Meine Mutter saß im Gefängnis, ich machte es ihr nach
Illustration: Sally Deng

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Meine Mutter saß im Gefängnis, ich machte es ihr nach

Erst geriet meine Mutter auf die schiefe Bahn, dann stürzte auch ich ab. Schließlich fand sie einen Weg, der uns beide gerettet hat.
NL
aufgeschrieben von Nicole Lewis

Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit dem Marshall Project entstanden, einer gemeinnützigen Nachrichtenorganisation, die sich mit dem US-amerikanischen Justizsystem beschäftigt.

Als ich die Bühne betrat, konnte ich es kaum fassen: Endlich hatte ich meinen Bachelor-Abschluss im Fach Soziologe. Im Publikum saß meine Familie, die ihre Freude laut herausschrie. Meine Mutter und meine Oma weinten. "Fall jetzt bloß nicht hin!", dachte ich mir. Denn ich war schon oft tief gefallen. Noch wenige Jahre zuvor hatten mich Dutzende Polizisten und FBI-Agenten mit gezogenen Waffen umstellt und ich musste ins Gefängnis.

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Ich wurde im New Yorker Stadtteil Bronx geboren, meine Mutter war alleinerziehend. Meine Großmutter kam von Haiti zurück in die USA, um dabei zu helfen, mich großzuziehen. Am Anfang lebten wir in einer Einzimmerwohnung und obwohl wir arm waren, ließ meine Mutter mich das nie merken. Ich habe immer gute Schulen besucht und jeden Samstag sind wir erst brunchen und dann shoppen gegangen. Ab und an sahen wir uns auch Broadway-Musicals an. Les Misérables kenne ich fast auswendig.

Als ich 15 war, zogen wir nach Westchester County, etwas außerhalb von New York. Die Umstellung fiel mir schwer: Die Schülerinnen und Schüler waren abseits der Großstadt nicht mehr so divers und ich hatte das Gefühl, dass niemand mit mir befreundet sein wollte. Trotzdem bekam ich weiterhin gute Noten, machte meinen Abschluss und wurde an der St. John’s University angenommen.


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Im zweiten Semester rief mich eine Bekannte an. Sie habe meine Mutter gerade in den Nachrichten gesehen, man habe sie festgenommen. "Das ist nicht möglich", antwortete ich. "Ich habe doch erst gestern noch mit ihr gesprochen."

Ich schrie in den Hörer: "Du lügst! Ruf mich nie wieder an, sag so etwas nie wieder zu mir." Ich wusste, dass meine Mutter eine schwere Zeit durchmachte: Sie hatte gerade ihren Job verloren, musste sich um mich kümmern und half mir durchs Studium. Der Druck auf sie war riesengroß.

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Nachdem ich aufgelegt hatte, googelte ich – und meine Mutter war tatsächlich in den Nachrichten. Sie hatte Kreditkarten gestohlen und damit Prepaid-Visa-Karten gekauft. Deswegen war sie nun wegen schweren Diebstahls und Identitätsmissbrauchs angeklagt. Ich fing an zu weinen.

Es war nicht das erste Mal, dass meine Mutter in den Knast musste

Obwohl wir uns während meiner Kindheit und Jugend sehr nahestanden, hatte meine Mutter immer Geheimnisse vor mir. So fand ich zum Beispiel heraus, dass sie 1991 fast acht Monate lang im Gefängnis saß. Und ein paar Jahre später, als ich in der vierten Klasse war, musste meine Mutter für ein Jahr hinter Gitter – meine Oma sagte mir damals, dass sie wegen ihrer Arbeit unterwegs sei.

Nachdem ich erfahren hatte, dass meine Mutter wieder verhaftet worden war, fuhr ich nach Hause zu meiner Großmutter. Im Haus herrschte Chaos, weil die Polizei alles durchsucht hatte. Unsere Klamotten, unser Schmuck und all unsere Unterlagen waren kreuz und quer in der Wohnung verteilt. Die Beamten waren nach getaner Arbeit einfach gegangen.

Ohne meine Mutter konnten wir es uns nicht mehr leisten, in Westchester County zu wohnen. Deswegen zogen wir bald nach Yonkers, nördlich von New York, und ich ging irgendwann zurück zur Uni. Das zweite Semester war eine richtige Qual und ich brach das Studium schließlich komplett ab.

Ich erzählte niemandem, dass meine Mutter im Gefängnis saß. Einige meiner Freunde wussten zwar Bescheid, aber sie sagten nichts. Ich hatte den Eindruck, dass mich niemand wirklich verstand.

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Dann lernte ich einen Typen kennen, der mein Leben auf den Kopf stellte.

Der schier endlose Absturz

Eines Abends lief ich gerade zu einer Party, als er mich ansprach und fragte, wie es mir gehe. Anstatt zur Party zu gehen, hing ich mit ihm ab. Am nächsten Tag wollte er wissen, ob wir nun zusammen seien. Kurze Zeit später zog ich zu ihm ins Haus seiner Mutter, wo er noch wohnte.

Zwei Wochen nachdem wir uns kennengelernt hatten, erzählte er mir, dass er gerade dreieinhalb Jahre im Knast gesessen habe. "Ist mir egal", antwortete ich. "Ich respektiere dich trotzdem." Da hatte ich mich schon in ihn verliebt.

Als er seinen Job als Bauarbeiter verlor, fing er an, Drogen zu verkaufen und zu klauen. Irgendwann brachte er auch mir bei, andere Leute auszurauben. Schließlich warf uns seine Mutter auf die Straße und ich half ihm zum ersten Mal dabei, jemanden abzuziehen. Weil wir nichts zu essen hatten, ließen wir uns von einem seiner Freunde zu einer Bar bringen. Dort sprach ich zusammen mit der Freundin des Freundes Männer an und wir tanzten mit ihnen. Dann nahmen wir sie mit nach draußen, um "eine Zigarette zu rauchen". Dort warteten unsere Freunde und kümmerten sich um den Rest.

Irgendwann war ich diesem Lifestyle komplett verfallen und immer wenn wir Geld brauchten, lockten wir irgendwelche Typen in unsere Falle.

Die Übergabe sollte auf der Strandpromenade von Virginia Beach stattfinden. Dort erwarteten uns allerdings gut 50 Polizisten und FBI-Agenten.

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Als mein Freund verhaftet wurde, fing ich an, auf eigene Faust andere Leute abzuziehen. Ich gab mich im Internet als Escort-Dame aus und haute dann beim Treffen direkt mit dem Geld ab. Deswegen klickten auch bei mir zum ersten Mal die Handschellen, mir wurde einfacher Diebstahl vorgeworfen. Meine Familie bezahlte die Kaution.

Ein paar Monate später kam mein Freund ebenfalls auf Kaution frei. Ich entschied mich, ihm bei einer Betrugsmasche zu helfen. Einer seiner Freunde hatte mit einem Typen aus Virginia Beach geredet und sagte, dass dieser Typ einen Abend mit drei Frauen verbringen wolle. Jede dieser Frauen sollte "nur fürs Abhängen" jeweils 10.000 Dollar bekommen. Also fragten mein Freund und ich eine Freundin, ob sie Bock auf schnelles Geld habe, und wir machten uns auf den Weg.

Was wir aber nicht wussten: Der Kumpel hatte mit verdeckten Ermittlern der Bundespolizei gesprochen. Und obwohl mir klar war, dass es sich um irgendeine Betrugsmasche handelte, hatte ich keine Ahnung, dass die Frauen als Sexsklavinnen verkauft werden sollten.

Die Übergabe sollte auf der Strandpromenade von Virginia Beach stattfinden. Dort erwarteten uns allerdings gut 50 Polizisten und FBI-Agenten. Ich riss meine Arme hoch und sagte, dass ich nicht wisse, was genau vor sich ging. Ihre Antwort: "Du steckst vielleicht noch nicht ganz mit drin, aber die Finger hast du dir auf jeden Fall schmutzig gemacht."

Die Anklage: Beihilfe zur Prostitution

Sie verhafteten mich und ich landete im Gefängnis. Ich meldete mich eine Woche lang nicht bei meiner Mutter. Sie war seit ein paar Jahren wieder auf freiem Fuß und ich wollte ihr nicht beichten, dass ich nun in ihren Fußstapfen folgte.

"In was habe ich mich da nur reingeritten?", fragte ich mich selbst. Man warf mir vor, eine Verschleppung zu Prostitutionszwecken mitgeplant zu haben. Vor Gericht bekannte ich mich schuldig und wurde zu einem Jahr Haft verurteilt. Davor hatte ich schon acht Monate hinter Gittern verbracht, weil mir keine Kaution gewährt wurde.

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Als ich endlich wieder nach Hause kam, machte meine Mutter mithilfe der gemeinnützigen Organisation Hudson Link gerade ihren Master-Abschluss. Sie erzählte mir vom St. Francis College und dem kostenfreien Lernprogramm für ehemalige Häftlinge dort.

Ich verstieß zweimal gegen meine Bewährungsauflagen. Aber die Uni hielt weiterhin an mir fest.

Das war vor drei Jahren. Zuerst hatte ich keine große Lust, wieder zu studieren. Eigentlich wollte ich nur arbeiten. Als ich mich dann aber wirklich am St. Francis College einschrieb, wurde ich dort direkt mit offenen und unterstützenden Armen empfangen.

Ich dachte mir nur: "Wenn ich das hier versaue, versaue ich es nicht nur für mich, sondern auch für andere Menschen, die ihr Leben wieder auf die Reihe kriegen wollen." Wieder auf die rechte Bahn zu kommen, war nicht einfach. Ich war eine der jüngsten Teilnehmerinnen des Programms – und ich verstieß zweimal gegen meine Bewährungsauflagen. Aber die Uni hielt weiterhin an mir fest.

Was ich erlebt und getan habe, wird mich für immer prägen. Das Ganze hat aber auch eine gute Seite: Hätte ich diesen Weg nie eingeschlagen, wäre ich heute auf keinen Fall eine so starke Person.

Am Tag der Abschlussfeier lief alles super. Ich bin nicht hingefallen. Inzwischen arbeite ich und versuche, Kindern und Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten zu helfen. Und meine Mutter schreibt gerade ihre Doktorarbeit, über generationsübergreifende Inhaftierung.

Nach ihrem Abschluss am St. Francis College will die 27-jährige Arielle Pierre jetzt einen Master im Fach Soziale Arbeit anfangen.

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