Drogen

Bayern: Ein Nasenspray soll Heroin-Konsumierenden das Leben retten

Jürgen drohte an einer Überdosis zu sterben, dank eines Modellprojekts konnte sein Freund ihn retten – mit Naloxon.
Jemand hält Nasenspray mit Naloxon in der Hand
Das Nasenspray Narcan | Foto: Governor Tom Wolf | Flickr | CC BY 2.0

Den Fußballabend wollten sie sich mit einem Schuss Heroin schön machen, sagt Wolfgang. 56 Jahre ist er alt, er spricht Bairisch und trägt Stecker in beiden Ohren. Die Adern seines Freundes Jürgen seien so kaputt gewesen, dass der ihn um Hilfe gebeten habe: "Hau es mir nei, ich vertrockne." Also kochte Wolfgang Heroin, zog die Spritze für seinen Freund auf und injizierte es ihm. An einem Dienstagabend vor zwei Jahren, als Bayern München in der Champions League spielte.

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"Passt’s? Klingelt’s in den Ohren?", fragte Wolfgang. Doch als er die Pumpe – so nennen manche Heroinkonsumierenden ihre Spritze – rauszog, sei Jürgen "umgefallen und blau geworden". Wolfgang bekam Panik. "Wenn der stirbt, wäre das dann versuchter Mord?", ging es ihm durch den Kopf. Er griff nach Jürgens Zunge, die ihm in den Rachen gefallen war. Und dann: "Naloxon. Das hatte ich zum Glück dabei. Ich habe es ihm einfach in den Arm reingehauen."

Eine Überdosis. Immer wieder sterben Heroinkonsumierende durch zu hohe Dosen. Überdosierungen mit Opioiden wie Heroin sind die häufigste Ursache von Drogentodesfällen – im vergangenen Jahr kosteten sie laut der damaligen Bundesdrogenbeauftragten 629 Menschen in Deutschland das Leben.

Seit einiger Zeit gibt es ein Gegengift: Das Mittel Naloxon kann die Wirkung von Opioiden wie Heroin innerhalb von Sekunden aufheben. Ausgerechnet das für seine harte Drogenpolitik bekannte Bayern hat ein Modellprojekt gestartet, um Konsumierende im Umgang mit Naloxon zu schulen und anschließend das Nasenspray an sie auszugeben.

Seither tragen einige Konsumierende den möglichen Lebensretter immer bei sich. Die ehemalige Drogenbeauftragte Marlene Mortler lobt das Projekt, das auch andere Bundesländer übernommen haben. Verändert sich die Drogenpolitik gerade? Hilft die Politik Konsumierenden dabei, ihr Risiko zu minimieren? Sterben bald keine Drogenkonsumierenden mehr an einer Überdosis? Oder zumindest viel weniger?

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In Deutschland leben nach Schätzung des Gesundheitsministeriums 170.000 Opioidabhängige, davon sind 90.000 in der Substitution, wo sie einen Drogenersatz wie Methadon bekommen. Die Zahl der Süchtigen, die in Kliniken unterkommen, steigt. Allerdings fehlen Ärzte, um noch mehr zu behandeln. Ungefähr die Hälfte der Heroinkonsumierenden bleibt also auf Hilfsangebote wie Konsumräume, Spritzentausch und eben das lebensrettende Nasenspray Naloxon angewiesen.

Wie in vielen Bundesländern schwankt in Bayern die Zahl der Drogentoten deutlich. Im vergangenen Jahr starben 235 Personen, 2017 waren es in Bayern noch 308 Drogentote. Allerdings gab es bis April dieses Jahres laut Medienberichten wieder 30 Prozent mehr Drogentote als im Vorjahreszeitraum.

Warum kommt es überhaupt so oft zu Überdosen?

Der Hauptgrund dafür, dass es immer wieder zu Überdosierungen kommt, sei die schwankende Stoffqualität, sagt Olaf Ostermann, der das Modellprojekt "BayTHN – Take-Home-Naloxon in Bayern" vorantreibt. Auf dem Markt gebe es im Moment überraschend reines Heroin – wer stark gestreckten Stoff gewohnt ist, kann sich leicht überdosieren. "Meistens passieren zu hohe Dosen unabsichtlich, nach Phasen langer Abstinenz wegen Therapie oder Haft." Auch Mischkonsum von Opioiden mit Alkohol, Tabletten und weniger bekannten Substanzen wie Badesalzen oder fentanyl-haltigen Schmerzpflastern kann dazu führen, dass Konsumierende die Drogen nicht richtig einschätzen.

Auch deshalb treibt Olaf Ostermann das Modellprojekt "BayTHN – Take-Home-Naloxon in Bayern" voran. Ostermann leitet die Einrichtung Condrobs in München, die Drogenabhängige betreut. Während des zweijährigen Modellprojekts schulen Mitarbeiter von Condrobs und anderen Trägern Drogennutzerinnen und -nutzer im Umgang mit Naloxon. Das bayerische Gesundheitsministerium leitet das Projekt und stellt 330.000 Euro bereit, um 450 Drogenkonsumierenden Naloxon nahezubringen.

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Olaf Ostermann leitet die Einrichtung Condrobs in München, die Drogenabhängige betreut

Von Oktober 2018 bis Anfang Mai 2019 haben in Bayern fast 180 Konsumierende eine Schulung und das Spray bekommen. Im selben Zeitraum hat Naloxon schon elf Konsumierenden das Leben gerettet.

"Medizinische Laien sollen das Medikament bei Menschen anwenden, die akut einen durch eine Heroinüberdosis verursachten Atemstillstand erlitten haben", sagte die bayerische Gesundheitsministerin Melanie Huml, als das Projekt begann. "Mit diesem Projekt sollen die Voraussetzungen geschaffen werden für eine dauerhafte Implementierung der Naloxon-Notfallgabe."

Sogar die eher repressive und kürzlich abgesetzte Drogenbeauftragte Marlene Mortler begrüßte die Naloxon-Vergabe vergangenes Jahr als lebensrettende Handlungsoption. Außer im Vorreiterstaat Bayern haben im Anschluss in Frankfurt, Berlin und einigen Städten Baden-Württembergs Naloxon-Schulungen begonnen.

"Setz dir auf keinen Fall noch einen Schuss"

Zwischen 2016 und 2018 hatte Ostermann mit Condrobs und der Stadt München schon einmal gut 150 Drogennutzer geschult. Zwölf setzten später Naloxon erfolgreich ein – wie Wolfgang bei seinem Freund Jürgen an jenem Dienstagabend. Damals musste Naloxon noch gespritzt werden. "Heute gibt es zum Glück das Fertigprodukt in Form von Nasenspray", sagt Ostermann. Das holt Konsumierende innerhalb von Sekunden runter, so schnell, dass manche wütend erwachen, sauer, weil der Turn weg ist. Darüber müsse man informieren und die Konsumierenden aufklären, sagt Ostermann: "Du frierst, weil du Naloxon bekommen hast. Setz dir auf keinen Fall noch einen Schuss, sondern warte. Dann kommt die Wirkung zurück."

Heroinkonsumierende haben Gründe, einander nicht zu helfen. Oft kennen sie sich nicht gut, vielleicht sind ihnen die Leute unangenehm, sodass sie Kollabierte nicht beatmen wollen. Und alle haben Angst vor der Polizei, die immer mitkommt, wenn man den Krankenwagen wegen eines Drogennotfalls ruft, sagt ein Szenekenner. In den vergangenen Jahren hat das zu extremen Fällen geführt: In Köln ließen Konsumierende einen Drogentoten in einer unbewohnten "Szene-Wohnung" liegen und meldeten seinen Tod nicht der Polizei. Als diese Wochen später in die Hochhaussiedlung kam, wickelten die Abhängigen den Leichnam in einen Teppich und warfen ihn vom Balkon. Naloxon könnte ein geeignetes Mittel sein, diese Hürden zu überwinden. Wobei der Ruf nach einem Krankenwagen unerlässlich sei, sagt Olaf Ostermann.

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Wolfgang aus München hatte Angst, dass sein Freund Jürgen den Fußballabend nach der Überdosis nicht übersteht. Gleichzeitig fürchtete er die Polizei, weil er derjenige war, der die Spritze abgedrückt hatte. Schließlich rief er den Notarzt. "Ich habe nichts von Drogen gesagt, sondern von einem epileptischen Anfall erzählt. Als der Notarzt eintraf, habe ich dann die Wahrheit gesagt."

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Wolfgang: Er hat seinen Freund Jürgen mit dem Naloxon nach der Überdosis retten können

An dem Abend hat das Naloxon Jürgen vielleicht das Leben gerettet. Einige Zeit später ist er dennoch gestorben. "Der war zu gierig", sagt Wolfgang. Er hingegen macht heute eine Substitutionstherapie, nachdem er die Hälfte seines Lebens auf Heroin gewesen ist. Er arbeitete früher als Briefträger, dann betrieb er eine Videothek, wanderte nach Thailand aus, und er saß auch schon mal wegen Handels mit Cannabis im Gefängnis.

Trotz der Therapie ist Wolfgang manchmal noch in der Szene unterwegs. Das Naloxon-Spray hat er immer dabei. "Im Sommer am Radl in der Tasche, im Winter im Rucksack. Wenn ich dann an der Münchener Freiheit bin, schaue ich einfach. Und wenn einer zu viel genommen hat, kann ich eben helfen. Es sterben noch immer viel zu viele."

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