Gewalt von Geflüchteten: Der VICE-Leitfaden gegen Stammtischparolen
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Mit Rechten reden

Gewalt von Geflüchteten: Der VICE-Leitfaden gegen Stammtischparolen

Eine Gewaltstudie sorgt für neuen Diskussionsbedarf. Wir bereiten dich darauf vor.

Wie gewalttätig sind Geflüchtete und welche Auswirkungen hat das auf Deutschland? Diese Fragen werden in Deutschland seit drei Jahren immer wieder aufgeworfen, egal ob von rechten Blogs, im Wahlkampf oder in Talkshows. Auch die Kriminologen Christian Pfeiffer, Dirk Baier und Sören Kliem haben versucht, sie zu beantworten. "Zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland. Schwerpunkte: Jugendliche und Flüchtlinge als Täter und Opfer" heißt ihre am Mittwoch vorgestellte Studie, die das Bundesfamilienministerium in Auftrag gegeben hat. Dafür haben Pfeiffer, Baier und Kliem die Entwicklung von Gewaltstraftaten am Beispiel von Niedersachsen untersucht.

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"Mehr Gewalt durch Flüchtlinge" titeln jetzt Bayerischer Rundfunk , Deutschlandfunk und die Huffington Post fast gleichlautend zu den Studienergebnissen. AfD-Vertreter wie der rechtsradikale Bundestagsabgeordnete Jens Maier, der in Deutschland eine "Herstellung von Mischvölkern" beobachtet haben will, verbreiten die Studie bereits begeistert.

Doch die Wahrheit ist wieder einmal komplexer. Bevor du jetzt an der Uni, in der Eckkneipe oder beim Familienbesuch darauf hingewiesen wirst, dass jetzt ja endlich alles "bewiesen" wäre mit den "kriminellen Ausländern", haben wir dir die wichtigsten Argumente zusammengetragen, um differenziert zu diskutieren – nicht nur die Studienergebnisse, sondern auch mögliche Lösungsansätze.

Gewalttaten haben zugenommen, aber die Gründe dafür sind kompliziert

Die Zahl der in Niedersachsen als Geflüchtete registrierten Menschen hat sich seit 2015 mehr als verdoppelt, auf 163.468 Personen – insgesamt machen sie zwei Prozent der niedersächsischen Bevölkerung aus. Die Gewaltkriminalität, die seit ihrem Höchststand vor zehn Jahren kontinuierlich gefallen war, hat seit 2014 tatsächlich wieder zugenommen – absolut und relativ. 193.542 Gewaltstraftaten gab es 2016 in Niedersachsen, knapp 13.000 mehr als noch zwei Jahre zuvor. Das entspricht einem Anstieg von über sechs Prozent und dem Niveau von vor fünf Jahren. Deutschland versinkt also nicht im Chaos.

Die Studie hat aber auch zumindest einen großen Fehler: Von der Polizei für aufgeklärt gehaltene Verdachtsfälle bilden das Datenmaterial der Studie. Das heißt, statt ausschließlich um verurteilte Täter geht es hier auch um Tatverdächtige, die Beamte überführt haben wollen – die womöglich aber nicht schuldig sind.

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Gewalt hat nichts mit der Religion zu tun.

Obwohl Statistiken einiges sichtbar machen, so können sie doch nicht alles erfassen. Gerade Erhebungen zur Kriminalität vernachlässigen oft den sogenannten "Soziallagen-Effekt". Geschlecht, Alter, Region, Qualifikation: Alle diese Faktoren spielten eine Rolle, sagt die Bundeszentrale für politische Bildung. Bist du ein junger Mann mit schlechter Qualifikation in einer Großstadt, dann hast du das größte Risiko, straffällig zu werden. Vieles davon trifft mal mehr, mal weniger auf Geflüchtete zu. Was keine Rolle spielt: die Religion. Gerade Menschen, die aus muslimisch geprägten Ländern wie Syrien, Afghanistan, Irak und Iran eingewandert sind, werden seltener straffällig als Menschen aus den ebenfalls muslimisch geprägten nordafrikanischen Ländern. Im letzten Jahr ergab eine Studie im Auftrag der Kölner Polizei aus dem Jahr 2015, dass gerade einmal 0,5 Prozent der Syrer eine Straftat begangen haben.


Auch bei VICE: So leben Geflüchtete in Berlin


Jugend und Männlichkeit sind eine toxische Kombination – nicht nur bei Geflüchteten.

Wenn es in den Medien um kriminelle Geflüchtete geht, sind es oft junge Männer zwischen 14 und 30 Jahren. Das war nicht nur zu Silvester 2015 in Köln so, sondern auch vor Kurzem bei der tödlichen Attacke auf ein Mädchen in Kandel. Junge Männer werden aber auch dann schnell straffällig, wenn sie nicht auf der Flucht sind. In Niedersachsen machte diese Bevölkerungsgruppe 2014, vor der "Flüchtlingskrise", bereits mehr als die Hälfte aller Tatverdächtigen bei Gewaltstraftaten aus – obwohl weniger als zehn Prozent der Bevölkerung junge Männer waren. Bei den Geflüchteten, die 2016 in Niedersachsen lebten, war jeder Vierte ein junger Mann und, wenig überraschend, bei den tatverdächtigen Geflüchteten waren es zwei von drei. Unter den Geflüchteten aus Nordafrika ist sogar die Hälfte männlich und zwischen 14 und 30 Jahre alt. Diese Zusammensetzung wirkt sich auch auf die Gewaltstatistiken aus.

Frauen und Mädchen, die 14 Jahre und älter sind, machen unter den niedersächsischen Geflüchteten nur 22 Prozent aus – weit weniger als die Hälfte. Dabei besäßen Frauen eine "gewaltpräventive, zivilisierende Wirkung", die sie als Mütter, Großmütter, Schwestern, Freundinnen und Töchter auf Männer ausüben würden. Das schreiben Pfeiffer, Baier und Kliem.

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Ein Problem sind auch die Gesetze? Zumindest zum Teil.

Die Studie im Auftrag der Kölner Polizei fand heraus, dass 40 Prozent der Menschen aus Nordafrika hier kriminell werden. Das liegt aber nicht allein daran, dass in dieser Gruppe besonders viele junge Männer sind, sondern vor allem auch an der Perspektive, die die Nordafrikaner hier haben. "Wer als Kriegsflüchtling kommt oder aus anderen Gründen für sich gute Chancen sieht, in Deutschland bleiben zu dürfen, wird bemüht sein, diese Aussichten nicht durch Straftaten zu gefährden", schreiben Pfeiffer, Baier und Kliem in der Studie. Doch fast alle Nordafrikaner, die hier Asyl suchen, werden abgelehnt – und das wird ihnen sehr schnell klar. 2015 wurden überhaupt nur zwei Asylanträge von Menschen aus Marokko, Tunesien und Algerien angenommen. Seitdem steigt zwar die Schutzquote: Mehr Menschen aus diesen Staaten wurden in Deutschland als asylsuchend anerkannt oder dürfen zumindest nicht abgeschoben werden. Allerdings handelt sich noch immer um wenige Hundert.

Nur Deutsche unter den Opfern? Das Gegenteil ist der Fall.

Die Gewalt, die von Geflüchteten ausgeht, trifft in nahezu jedem dritten Fall andere Geflüchtete. Ein weiteres Drittel der Gewaltopfer sind andere Ausländer. Es gibt allerdings erhebliche Unterschiede bei den einzelnen Arten von Gewaltstraftaten: Sieben von zehn Raubopfern und mehr als die Hälfte aller Opfer von Vergewaltigungen und sexueller Nötigung sind Deutsche. Bei den Menschen, die eine gefährliche Körperverletzung durch Gewalttäter als Geflüchtete erleiden mussten, sind hingegen drei Viertel selbst Geflüchtete oder andere Ausländer, unter den Opfern vorsätzlicher Tötungsdelikte sind es sogar 91 Prozent. Die Studienautoren erklären sich die letzten beiden Zahlen damit, dass viele Geflüchtete in Unterkünften auf engem Raum zusammenleben und es kaum Privatsphäre gibt. Stress baut sich hier schneller auf und entlädt sich auch schneller.

Die Dunkelziffer für deutsche Täter ist hoch, denn Geflüchtete werden eher angezeigt.

Pfeiffer, Baier und Kliem schreiben, dass es gerade dann zu Anzeigen kommt, wenn Opfer und Täter unterschiedlichen ethnischen Gruppen angehören: "Offenbar suchen Gewaltopfer häufiger die Unterstützung von Polizei und Rechtsstaat, wenn ihnen der Täter fremd ist und dadurch möglicherweise als besondere Bedrohung erlebt wird." Wenn Deutsche sich untereinander hauen, dann würde das anders geregelt und seltener angezeigt, so die Autoren. Wenn es zu Übergriffen von Deutschen gegenüber Geflüchteten kommt, dann käme es kaum zu Anzeigen. Die Verfasser der Studie schätzen, dass Straftaten von Geflüchteten sogar doppelt so häufig angezeigt werden wie die von Deutschen. Geflüchtete haben mit Behörden oft Probleme, weil die Sprachbarrieren hoch sind oder sie schlicht ihre Rechte nicht kennen.

Die Probleme, die es gibt, lassen sich lösen.

Pfeiffer, Baier und Kliem sehen Möglichkeiten, wie sich die Situation verbessern lässt. Maßnahmen zur Persönlichkeitsentwicklung können helfen, dass etwa junge männliche Geflüchtete nicht aus dem System von Unterstützungen herausfallen, sobald sie volljährig werden: Ihnen soll vorher beigebracht werden, wie man als junger Erwachsener sein Leben eigenverantwortlich organisieren kann. Wenn Familienmitglieder von Geflüchteten leichter nach Deutschland kämen, könnte das ebenfalls die Situation vor Ort befrieden – denn damit würden sich auch mehr Frauen zu den Männern gesellen. Geflüchteten sollte zudem noch früher und noch deutlicher klargemacht werden, unter welchen Umständen sie hier eingebürgert werden können. Das erhöhe die Motivation, sich an Gesetze zu halten, meinen die Studienautoren.

Allerdings: Die Aufenthaltsperspektiven vieler Menschen, die in Deutschland Asyl suchen, sind schlecht. Allein 2017 sind 327.000 Asylbewerber abgelehnt worden, die Hälfte von ihnen wird geduldet und genießt vorerst rechtlichen Schutz vor einer Abschiebung. Die anderen wissen, dass sie gehen müssen, sie wissen nur nicht, wann. 22.190 Abschiebungen gab es im letzten Jahr bis zum November. Pfeiffer, Baier und Kliem plädieren trotzdem für ein Programm, das ausreisewillige Geflüchtete mit Prämien, Mikrokrediten und Fortbildungen dazu bewegen soll, in ihr Ursprungsland zurückzukehren. Und zwar nicht als jemand, der gescheitert ist, sondern als jemand, der sich dort eine Perspektive geschaffen hat.

Update, 04.01.2018, 14:44 Uhr: Wir haben eine frühere Version dieses Textes an zwei Stellen um neuere und zusätzliche Zahlen zu Asylanträgen und Duldungen ergänzt, um ein vollständigeres Bild der Situation zu vermitteln. Mit Dank an ProAsyl für den Hinweis.

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