Das Leben als Empath – Wie es ist, die Gefühle anderer oder sogar der ganzen Welt zu spüren

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Das Leben als Empath – Wie es ist, die Gefühle anderer oder sogar der ganzen Welt zu spüren

Es gibt Menschen, die behaupten, sie bekommen von weit entfernten Erdbeben Zuckungen, empfinden die Gefühle Anderer oder spüren die Energien der Erde.
Hannah Ewens
London, GB

In jüngeren Jahren hatte die 29-jährige Siobhan aus Las Vegas häufig Schmerzen, die sie sich nicht erklären konnte. Ärzte diagnostizierten Depressionen und Angstzustände. Regelmäßig suchten sie schreckliche Panikattacken heim. Ihre Stimmungsschwankungen waren so extrem, dass ein Arzt dachte, sie habe eine bipolare Störung. Doch Siobhan war sich sicher, dass es mehr als nur eine psychische Krankheit war—es hatte mit anderen Menschen zu tun. "Wenn mir plötzlich der Nacken oder die Schulter wehtat, wusste ich, dass sich jemand gestresst fühlt. Ich hörte mich um, bis mir jemand sagte, dass er sich furchtbar fühlte. Bei meinem Mann wusste ich auch immer, wenn ihn etwas belastete." Aber kann das eine nicht Zufall sein und das andere in einer Beziehung nicht ganz normal?

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Für Siobhan anscheinend nicht. Eines Tages las sie einen Artikel, in dem sie sich wiedererkannte: "31 Eigenschaften, die darauf hinweisen, dass du Empath bist". "Empath" ist ein Wort, das hauptsächlich in New-Age-Kreisen und Science-Fiction-Romanen vorkommt. Gemeint ist damit eine Person, die die Empfindungen Anderer spürt, als seien sie ihre eigenen. "Fast alles traf auf mich zu. Es war schön zu erfahren, dass ich nicht einfach launisch bin, sondern dass es an den Energien anderer Menschen liegt."

Caroline Van Kimmenade bietet Kurse für Empathen an, die ihre Kraft verstehen lernen wollen. Sie vergleicht die Energieübertragung mit einer Erfahrung, die wir alle kennen. "Es ist wie bei einem Fußballspiel, wo alle singen und rufen. Die Masse reißt dich mit und du merkst kaum noch, was du eigentlich machst", erklärt sie. "Dieses Erlebnis können wir alle haben, aber das macht uns nicht alle zu Empathen. Für sie gibt es diesen Effekt noch viel stärker und aus allen Richtungen."

Jeder Artikel zu diesem Thema erwähnt, dass das Gefühl sich von normalem Mitgefühl unterscheidet. Als Empath spürst du angeblich alles so intensiv, als käme es von dir selbst. Wildfremde Menschen sollen sich dazu hinreißen lassen, Persönliches zu erzählen, weil sie unterbewusst spüren, dass der Empath Verständnis für sie haben wird. Das kann ganz schön anstrengend sein.

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Manche Menschen glauben, dass es grobe Empathen-Kategorien gibt. Emotionale Empathen fangen emotionale Energie auf. Bei einem riesigen Schlussverkauf die Wühltische durchzugehen, könnte eine solche Person extrem stressen. Ein physischer Empath soll die körperlichen Leiden Anderer spüren. In einem Krankenhaus könnte so ein Mensch Übelkeit, Kopfschmerzen oder ähnliche Leiden spüren. Tier-Empathen bekämen zum Beispiel in der Nähe eines Zoos ein beengtes, eingesperrtes Gefühl. Globale Empathen spürten die Gefühle der ganzen Menschheit—eine Naturkatastrophe in einem anderen Land könnte ein Gefühl der Angst oder Einsamkeit auslösen. Andere Empathen sagen, sie sind empfindlich für die Energien des Planeten selbst. Wenn ein großes Erdbeben bevorsteht, kriegen sie etwa Muskelzuckungen, Kopfschmerzen oder Stress, der nach dem Ereignis wieder verfliegt. Die meisten Empathen sollen von der emotionalen oder physischen Sorte sein, allerdings soll es auch Mischformen geben.

Bei so vielen potentiellen Auslösern ist die Welt von heute eine Herausforderung für Empathen. Vix Maxwell, 36, arbeitete als Lehrerin in London, als ihr aufging, dass sie Empathin ist. Die Energie der Schule und der Stadt war belastend. "Ich saß im Lehrerzimmer und um mich herum motzten alle nur. Du kannst dich an keinem Gespräch beteiligen, ohne dass dich diese Energie erfasst. Zu Hause war es viel besser, und auch die Energie der Kinder war nicht so schlimm wie die meiner Kollegen. Ich fragte mich, ob ich eine gespaltene Persönlichkeit habe, weil die Unterschiede in meiner Stimmung so extrem waren."

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Sie recherchierte zu dem Thema und lernte von Anderen, die sich als Empathen verstehen, Methoden zum Umgang mit ihrer Umwelt. "Ich saß vor der Arbeit im Auto und visualisierte mich selbst in einer Schutzblase. Dann sagte ich: 'Meine Energie ist geschützt und nichts kann reinkommen, das nicht von mir ist.' Es hat sehr viel bewirkt. Wenn ich im Laufe des Tages zu viele Energien von Anderen mitbekam, ging ich auf die Toilette und sagte 'Ich bin geschützt, ich bin geschützt', und das half wirklich."

Letztendlich musste sie den Job als Lehrerin jedoch aufgeben. "Sobald mir klar wurde, welche Energie meine eigene war und welche Anderen gehörte—und sobald ich meine schützen konnte—, wusste ich auch, was ich wirklich wollte. Ich startete einen Blog über Energie und biete jetzt Tarot-Sessions an." Sie zog außerdem von London in eine ruhigere Gegend. "Die U-Bahn ist wohl der schlimmste Albtraum einer Empathin", lacht sie. "Das war wirklich ein Grund, warum ich wegziehen musste. Ich wiederholte Mantras wie 'Ich bin geschützt'. Wenn ich jetzt noch aus beruflichen Gründen U-Bahn fahren muss, visualisiere ich weißes Licht oder Herzchen über allen Köpfen, um ihnen Liebe zu schicken und sie daran zu erinnern, dass die Menschen alle miteinander verbunden sind. Wir sitzen alle im selben Boot."

Die größte Schwierigkeit ist laut Caroline, herauszufinden, ob du wirklich ein Empath bist oder nicht. "Manche Menschen sind einfach extrem emotional oder haben viel Trauma, das sie bewältigen müssen. Es kann sich schnell so anfühlen, als kämen diese überwältigenden Emotionen nicht aus einem selbst." Sie empfiehlt, darauf zu achten, ob du dich in der Gegenwart einer sehr negativen Person oder eines Menschen mit extremen Ansichten merklich anders fühlst. "Manchmal mache ich energetische Fernheilungen bei Leuten, und wenn ich bei ihnen lauter Energie von anderen Menschen feststelle, weiß ich, dass die Person ein Empath ist."

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Herauszufinden, dass diese Bezeichnung auf sie zutrifft, war für die Empathinnen eine Erleichterung. Endlich konnten sie damit umgehen lernen. "Wer als Empath aufgewachsen ist, hat oft Schwierigkeiten damit, eine eigene Identität aufzubauen. Wer dann meditiert und sich abschirmt [wie Vix mit ihrer Schutzblase], versteht sich selbst und seinen Daseinszweck nach und nach", erklärte Siobhan. "Ich habe keine Stimmungsschwankungen mehr. Ich kann jetzt meine Emotionen und die von anderen unterscheiden. Ich kann richtig spüren, wie Trauer oder Stress sich in ihrer Aura ausbreiten." So wie Vix mit Tarot angefangen hat, können Empathen ihre angebliche Schwäche zu einer Stärke machen. "Ich massiere schon seit meiner Kindheit Menschen, und mein Mann hat meine Massagen immer geliebt", sagt Siobhan. "Also habe ich mich über Reiki [Energieheilung] informiert, und der erste Versuch war unglaublich. Kurze Zeit später habe ich allein mit Visualisieren zweimal Kopfschmerzen geheilt, und seither habe ich noch viel gelernt."

Natürlich fällt dieses ganze Konzept unter die Kategorie der "New-Age-Philosophie". Medizinisch diagnostizieren kann man Empathen nicht, und wenn du einem Psychologen sagst, dass du den Schmerz der Welt spüren kannst, ist er wahrscheinlich eher besorgt. Caroline ist sich darüber im Klaren. "Es gibt viele Menschen in diesem Bereich, die einfach nur leiden und selbst oft psychisch krank sind", sagt sie. Auf ihrer Website macht sie deutlich, dass ihre Empathen-Kurse nicht für psychisch Kranke gedacht ist und sie keine zugelassene Psychotherapeutin ist. Oft verwechseln die Menschen nämlich Empathen mit Psychiatern, so Caroline.

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Als Caroline aufging, dass sie Empathin ist, arbeitete sie gerade an ihrem Doktortitel. Sie machte sich große Sorgen, was das für ihren Ruf bedeuten würde. "Ich hatte eine Heidenangst, als verrückt zu gelten. Als ich einen spirituellen Workshop besuchte und jemand Fotos für die Website schießen wollte, sperrte ich mich im Bad ein, bis sie mir versprachen, dass ich nicht zu sehen sein würde. Ich dachte, mein Interesse an Energieheilung könnte mich beruflich unglaubwürdig machen."

"Ironischerweise half mir meine akademische Ausbildung dabei, mich unter verschiedenen Arten des Heilens zurechtzufinden. Spirituelle Gemeinden sind meist an dem Ende des Skepsis-Spektrums, an dem 'Glaub einfach daran' steht. Oft haben diese Leute kaum Geduld für kritisches Hinterfragen oder eigene Meinungen. Sie werfen einem schnell einen Mangel an Glauben oder Vertrauen vor. Doch mein akademischer Hintergrund erleichterte es mir, kritisch zu sein und Neues auszuprobieren. Ich bin meist die Nervensäge, die Anderen Löcher in den Bauch fragt. Aber nur so kann ich lernen, was ich wissen muss."

Bei aller Skepsis muss ich natürlich einräumen: Nur weil etwas nicht zu einer etablierten westlichen Denkschule gehört, ist es noch lange nicht unwahr. Manche Forscher sind der Meinung, dass jeder fünfte Mensch eine Hochsensible Person (HSP) ist. Hierbei handelt es sich um eine wissenschaftlich anerkannte Diagnose. Allerdings ist HSP kein Persönlichkeitstyp, sondern die Bezeichnung für eine Person mit einem übersensiblen Nervensystem. Abgesehen davon, dass sie sich schnell von Emotionalem überwältigt fühlen und unglaublich viel Empathie besitzen, sind HSP auch empfindlicher für Licht, Klang und Temperaturen. In der Empathen-Community gilt es als gesichert, dass die meisten Empathen HSP sind, doch dass im Gegenzug nicht alle HSP Empathen sind.

Solange es keine wissenschaftliche Diagnose gibt, rät Caroline zu Selbstversuchen. "Meinst du, dass du von Anderen etwas empfängst? Frag sie unauffällig danach, zum Beispiel: 'Hey, du siehst ein bisschen blass aus, geht's dir gut?' Wenn jemand das dann bestätigt, ist das sehr positiv. Es hilft dir, dich selbst ernster zu nehmen. Du bist die Person, die einsehen muss, dass es diese Sache wirklich gibt—oder eben nicht, und dass es doch nur deine eigenen Gefühle sind. Das geht nur mit Feldversuchen. Wenn du deine intuitiven Erkenntnisse verfolgst, wirst du bald sehen, in welchen Bereichen es mehr als nur deine eigenen Gefühle gibt. Als vernünftiger, westlicher Mensch ist es vielleicht schwierig, sich dieser Vorstellung zu öffnen, und viele haben Angst. Aber du brauchst keine Angst mehr zu haben."

Egal, was du ansonsten von Carolines und Siobhans Ratschlägen hältst: Auf unsere eigenen Gefühle und die unserer Mitmenschen zu achten, hat (fast) noch niemandem geschadet.