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Wieso leben in Basel plötzlich so viel mehr Obdachlose?

400 Obdachlose sollen in Basel leben – Tendenz steigend. Wir haben nachgeforscht, wieso.
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Tom Ricklin schlägt sich seit etwa fünf Jahren auf der Strasse durch | Foto vom Autor Ein Typ mit verfilzten Haaren, zerschlissenen Klamotten und Alkfahne, der sein Hab und Gut in Plastiksäcken verstaut. Dieses Bild vom Obdachlosen taucht immer wieder auf, entspricht aber nur teilweise der Realität. Eigentlich ist es eher die Spitze des Eisbergs: Ein Mensch ohne Bleibe von heute muss keineswegs der Clochard vom Bahnhof sein. Er ist dir vielleicht viel ähnlicher, als dir lieb ist.

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Dafür sprechen die jüngsten Entwicklungen in Basel, die dem Verein für Gassenarbeit "Schwarzer Peter" aufgefallen sind. "Rund 400 Leute haben bei uns eine offizielle Meldeadresse", sagt der Geschäftsführer Michel Steiner zu VICE. Das bedeutet eine Zunahme: Im Jahr 2015 waren es noch etwa 350. In den letzten paar Monaten sind die Zahlen wieder stabil geblieben, doch im Rückblick auf die letzten Jahre ist die Tendenz steigend.

Die Angaben, welche dem Schwarzen Peter vorliegen, sind wohl der einzige Anhaltspunkt, um überhaupt die ungefähre Anzahl Wohnungsloser einschätzen zu können—die Behörden führen darüber nicht Buch. Ob vor allem in Basel oder auch schweizweit mehr Menschen auf der Strasse stehen als im Vorjahr, lässt sich auch nicht genau sagen, da es in anderen Städten keine vergleichbaren Erhebungen gibt.

Den Basler Gassenarbeitern fällt dabei auf, dass das Risiko der Obdachlosigkeit längst beim Mittelstand angekommen ist. "Es kommen vermehrt Menschen zu uns, die sich bis vor Kurzem in einer einigermassen stabilen Situation befanden", sagt Michel Steiner. Ob Jobverlust, Trennung, Geldprobleme—Brüche verschiedener Art könnten dazu führen. Falle mal ein Baustein weg, sei das Armutsrisiko noch grösser als noch vor etwa zehn Jahren, auch bei Leuten mit Kindern. "Es könnte langsam aber sicher uns alle treffen", meint der Gassenarbeiter. Oft sei auch eine Sucht im Spiel, doch dies sei bei dieser Zunahme nicht der ausschlaggebende Punkt.

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Essensausgabe im Tageshaus für Obdachlose | Foto vonstiftungsucht.ch

Waren es früher mehr jüngere Leute, die davon betroffen waren, klopften heute Vertreter aus ganz verschiedenen Altersgruppen beim Schwarzen Peter an. Dasselbe gelte für die soziale Herkunft. Auch Leute mit guten Stellen in der Privatwirtschaft, die etwa ein Burnout erlitten, könnten in diese Falle tappen: "Wir hatten sogar schon ehemalige Banker bei uns", sagt Michel Steiner.

All das bestätigt auch Paul Rubin. Er leitet das Tageshaus für Obdachlose in der Nähe des Bahnhof SBB. Dort können sich Menschen ohne Bleibe tagsüber duschen, ihre Kleider waschen, sich verpflegen und der winterlichen Kälte entfliehen. Auch dieses Angebot wird in letzter Zeit öfters von Menschen genutzt, die sich das früher wohl nicht erträumt hätten. Wie Rubin VICE gegenüber erklärt, seien vermehrt Leute mit einem Lehrabschluss, etwa Sanitärinstallateure oder Bodenleger, sowie Leute vom Bau und der Gastronomie im Tageshaus anzutreffen. Leute über 45, die keinen Job mehr finden, seien besonders betroffen.

Nun, weshalb stehen denn mehr Leute auf der Strasse? Die Gründe sind in den Augen von Michel Steiner eindeutig bei der Wohnungsnot zu suchen: "Es gibt eine klare Parallele zwischen diesem Anstieg und dem Absacken der Leerstandsziffer". Momentan sei einfach zu wenig günstiger Wohnraum auf dem Markt. Steiner sieht hier einen Zusammenhang mit der Stadtaufwertung. Dazu reiche schon ein Blick auf Quartiere im Kleinbasel oder das St. Johann: "Wohnhäuser werden zu Apartments oder Airbnb". Wird dann doch mal etwas frei, ist die Konkurrenz gross: Hausbesitzer könnten dann grosszügig filtern. "Hast du Betreibungen am Hals, bist du schon mal weg." Schwierigkeiten hätten auch Sozialhilfeempfänger, mit ihrem Betrag von 700 Franken etwas zu finden—obschon gewisse Vermieter diese als sicherer ansehen als manche unberechenbarere Working Poor.

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Auch Paul Rubin vom Tageshaus für Obdachlose sieht die Gründe vor allem in der Wohnungsknappheit: Wer nicht dem Bild eines Wunschmieters entspreche, habe bei den Bewerbungen schon mal schlechtere Karten: "Überspitzt gesagt, wer zwei fehlende Zähne hat, fällt schon mal raus." Oft sei meistens eine Kombination aus mehreren Gründen ausschlaggebend—so etwa, wenn Arbeitslosigkeit auf ein Suchtproblem oder Wohnungsnot treffe. Das gebe dann einen Teufelskreis: Wer einmal auf der Strasse steht, habe wenig Chancen, sich wieder einzuklinken.

Von all dem kann Tom Ricklin ein Lied singen. Er schlägt sich seit etwa fünf Jahren auf der Strasse durch. Zusammen mit seinem Hund, einem Labradormischling namens Meitschi, steht er oft vor der Migros Drachencenter. Auch er beobachtet auf der Strasse, dass in letzter Zeit mehr Leute aus Wohnungsnot in ähnliche Situationen wie er geraten sind. "Finde heute mal unter diesen Umständen eine zahlbare Wohnung", seufzt er. Er nennt aber auch andere Gründe: In seinem Fall wäre etwa begleitetes Wohnen keine Option—mit Leuten, die Drogen konsumieren und ihn so herunterziehen könnten.

Aufenthaltsraum im Tageshaus für Obdachlose | Foto von stiftungsucht.ch

Solche Angebote habe er stets abgelehnt. "Ich weiss ja schliesslich, wie man wohnt", sagt Tom Ricklin. Viel lieber würde er auf eigenen Füssen stehen—manchmal halt auf der Strasse, wenn es sein muss. Gleichzeitig übt er aber auch Kritik an seinem eigenen Umfeld: "Gewisse Leute sind zum Teil auch selber schuld—etwa wenn sie die Termine nicht einhalten."

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Michel Steiner kennt dieses Problem mancher Obdachloser und spricht vom "Briefkasten-Blues": Manche wollen ihre Post—meist eh nur negative Nachrichten—schon gar nicht mehr aufmachen. Viele sind mit den Formalitäten überfordert, doch nur wenige greifen auf die Unterstützung zurück, die etwa auch der Schwarze Peter bietet.

Eigentlich könnte man nun meinen, dass mit mehr Leuten auf der Strasse die Notschlafstelle der Sozialhilfe an der Alemannengasse proppenvoll sein müsste. Ist sie aber nicht. Dieses Jahr war sie bis Mitte November zu 57.7 Prozent belegt, letztes Jahr zu 68.2 Prozent. Die Zahlen sind immer sehr schwankend, dieses Jahr haben sie abgenommen.

Die Sozialhilfe möchte diese Zahlen nicht interpretieren. Beim Schwarzen Peter gibt's aber eine mögliche Erklärung für diesen Widerspruch: Die "Notschliffi", wie die Notschlafstelle genannt wird, ist nur für eine Minderheit der Obdachlosen eine Option. "Der Grossteil dieser Leute ist nicht gassennah", sagt Michel Steiner. Will heissen: Wenn in einem Viererzimmer der eine Nachbar im Papierkorb nach seinem Stoff sucht, während der andere gerade einen Anfall hat, ist das eine ziemlich stressige Umgebung. "Für viele wäre das ein weiterer Abstieg", erklärt der Gassenarbeiter.

Auch wenn's in einem Bettler-Sketch mit Viktor Giacobbos Figur Fredi Hinz ganz anders klingt: Nur eine Minderheit dieser Leute sucht die Notschlafstelle auf. Nach Schätzungen vom Schwarzen Peter nächtigen rund zehn Prozent entweder dort oder im Männerheim der Heilsarmee. Diejenigen, die unter freiem Himmel nächtigen, machen weitere zehn Prozent aller Obdachlosen aus.

Wo stecken aber alle anderen? "Heute hier, morgen dort", sagt Michel Steiner. Etwa zwei Drittel aller Wohnungslosen hätten meistens ein Dach über dem Kopf: Mal bei einem Kumpel, mal bei einer Freundin oder Verwandten. Vor allem bei jungen Leuten sei das der Fall. Dass somit der grösste Teil der 400 Obdachlosen gar nicht sichtbar ist, mache es aber nicht einfacher: Umso schwieriger sei es, in der Politik für das Thema zu sensibilisieren.

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