Küstenwache
Die libyschen Coast Guards am 6. November 2017 || Still aus den Aufnahmen von Lisa Hoffmann | Sea-Watch, mit freundlicher Genehmigung

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Flüchtlingspolitik

Tod im Mittelmeer: Diese fragwürdigen Typen halten der EU Geflüchtete vom Hals

Im Herbst 2017 greift die libysche Küstenwache Ertrinkende und Seenotretter an, ein Video des Vorfalls sorgt international für Aufsehen. VICE hat mit den libyschen Seeleuten gesprochen.

Als die Ertrinkenden versuchen, sich mit letzter Kraft auf das Schiff zu retten, guckt Ibrahim auf sein iPhone. Mit ernster Miene steht er an der Reling und filmt, wie ein Schlauchboot vor ihm im Meer versinkt. Wie Geflüchtete über Köpfe und Körper hinweg klettern, sich retten wollen und doch wieder zurück ins Wasser fallen.

Das weiße Gummiboot, das sie nach Europa bringen sollte, kentert schon 30 Seemeilen vor der libyschen Hauptstadt Tripolis. Mindestens 20 sterben am 6. November 2017. Geflüchtete, deren Hoffnung auf ein besseres Leben auf den Grund des Mittelmeers sinkt.

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Was in diesen Stunden auf offener See passiert, filmt die Crew des anrückenden Rettungsschiffes Sea-Watch 3. Die New York Times hat die Ereignisse in einem 15-minütigen Kurzfilm aufgearbeitet, eine Katastrophe im Schnelldurchlauf. Nachdem ich mir "It’s an Act of Murder" angeschaut habe, sitze ich fassungslos vor dem Laptop.

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Das Verhalten der libyschen Küstenwache, deren eigentliche Aufgabe es ist, die Ertrinkenden aus dem Wasser zu ziehen, macht mich rasend. Wie die Libyer mit einem alten Militärschiff, das für die Rettung von Menschen völlig ungeeignet ist, auf das Gummiboot zusteuern. Wie sie Geflüchtete mit einem Tau schlagen und die Seenotretter attackieren.

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Die Libysche Küstenwache macht unmissverständlich klar, wer auf dem Meer das Sagen hat

Weil mich die Videoaufnahmen nicht loslassen, klemme ich mich hinter meinen Rechner. Einen Monat später bin ich mit achtzehn Personen auf Facebook befreundet, die ich der Besatzung des Schiffs der libyschen Küstenwache oder ihrem Umfeld zuordne.

Mit "Ibrahim", der nicht nur am 6. November das Handy drauf hält. Auf seinem Facebook-Profil lädt er Bilder ertrunkener Kinder hoch.

Mit "Aziz", der die Seenotretter angriff und mir eine absurde Ausrede für sein Verhalten auftischen will.

Und mit "Ahmed", der in einem Post den Terror des Islamischen Staates in Paris feiert.

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Wir haben uns entschieden, die Nachnamen der Coast Guards für diese Geschichte zu anonymisieren, damit ihre Facebook-Profile nicht direkt zurückverfolgt werden können. Die Gesichter der Personen, die eindeutig auf den bereits veröffentlichten Aufnahmen der "Sea-Watch" zu erkennen sind, zeigen wir unverpixelt.

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Um zu verstehen, was die Coast Guards am 6. November geritten hat, treffe ich einen Augenzeugen in Berlin. Johannes Bayer ist Vorsitzender von Sea-Watch. Einer Initiative, die mit gecharterten Schiffen und Flugzeugen Rettungsmissionen im Mittelmeer startet.

An jenem Tag im November ist Bayer Einsatzleiter der Sea-Watch-3, die fast zum selben Zeitpunkt wie die Küstenwache an der Unfallstelle eintrifft. Seine Wut über das Verhalten der Küstenwache ist auch mehr als ein Jahr später nicht abgeklungen.

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Als Bayer und seine Mannschaft am Tatort eintreffen, sei ihnen klar gewesen, dass die Rettungsaktion nicht gut ausgehen wird: "Wenn bei unserer Ankunft schon Menschen im Wasser sind, werden auch Menschen sterben."

Die Sea-Watch-Crew rettet, was noch zu retten ist. Sie ziehen Ertrinkende aus dem Wasser, von denen nicht mehr als ein paar gespreizte Finger aus dem Wasser hervorgucken.

Der Film der New York Times, für den die Zeitung auch die Aufnahmen der Sea-Watch 3 verwendet hat

Die libysche Küstenwache hilft nicht, im Gegenteil: Die Coast Guards schauen erst unbeteiligt zu, wie die Menschen aus dem Wasser auf ihr Schiff klettern, dann sabotieren sie die Arbeit der Seenotretter. Sie fordern die Crew der Sea-Watch auf, sich zu entfernen. Per Funk droht einer von ihnen: "Wenn ihr hier herkommt, töte ich euch". Um zu zeigen, wie ernst es ihnen ist, werfen die Libyer mit Kartoffeln und allem, was sie sonst noch in die Finger kriegen. Ein Rettungsring fliegt. In Richtung der Seenotretter, nicht der Ertrinkenden.

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Wer macht so was?

Ich starte meine Suche nach den Männer in den blauen Uniformen auf der offiziellen Facebookseite der libyschen Küstenwache, werte Likes und Kommentare aus. Vergleiche die Videoaufnahmen von Sea-Watch mit den Profilbildern verdächtiger Nutzer und scanne ihre Timeline. Ein Dolmetscher übersetzt mir alle Beiträge, Nachrichtenverläufe und Kommentare aus dem Arabischen.

Ich stoße auf das Profil eines "Aziz T.". Auf seinem Titelbild ist das Heck eines Motorboots zu sehen, die Flagge der libyschen Küstenwache zappelt im Wind. Nachdem Aziz mich als Freund bestätigt, postet er mir eine mehrstöckige Torte auf die Pinnwand. Aziz erzählt mir, am 6. November 2017 an Bord des Patrouillenbootes Nummer 648 gewesen zu sein.

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Als Beweis, dass Aziz T. ein "stolzer Coast Guard" ist, schickt er mir dieses Foto

Als Beweis schickt er mir ein Foto aus dem Statement der Küstenwache zum 6. November 2017: Mit seinem langen Haar und der schwarzen Kappe steht der Coast Guard an Bug des Bootes. Patrouillenboot 648 läuft am Ende des Einsatzes in den Hafen von Tripolis ein.

Auf den Aufnahmen von Sea-Watch erkenne ich Aziz wieder. Er trägt dieselbe schwarze Cap und wirft mit voller Wucht Kartoffeln auf die Seenotretter.

Auf den Aufnahmen von Sea-Watch erkenne ich Aziz wieder. Er trägt dieselbe schwarze Cap und wirft mit voller Wucht Kartoffeln auf die Seenotretter. Im Chat behauptet Aziz, Sea-Watch trage die die Verantwortung für den Tod der Geflüchteten. Er und seine Kollegen hätten schon die meisten Menschen aus dem Wasser gezogen, als die Sea-Watch-3 erschien: "Die Migranten sind zurück ins Meer gesprungen, damit sie nach Italien gebracht werden."

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Die Aufnahmen von Bord der Sea-Watch 3 und ihrer Crew-Mitglieder im Video

Doch die Sea-Watch-Bilder zeigen, dass Dutzende Geflüchtete noch auf den Gummibootresten im Meer sitzen, als das Rettungsschiff dazustößt. Und das Schiff der Küstenwache zuvor mitten in das Menschenknäuel im Wasser steuert. Aziz schwört "bei Gott", dass er nur "gute Arbeit" leiste.

Als ich wissen will, ob zur guten Arbeit auch das Schmeißen von Kartoffeln gehöre, erklärt Aziz, er habe die Crew der Sea-Watch auf Ertrinkende hinweisen wollen. Das Gespräch nimmt eine unangenehme Wendung. Aziz meint, dass ich ihm "auf den Sack" gehe und beendet das Gespräch. Zu diesem Zeitpunkt schreibe ich bereits mit mehreren von Aziz‘ Kollegen.

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Aziz T. (im roten T-Shirt) bewirft die Seenotretter mit kugelförmigen Gegenständen

Einer von ihnen, "Moner T.", kauft mir mein journalistisches Interesse an der Küstenwache nicht ab. Im Facebook-Chat droht er mir unverhohlen: "Wenn du ein Teil von Sea-Watch bist, werden wir euch ohne Gnade mit Waffen begegnen, falls ihr nochmal nach Libyen kommt."

Ebenso leicht scheint auch "Ahmed S." die Fassung zu verlieren. Am 6. November 2017 fuchtelt er wild mit den Armen herum, um die Crew der Sea-Watch zu vertreiben. Dabei trägt er Jogginghose und Flip-Flops.

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Links: Coast Guard auf dem Patrouillenboot 648, rechts: IS-Sympathisant Ahmed S. auf Facebook

Auf Facebook begegnet mir die hohe Stirn und die spitze Nase wieder. Zwei Tage nach den islamistischen Anschlägen in Paris im November 2015, bei denen Terroristen 137 Menschen töteten, hat Ahmed ein Bild der Trikolore gepostet.

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Nach Trauern war ihm angesichts der hohen Opferzahlen nicht zu Mute. "Fuck Paris" steht auf der Flagge. Mehrmals hat er Hitler-Memes mit kruden Sprüchen geteilt. Wie ist es möglich, dass Ahmed, der in aller Öffentlichkeit einen Terroranschlag im Herzen Europas glorifiziert, im Auftrag der Europäischen Union arbeitet?

Ahmed selbst antwortet mir nicht. Deshalb frage ich in Rom nach, dem Sitz der "European Union Naval Force – Mediterranean", der Operation "Sophia". Pressesprecher Antonello de Renzis Sonnino möchte mir "versichern", dass "kriminelle Aktivitäten" und "Fehlverhalten" der libyschen Küstenwache sehr ernst genommen und auf keinen Fall toleriert würden.

Berichte über unangemessenes Verhalten will man den libyschen Partnern weiterleiten, damit der "Fall untersucht" und "gegebenenfalls weitere Schritte" unternommen werden können. Bis zur Veröffentlichung dieses Artikels ist die Schmähung der Terroropfer auf Ahmeds Facebook-Account zu lesen.

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Das Profil von "Ibrahim S." ist ebenfalls öffentlich einsehbar. Bei dem Nutzer, der laut Facebook 26 Jahre alt ist, handelt es sich allem Anschein nach um den Coast Guard, der die Ertrinkenden mit einem iPhone filmte. Auf seinem Profilbild präsentiert sich Ibrahim mit Sakko und Einstecktuch. Neben Designerklamotten interessiert er sich für schnelle Autos.

Mal steht Ibrahim in glänzenden Lackschuhen vor einem weißen BMW. Mal filmt er die Rücklichter eines Mercedes C63, der mit quietschenden Reifen davonheizt.

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Fotovergleich: Coast Guard bei der Arbeit und Ibrahim S. privat auf Facebook

Ich zeige Johannes Bayer von Sea-Watch die Profile meiner neuen Freunde. Bayer hat eine Theorie, warum Ibrahim so einen luxuriösen Lebensstil führt: "Ich könnte mir vorstellen, dass die Typen den Clans angehören. Vereinfacht gesagt: Wer in Libyen Geld hat, der besitzt Öl, schmuggelt oder bekommt Geld von der EU."

Viel mehr als "Verpisst euch" oder "Wir erschießen euch" könnten die auf Englisch nicht sagen, sagt Johannes Bayer über den Funkkontakt mit den libyschen Coast Guards

Von Angesicht zu Angesicht kennen sich der Vorsitzende von Sea-Watch und Ibrahim, der sich auf Instagram zudem als "Kapitän der libyschen Marine" ausgibt, nicht. Kontakt habe Bayer nur ab und zu per Funk: Viel mehr als "Verpisst euch" oder "Wir erschießen euch" könnten die auf Englisch nicht sagen.

Ihre Bilder auf Facebook sprechen jedoch eine klare Sprache. Auf einem sitzt Ibrahim, Achtung Überraschung, am Steuer eines Autos und hält den Lauf einer Pistole in die Kamera. Die Kugel im Lauf sei für "das Auge der Neider", schreibt er dazu.

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Mit Waffen kennt sich Ibrahim aus: Im Jahr 2015 herrscht in seiner Welt Krieg. Milizen kämpfen um seine Heimatstadt Tripolis. Der damals 22-Jährige hockt vor einem kleinen Waffenarsenal. Das Gesicht wirkt kindlich, der Blick verträumt. Ibrahim hält eine AK47 in der Hand, vier weitere Kalaschnikows lehnen in seinem Rücken an der Wand.

"Der libysche Soldat wird nicht erniedrigt", diesen Schlachtruf stimmen Ibrahims Kameraden in einem Video in seiner Timeline an. Wie immer ist er mit der Handykamera dabei. Der Tod ist im Leben der Coast Guards nicht nur durch ihre Arbeit auf dem Meer präsent. In unzähligen Beiträgen betrauern sie "gefallene Märtyrer", denen sie "Gottes Segen" wünschen.

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Der Sea-Watch-Vorsitzende Bayer scheint sich bestätigt zu fühlen, als wir uns gemeinsam durch die Facebook-Chroniken klicken: "Das sind Miliz-Kämpfer, die brutale Kriege geführt haben und keine Seenotretter." Das sehe man an den Militäruniformen, die die Besatzung der Küstenwache auch an Bord trage.

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"Der libysche Soldat wird nicht erniedrigt."

Bei all den teuren Autos, den Waffen und der Verehrung von Cristiano Ronaldo vergesse ich fast, dass Ibrahim ja noch ein zweites Leben hat: die Arbeit auf dem Mittelmeer. Keine acht Monate nach dem Zusammenstoß mit der Sea-Watch 3 und dem sinkenden Schleuserboot gedenkt Ibrahim zwei toten Kleinkindern.

Sie liegen auf dem Rücken, gebettet auf eine blaue Plane. "Danke an jede Person, die dazu beigetragen hat, dass sie gestorben sind. Danke an jeden, der mit ihnen gehandelt hat", schreibt Ibrahim dazu. Das "Danke" ist offensichtlich sarkastisch gemeint.

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Ein Freund kommentiert: "Gott sei mit ihnen", ein anderer: "Die Schuld liegt am Hals ihrer Eltern und der Schleuser". Hemmungen, Fotos verstorbener Menschen zu veröffentlichen, haben viele Coast Guards nicht.

Selbst die offizielle Seite der Küstenwache verbreitet Bilder von Leichen, die nur schwer zu ertragen sind. Von toten Menschen, die am Strand angespült werden und den Hafen in weißen Leichensäcken verlassen. Ihre Bäuche sind aufgeschwemmt, die Augen verquollen. Die Gesichtshaut löst sich nach Stunden und Tagen im Meer.

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Kann es sein, dass der tägliche Überlebenskampf der Geflüchteten Ibrahim näher geht, als es die Videoaufnahmen vom 6. November 2017 vermuten lassen? Laut UNO-Flüchtlingshilfe starben im letzten Jahr jeden Tag sechs Menschen im Mittelmeer. Exakt ist diese Zahl nicht. Manche Schlauchboote gehen einfach unter, bevor sie jemand bemerkt. Ihre Insassen verschwinden spurlos, auch in der Statistik.

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Ich will mit dem Auswärtigen Amt über die Ergebnisse meine Recherche sprechen. Ein Gespräch über die libysche Küstenwache könne mir das Außenministerium derzeit nicht anbieten.

Ibrahim und ich sind auf Facebook befreundet, aber auf Nachrichten reagiert er nicht. Durch Ibrahims Freundesliste stoße ich auf weitere Mitglieder der Schiffsbesatzung. Zum Beispiel "Melad E.". Ein drahtiger Glatzkopf mit dichtem Bartwuchs. Am 6. November steht auch er auf der Reling. Das erkenne ich auf den Videoaufnahmen von Sea-Watch.

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Ahmed (l.), Ibrahim (2.v.r.) und Melad (r.) auf den Videos von Sea Watch

Aus Melads Markierungen lässt sich ablesen, dass er die italienische Militärbasis "Mariscuola Taranto" besucht hat. 325 Mitglieder der Küstenwache und Marine, diese Zahl nennt mir de Renzis Sonnino, wurden seit Beginn der "Operation Sophia" von der EU geschult. Männer wie Melad sollen in unser aller Namen den Schleusernetzwerken das Handwerk legen.

Denn Libyen liegt nur 300 Kilometer von der italienischen Insel Lampedusa entfernt. Es ist das Transitland für all jene, die vor Armut oder politischer Verfolgung aus der Subsahara fliehen. Über Hunderttausend Afrikaner und Afrikanerinnen sollen sich derzeit in dem failed State aufhalten. Eine staatliche Ordnung gibt es seit dem Sturz von Diktator Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 nicht.

Wer es nicht nach Europa schafft, aber überlebt, dem drohen die libyschen Internierungslager. Wo Menschen mit brennenden Stäben gefoltert werden, während die Wärter mit ihren Eltern telefonieren und über Lösegeld verhandeln.

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Wenn ich die Lager anspreche, blocken die meisten Coast Guards ab. Ihr Arbeitsplatz sei das Meer. Dafür zu sorgen, dass die Schlepper und ihre Kunden libysche Hoheitsgewässer niemals verlassen. Nachhilfe bekommt die Küstenwache dabei aus Europa. "The last day of Cours skill and knowledge", schreibt Melad auf Englisch auf Facebook – über ein Bild, das ihn bei einer EU-Schulung zeigt. Auch die Küstenwache hat Bilder von Melads Schulung hochgeladen.

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Selbst am letzten Tag wirkt die Lerngruppe noch motiviert, artig stehen die Schüler neben dem mutmaßlichen EU-Ausbilder. Einen Monat vor dem Einsatz im November 2017, bei dem mindestens 20 Menschen sterben, veröffentlicht Melad diesen Beitrag bei Facebook.

Von den "Skills" und "Knowledge", die er und seine Kollegen in der Militärbasis erworben haben wollen, erkenne ich auf den Videoaufnahmen von Sea-Watch wenig. Wie um alles in der Welt kamen die Ausbilder der Mariscuola Taranto also zu der Ansicht, dass die Coast Guards bereit wären, Menschen vor dem Ertrinken zu retten?

Direkt kann man mit den Kursleitern nicht sprechen. Die Militärbasis verweist wieder auf den Pressesprecher de Renzis Sonnino in Rom. Der erklärt mir, dass die European Naval Forces dem Personal der libyschen Küstenwache "Basiswissen für Seeleute" beibringen. Es gebe auch Kurse für Internationales Recht "mit einem starken Fokus auf den Respekt der Menschenrechte" und dem "korrekten Umgang mit Migranten".

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Auch auf VICE: Flucht übers Meer


Aber wie stellt die EU sicher, dass die Mitglieder der Küstenwache die Inhalte der Lehrgänge umsetzen? "Die Verantwortung für die Kontrolle der libyschen Küstenwache trägt die libysche Regierung", sagt Kapitän de Renzis Sonnino.

Trotzdem gebe es seit Sommer 2017 ein "Monitoring", mit dem das Verhalten der Libyer überwacht werden soll. Mit Flugzeugen, Schiffen und U-Booten würden dafür Informationen über die Rettungseinsätze der Libyer zusammengetragen.

Bei gemeinsamen Sitzungen bewerte man die "Leistungen" der Coast Guards. Was die Europäer ihren libyschen Partnern zu den Vorfällen vom 6. November gesagt haben? Pressesprecher de Renzis Sonnino erklärt mir knapp:

"Der Kommandant der 'Operation Sophia' hat die Vorfälle bei einem Treffen in Tunis am 15. November 2017 mit der libyschen Küstenwache erörtert". Als Reaktion auf "den Unfall" wären "Disziplinarmaßnahmen" gegen eine Person ergriffen worden.

Aziz T., der langhaarige libysche Coast Guard im roten Shirt, will von einer Fehleranalyse der EU nichts mitbekommen haben. Er hat mir schon vor meinem Gespräch mit de Renzis Sonnino geschrieben, dass es nach dem 6. November 2017 keine Konsequenzen gegeben habe.

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Schon im Februar 2017 scheint Melad bei einem Training in Italien gewesen zu sein | Hervorhebung von VICE

Mit Melad, der in Italien war, kommt kein Gespräch zustande, er sitzt meine Freundschaftsanfrage aus. Dafür spreche ich mit dem "Prinz der Meere". Auf Facebook heißt er mit Vornamen "Ramadan". Beim Einsatz am 6. November 2017 trägt er einen Anzug in Camouflage, das zeigen die Aufnahmen von Sea-Watch. Trotz seines protzigen Beinamen wirkt er bescheiden, lächelt schüchtern auf Fotos. Ramadan schreibt mir, die Kooperation mit der EU laufe "sehr gut".

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Insgesamt vier Lehrgänge will Ibrahim in Europa absolviert haben, unter anderem in Italien und Bulgarien. Zertifikate von der EU und den Vereinten Nationen würden das belegen, zeigen tut er sie mir aber nicht. Dann unterbricht er unsere Konversation für die Länge des Nachtgebets und entschuldigt sich höflich.

Obwohl ich merke, dass Ramadan meine Vorwürfe zu treffen scheinen, überhäufe ich ihn mit meinen Fragen, übersetzt vom "Google Translator": "Warum tritt die Küstenwache in dem Video so aggressiv auf? Gibt es Streit unter euch, wenn Geflüchtete oder Seenotretter körperlich angegriffen werden?" Der Coast Guard verteidigt sich mit großer Mühe, er tue niemandem etwas, sondern "rette Babys vor dem Tod". Helfe ihnen mit Essen und Kleidung.

Leid täten ihm die "illegalen Migranten" trotzdem nicht. "Die Schleusung sei gefährlich und tödlich". In einem Punkt müsste Ramadan die Geflüchteten dennoch verstehen. Die Ertrinkenden im Meer und er, der selbsternannte Prinz der Meere, haben nämlich dasselbe Ziel: Europa.

Unbedingt wolle er weitere Lehrgänge besuchen, damit er eines Tages in Europa arbeiten kann. Per Facebook-Messenger fragt er: "Kannst du mir dabei helfen?" So naiv und freimütig wie Ramadan auf mich wirkt, würde ich ihm gerne glauben, dass hinter dem Verhalten der Küstenwache bloße Überforderung und keine böse Absicht steckt.

Doch dann kommen mir wieder die Videoaufnahmen vom 6. November vor anderthalb Jahren in den Kopf. Wie die Coast Guards die Passagiere ihres Schiffes mit Tauhieben drangsalieren. Das Bild, mit dem Ahmed den Terror des Islamischen Staates bejubelt, und die haarsträubenden Ausreden von Aziz, die seine Attacken auf Sea-Watch rechtfertigen sollen.

Ich muss an mein Gespräch mit Johannes Bayer denken. Von einem "Unglück" spricht er angesichts der Tausenden Toten im Mittelmeer schon lange nicht mehr. Ein Unglück passiere, weil man Pech habe. Wenn man Menschen wie am 6. November 2017 wissentlich ertrinken lässt, dann sei das kein Unglück. Diese Tragödie, sagt Bayer, sei menschengemacht.

Im Mai 2018 haben 17 Überlebende am Europäischen Menschenrechtsgerichtshof Klage gegen den Staat Italien eingereicht. Sea-Watch gehört zu den Organisationen, die sie dabei unterstützen.

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