ihren Namen zu verändern: Seit dem Vorfall sagen sie, fühlen sie sich in München unsicher.

Auf Anfrage bestätigt die Polizei München: Ein "Sachverhalt" vom 3. September im Pasinger Stadtpark sei der Behörde bekannt, es würde wegen des Verdachts auf Körperverletzung ermittelt. Der Staatsschutz sei eingeschaltet, es könne jedoch "auch ein nicht staatsschutzrelevanter Ablauf nicht ausgeschlossen werden". Sprich: Vielleicht waren es Nazis, vielleicht nicht.

Wann gibt die Polizei Pressemitteilungen heraus?

Am 5. September erfahren wir aus einer Pressemitteilung der Polizei München, dass ein "wohnsitzloser 33-jähriger Nigerianer" mehrere Hundert Euro aus einer Spielhalle entwendet habe. Am 6. September wird von einem bislang unbekannten Fahrzeuglenker berichtet, der eine Ölspur auf der Fahrbahn hinterlassen habe. Auf dieser Spur sei später ein Vespafahrer ausgerutscht und habe sich leicht verletzt; die Polizei sucht nach Zeugen. Am 9. September wird von einem 19-Jährigen Togolesen berichtet, der, "animiert" durch einen 17-jährigen Münchner, einen 16-Jährigen auf einer Geburtstagsparty ins Gesicht getreten habe.

Über jede dieser Meldungen berichteten Medien. Oft mehrere gleichzeitig. Focus Online hat zu dem 19-jährigen Togolesen gleich zwei Artikel veröffentlicht.

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Im Jahr 2017 sind in München im Schnitt jeden Tag 282 Straftaten von der Polizei aufgenommen worden. Etwa 1.000 Einsätze, so schreibt die Polizei auf ihrer Homepage, haben die Beamten täglich in Stadt und Landkreis München zu bearbeiten. Ungefähr drei bis sechs davon schaffen es für gewöhnlich in die Pressemitteilungen der Polizei. Was in einer Pressemitteilung auftaucht, das gelangt an die Öffentlichkeit; das steht in den Zeitungen und wird in den Kneipen diskutiert.

Nach welchen Kriterien entscheidet die Polizei, was alle wissen sollten?

Das Kriterium, nachdem sie entscheiden, sei die "Öffentlichwirksamkeit des Ereignisses" und das "Informationsbedürfnis der Bevölkerung", antwortet ein Sprecher der Münchner Polizei schriftlich. "Dies ist insbesondere bei Straftaten, die möglicherweise das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung beeinträchtigen, gegeben."

Der Zeitpunkt für eine Berichterstattung würde in erster Linie durch den Ermittlungsstand bestimmt. Dabei sei wichtig, dass die Ermittlungen nicht gefährdet würden. Und: "Gerade bei Sachverhalten mit einer mutmaßlich zu Grunde liegenden politischen Motivation muss selbige zweifelsfrei feststehen."

Das klingt gut: Was nicht bewiesen ist, sollte nicht berichtet werden. Nur: als "bewiesen" gilt in Deutschland eine Straftat erst, wenn ein Gericht die Schuld der Angeklagten festgestellt hat. Die Pressemitteilung der Polizei kommt immer vor der Gerichtsverhandlung, sie berichtet von laufenden Ermittlungen und etwaigen Festnahmen und Zeugenaufrufen.

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Wenn die Münchner Polizei die Nationalität von Tätern kennt, schreibt sie die in ihren Pressemitteilungen dazu: "Dabei spielt eine Rolle, dass dieses Merkmal für die Bevölkerung von großem Interesse ist", erklärten Sprecher der Münchner Polizei Ende 2016 der Münchner Lokalzeitung tz.

Anzeichen dafür, dass eine Straftat einen rechten Hintergrund gehabt haben könnte, schreibt die Polizei dagegen nicht grundsätzlich dazu. Im Gegenteil: Bei politisch motivierter Kriminalität, das schreibt der Pressesprecher in seiner Antwort an VICE, müsse vor der Veröffentlichung erst einmal eine Pressefreigabe durch die Staatsanwaltschaft erfolgen.

Dazu kommt: Was ein "rechter Übergriff" ist, das ist Definitionssache. So hat das Bundesinnenministerium im Jahr 2017 bundesweit 1.054 rechte Straftaten gezählt – die Beratungsstellen für die Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt dagegen allein in Ostdeutschland, Berlin und Schleswig-Holstein 1.200.

Über wie viele davon es Pressemitteilungen gegeben hat, ist unklar. Klar ist: Mit ihren Pressemitteilungen hat die Polizei die Möglichkeit, zu entscheiden, welche Straftaten in den gesellschaftlichen Fokus rücken.

Wenn über die Nationalität eines mutmaßlichen Täters sofort, über mutmaßliche rechtspolitische Motive aber nur zögernd berichtet wird, verzerrt das, was das eigentliche Problem in Deutschland ist – und genau diese "gefühlte Realität" können Populisten und Rechtsradikale dann instrumentalisieren.

Klar ist: Die Straftaten, von denen wir in der Presse lesen, sind nur ein kleiner Ausschnitt der Realität. Welcher Ausschnitt, das liegt in der Macht der Polizei.

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