Ich habe eine Woche lang Kleidung aus ersteigerten Koffern getragen
Fotos, sofern nicht anders angegeben: Hanko Ye

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Mode

Ich habe eine Woche lang Kleidung aus ersteigerten Koffern getragen

"Eigentlich kann man jeden Müll als 'hip' verkaufen – aber bei Malle-Neon ist der Zug einfach abgefahren", sagt einer meiner Kollegen.

Wenn ein berühmter Mensch stirbt, wird so ziemlich alles, was er nicht mit ins Grab nehmen konnte, für viel Geld versteigert: Ein verfaulter Backenzahn von John Lennon ging für 23.000 Pfund an einen Zahnarzt (der den Beatle mit der darin enthaltenen DNA klonen wollte). 2012 bot jemand für Elvis Presleys Unterhose inklusive Bremsspuren 5.000 Pfund. Weil das Auktionshaus 11.000 wollte, wurde der Schlüpfer am Ende doch nicht verkauft. Zum Glück sind die dreckigen Unterhosen toter Fluggesellschaften günstiger: Bei einer Fundsachen-Versteigerung der insolventen Air Berlin wurden Ende Oktober vergessene Rollatoren, PlayStations und Kameras verkauft – und ich habe vier Koffer wildfremder Menschen ersteigert.

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Statistisch gesehen sind die meisten Airlines ziemlich zuverlässige Gepäckträger: Auf 1.000 Passagiere kamen 2016 gerade einmal 5,73 verlorene Gepäckstücke. Aber manchmal kommt es eben doch vor, dass Koffer verschwinden – und manchmal verlieren die Passagiere ihre Sachen selbst. Die Fundsachen aus Flugzeugen treten danach selbst eine kleine Reise an: Auf die Nachfrage eines Kunden hin erklärte Air Berlin, erster Ansprechpartner sei das Fundbüro des Flughafens – ab dem 20. Kalendertag des Folgemonats werden die Fundsachen ins Lager eines externen Dienstleister gebracht. Dieser schreibt auf seiner Website, er habe eine dreimonatige Aufbewahrungsfrist. Anschließend werden die Fundsachen zur Versteigerung freigegeben und landen in Auktionshäusern – wie die Koffer, die ich ersteigere.
Um herauszufinden, ob das vergessene Gepäck das Produkt einer gleichgültigen Konsumgesellschaft ist oder nur ein weiteres Opfer schusseliger Berliner Flughäfen, will ich mir einige der Koffer anschauen – und die Klamotten im Sinne besonders investigativer Recherche eine Woche lang tragen. Mit 150 Euro in der Tasche mache ich mich auf den Weg zur Versteigerung in Berlin-Wilmersdorf.

Die Auktion war besser besucht als so mancher Air Berlin-Flug

Als unser Fotograf und ich die Räume des Auktionshauses betreten, drängen sich bereits rund 50 Leute durch den Flur der Büros im ersten Stock. Die Luft ist stickig. Eine kleine Frau mit russischem Akzent verteilt Bieternummern auf blauen Karteikarten. Der graue Teppichboden sieht ein bisschen aus wie Presleys Unterhose. Völlig unterschiedliche Menschen wollen an diesem Mittwoch noch einmal in Air Berlin investieren: ein Prenzlauer-Berg-Papi mit seinem geduldigen Fünfjährigen, zwei aufgeregte junge Frauen, die zum ersten Mal mitbieten, ein Haufen Männer, Typ Gebrauchtwagenhändler, mit gegeltem Resthaar und Drogerie-Parfum.

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Die "Gebrauchtwarenhändler" heben fachkundig das auf Tischen gestapelte Gepäck in die Höhe und scannen mit Laseraugen die Funktionstüchtigkeit der ausgeschalteten iPhones in den Vitrinen. Ich dagegen habe keine Ahnung, was ich tue. Ich greife einfach nach dem klischeehaftesten Mädchen-Koffer, weil ich darin noch die tragbarste Mode vermute. Unser Fotograf hebt die Augenbraue und fragt: "Willst du die Klamotten einer Zwölfjährigen tragen?" Ich bin verunsichert. Als ich sehe, wie die anderen sich die Koffer-Nummern auf eine Liste schreiben, suche ich nach Adress-Schildern, die mir etwas über die Identität der früheren Besitzer verraten. Dann geht die Auktion los, und voller Euphorie (und Panik darüber nichts abzubekommen) gebe ich mein Geld gleich für die ersten vier der 69 angebotenen Koffer aus.

Meine Koffer-Ausbeute: vier Haufen schmutziger Wäsche

Zurück in der Redaktion finde ich: abgestandenen Geruch, zwei ausgelaufene Duschgele und mehrere Haufen schmutziger Männer-Klamotten. Den Vorabend des Experiments verbringe ich im Waschraum.

Tag 1

Der einstige Besitzer trug das Shirt wohl im Biergarten, ich nur im Garten der Redaktion | Foto: Grey Hutton

Es gibt wenige Kleidungsstücke, die so laut und ausdrucksstark "MALLLEEE!" grölen wie das "Bierkönig"-T-Shirt in meinem ersten Koffer. Es sieht aus wie die textile Visitenkarte des Arche-Typen des Ballermann-Besuchers: sonnenverbrannt, mit Bierbauch, leidenschaftlicher Schalke-Fan, ab dem zweiten Urlaubstag nur noch mit T-Shirt im Meer. In meiner Fantasie führt er am letzten Urlaubsabend sein Trophäen-T-Shirt ein letztes Mal freudestrahlend im Megapark aus. Beim Rückflug am nächsten Morgen grölt er am Check-In-Schalter "Timo Werner ist ein Hurensohn" und bei der Landung in Berlin ist er noch immer so voll, dass er den Koffer mit seinen farbenfrohen Schätzen im Handgepäckfach liegen lässt.

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Das Bierkönig-XXL-Shirt ist der Royal unter den modischen Fehltritten und verdient es, die Aus-dem-Koffer-Woche zu eröffnen. "Trägst du ein Bierkönig-T-Shirt?", ruft der Fotograf, als ich an seinem Schreibtisch vorbeilaufe und findet es wahnsinnig lustig. Ich bin schon einen Schritt weiter und merke, dass der einzige Unterschied zwischen mir und den ironischen Klamotten der anderen Berliner Hipster der Schriftzug "Sommer 2017" ist. Für den Rest des Tages beantworte ich jede Frage zu meinem T-Shirt mit einer lässigen Handbewegung und einem gelangweilten "Vintage!".

Tag 2

Ich, wie ich noch vor dem Mittagessen Nachos esse

Wenn Holden Caulfield in Der Fänger im Roggen nicht mit dem Zug nach New York, sondern mit dem Flieger nach Berlin gereist wäre, hätte er seine Habseligkeiten in den Koffer des zweiten Tages gepackt. Ich packe aus: rote Baseballcaps, blaue T-Shirts, blaue Hemden und blaue Hosen. Müsste ich die Garderobe von Koffer-Caulfield einem Milieu zuordnen, ich würde irgendwo zwischen Südstaaten-White-Trash und Kreuzberger Shabby Chic landen. Seine Holzfällerhemden aber lassen mich an einen groß gewachsenen, blonden Kanadier denken, der sein Kanu in seiner Hütte verstaut hat, um zum ersten Mal durch Europa zu reisen. Das T-Shirt mit dem verwaschenen Doritos-Schriftzug auf der Brust und dem American Apparel-Etikett im Nacken – das Hipster-Stück schlechthin – werde ich behalten, beschließe ich.

Auch meine Mitmenschen haben mittlerweile mitgekriegt, dass ich wieder beschissene Klamotten für einen Artikel trage. Hier ist das Worst of ihrer Reaktionen:

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"Du siehst aus wie Naddel, wenn sie undercover unterwegs ist" (unser Managing Editor)
"Wie viele Computer hackst du heute?" (der Typ, den ich date)
"Texanischer Trucker auf der Route 66" (unser Praktikant)
"Wie diese Headset-Träger, die am Filmset dafür sorgen, dass alle rechtzeitig auf ihren Plätzen sind" (unser Redakteur)
"In den Neunzigern sahen die coolen Mädchen so aus" (meine Chefin)
"Mit dem Hemd und der Mütze siehst du aus, als würdest du einen Baum fällen und mich damit verprügeln, weil du so unfassbar stark bist" (der Social Media Manager)
"Na, Redneck?" (ein zweiter Redakteur, der jedes Mal geräuschvoll in einen imaginären Eimer spuckt, wenn er die Frage stellt)

Tag 3

Der Pullover sieht erstmal nicht besonders aus, warf aber eine wichtige Frage auf

Der ehemalige Besitzer des dritten Koffers spricht Russisch, das erkenne ich an der Beschriftung seines Roll-Deos. Doch was machen der puderfarbene Frauen-Morgenmantel und die Kosmetiktasche mit dem Damenparfum zwischen seinen schmutzigen Unterhosen? "Vielleicht trägt er einfach gerne Frauendüfte?", wirft ein Kollege ein, als wir den Koffer auspacken. Ich wünsche es dem unbekannten Russen. Meinem Freund würde ich jedenfalls nicht raten, einen Koffer mit meiner Kosmetik drin zu verlieren.

Als ich abends statt auf der Party eines Freundes krank und mit entzündeten Mandeln vor meinem leeren Kühlschrank stehe, bemerke ich, dass ein lustiger Designer ein winziges Täschchen in der Größe eines halben Post-Its in die Innenseite des Pullovers hat nähen lassen. Wenn ihr wisst, was man dort außer Drogen hineinstecken soll, lasst es mich bitte wissen – ich kann seitdem nicht mehr ruhig schlafen.

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Tag 4

Selbst an meinem kranken Wochenende ließen mich die Koffer nicht im Stich | Foto der Autorin

Ich ziehe mein Projekt tapfer durch – auch wenn meine Mandeln mir den Hals volleitern und ich eigentlich krank bin, was bedeutet, dass ich mich im Morgenmantel einer mir unbekannten Frau daheim im Bett herumrollen muss. Das einzige weibliche Kleidungsstück aus den vier Koffern riecht selbst nach 60 Minuten Kochwäsche noch nach fremdem Gepäck, aber immerhin saugt der Polyester-Stoff meinen Fieber-Schweiß ganz gut auf.

Tag 5

In Kombination mit dem sonnenverbrannten Teint seines einstiges Trägers muss der grüne Hoodie großartig ausgesehen haben | Foto: Anne Tschischka

Wenn andere Frauen krank sind, tragen sie den Pulli ihres Freundes. Ich trage den Schlecht-Wetter-Hoodie eines fremden Ballermann-Touristen. Und tatsächlich: Nachdem ich drei Tage lang stoisch Party-Einladungen ignoriert und mir mindestens drei Liter Ingwer-Tee eingeflößt habe, fühle ich mich wieder so lebendig wie mein blonder Mallorca-Freund nach dem Ausnüchtern. Zu seinen Ehren trage ich den prachtvollen Puma-Pullover an die Gemüse-Auslage meines Bahnhof-Supermarkts und verschmelze farblich mit dem Lauch.

Tag 6

In dem Outfit könnte ich sicher auch Golfkarren durch die Gegend fahren

Der vorletzte Tag des Experiments bricht an. Das himmelblaue Polo-Shirt und die marineblaue Jacke mögen auf den ersten Blick tragbar wirken. Doch als ich am Morgen mein Haar im Sleek-Look streng zusammenbinde, erkenne ich in meinem Spiegelbild als Erstes einen Nipster (Nazi-Hipster). Vorsichtshalber ziehe ich meine Dr. Martens wieder aus. "Ich finde, du siehst aus wie eine McDonald's-Mitarbeiterin", sagt ein Kollege und lenkt mich immerhin von meiner politischen Textil-Krise ab.

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Wirklich viel Auswahl hatte ich bei diesem Koffer nicht: Neben dem Shirt und der Jacke hatte dieser Typ – ich stelle ihn mir ziemlich jung und gutaussehend vor – genau zwei Paar Socken, zwei Unterhosen, ein weißes Hemd und eine beigefarbene Hose eingepackt. Ob das der Grund war, dass der Besitzer seinen Koffer einfach aufgab? Ich nehme mir vor, es herausfinden.

Tag 7

Das schönste Teil habe ich mir für den letzten Tag aufgehoben

Eigentlich müsste ich mich freuen: Die Woche ist fast vorbei und ich musste nur ein einziges Mal mit gesenktem Blick durch die Gegend laufen, weil ich mich für ein Outfit wirklich schämte. Das mit Abstand schlimmste Kleidungsstück habe ich mir allerdings fürs große Finale aufgespart. Ich trage ein pinkfarbenes Top mit Krone drauf und der Aufschrift "Mia Julia Ultras". Machen wir uns nichts vor: Wir wissen alle, aus welchem Koffer ich das gezogen habe.

Ich betrete die Redaktion mit zusammengepressten Lippen. Ein Kollege muntert mich auf: "Es ist sicher nicht so schlimm." Dann ziehe ich den Mantel aus, und er sagt: "Oh." Ein anderer Kollege findet dann doch noch die passenden Worte: "Man kann so ziemlich jeden Müll als 'hip' oder 'used' verkaufen, aber bei Malle-Neon ist der Zug einfach abgefahren.” Dann fügt er hinzu: "Das Bierkönig-Shirt vom ersten Tag würde ich nach deinem Experiment trotzdem gerne haben."

Dann ist mein Experiment vorbei. Und ich finde eine Möglichkeit, zumindest einen der Besitzer noch zu kontaktieren:

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Auch bei VICE: Big Night Out: Ibiza


Im Außenfach des vierten Gepäckstücks hatte ich beim Auspacken eine Hotelrechnung mit einem schwedischen Männernamen darauf entdeckt. Nachdem ich bei Facebook fünf Männer mit dem gleichen Namen angeschrieben habe, erhalte ich tatsächlich eine Antwort – von Ulf, dem Mann, der seinen Koffer auf dem Weg von Stockholm nach Berlin an Bord einer Air Berlin-Maschine vergessen hatte.

Laut seinem Profil ist Ulf älter als ich ihn mir vorgestellt hatte – etwa Anfang 50 – hat drei Kinder, eine Frau und fährt gerne Rennrad. Er schreibt mir, wie er nach seinem Flug im letzten Jahr zweimal am Flughafen-Schalter nach seinem verlorenen Gepäck gefragt und mit Air Berlin telefoniert habe – ohne Ergebnis.

Ich rufe bei Air Berlin an. Dort erklärt man mir, dass für die Organisation der Koffer ein externer Dienstleister verantwortlich ist: Aeroground, eine Tochterfirma des Flughafen München. Seit Ende März arbeitet Air Berlin in Tegel mit Aeroground zusammen, in Medienberichten hieß es, es fehle der Firma an Mitarbeitern. Das Resultat: massenweise verloren gegangene Gepäckstücke und verspätete Flüge. Im Sommer hatten sich Air Berlin und Aeroground gegenseitig die Schuld für die schlechte Organisation zugeschoben. Als ich bei der Firma anrufe, will man sich zurückmelden. Dann, kurz vor Deadline des Textes, sagt ein Mitarbeiter der Muttergesellschaft der Firma, es sei doch Air Berlin zuständig. Mich wundert nun koffertechnisch nichts mehr.

Ulf weiß inzwischen, dass sein Gepäck für immer verloren ist. Als ich ihm schreibe, dass der Koffer bei mir ist, will er ihn verrückterweise nicht einmal zurück: "Ich freue mich über die lustige Geschichte, viel Spaß mit meinen Sachen!" Ulfs Jacke behalte ich tatsächlich. Weil ich eine Jacke für laue Sommernächte brauche. Und weil es jetzt mein ganz persönliches Air-Berlin-Souvenir ist. Vielleicht kann ich es ja irgendwann für viel Geld versteigern.

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