Im Schlaf

Ich gucke den ganzen Tag Insta-Storys – Warum träume ich nie davon?

Wir haben eine Traumforscherin gefragt, ob wir unseren Schlaf im Flugmodus verbringen.
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Collage bestehend aus Instagram: imago images / Reporters |
Kollegah: imago images / Arvid Müller |
Whatsapp: Pixabay | Phone: Pixabay |
Schlafender: imago images / PhotoAlt

Ich sitze mit meinem armenischen Geigenlehrer in der Dampfsauna. Nach fünfzehn Jahren sitzt er mir wieder gegenüber. Nackt sind wir zum ersten Mal. Als ich dem hageren Mann mit dem Goldkettchen erklären will, warum ich diese Woche keine Zeit zum Üben hatte, ist er verschwunden. Ich stehe jetzt auf dem Dach meiner Fakultät, falle herunter, ewig lang ins dunkle Nichts, bis ich unversehrt am Wohnzimmertisch meiner Oma lande. Glücklich über den Überraschungsbesuch ihres Enkels serviert sie mir ein Stück Apfelkuchen mit Schlagsahne. Dann wache ich auf, ohne Apfelkuchen, ohne Oma.

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Am Ende der Nacht bleibt nur die Frage: Warum passieren in meinen Träumen die verrücktesten Sachen, aber niemals die ganz alltäglichen Dinge, die tatsächlich mein Leben bestimmen? Tagsüber spielt sich mein Leben zwischen WhatsApp-Verläufen und Google-Docs ab. Ich streune morgens durch Twitter-Timelines, um Inspiration für neue Artikel zu finden. Mittags suche ich die Spiegel TV-Doku, die am besten zu Nudeln mit Pesto passt. Und wenn mich nachts negative Gedanken einholen, ersticke ich sie mit den Stimmen von Jan Böhmermann und Olli Schulz.

Alleine bin ich damit nicht. 2018 hat die Stiftung für Zukunftsfragen die Deutschen nach ihren Lieblingsbeschäftigungen gefragt. Das Ergebnis: Die große Mehrheit der Deutschen verbringt ihre Freizeit mit Fernsehen, Radio hören, Telefonieren und dem Smartphone. Medienkonsum bestimmt den Tag. Und im Traum verarbeitet man die Erlebnisse des Tages, heißt es doch.

In meinen Träumen begegnen sich Menschen draußen in der Natur und nicht bei Facetime

Wenn diese Theorie stimmen würde, müsste ich ununterbrochen von Kollegahs Instagram Stories aus dem Schlaf gerissen werden, in denen er mir "Komm schon, aufstehen Alpha!" zuruft. Mich würde jede Nacht das Foto von Philipp Amthor und der Porzellankanne verfolgen. Oder Mails an Vorgesetzte, die ich zwanzig Mal mit zusammengekniffenen Augen gelesen habe, um ja keinen Rechtschreibfehler zu übersehen. Tun sie aber nicht.

In meinem Träumen scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Die digitale Revolution hat noch nicht stattgefunden. Menschen begegnen sich draußen in der Natur und nicht bei Facetime. Nur die Qualität der Darstellung ist ähnlich schlecht. Ständig verschwimmt alles. Schaltet mein Körper im Schlaf vielleicht in den Flugmodus, um sich wenigstens für ein paar Stunden von der ganzen Unterhaltungselektronik erholen zu können?

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Vielleicht habe ich morgens einfach vergessen, wie ich stundenlang Netflix durchsucht habe

Das habe ich die Traumforscherin und Psychologin Ursula Voss gefragt. "Ob Sie wirklich nie von ihren Erfahrungen in der digitalen Welt träumen, wissen wir nicht", schreibt mir Voss. "Sicher ist nur, dass Sie sich nicht daran erinnern." Habe ich also am nächsten Morgen einfach vergessen, wie ich im Schlaf Netflix nach einem guten Film durchsucht habe?

Wenn ein Thema für mich keine persönliche Bedeutung habe, sei es möglich, dass es nicht in meinen Träumen vorkomme. "Wir können geringfügige Zusammenhänge zwischen den erinnerten Gefühlen im Traum und der Grundstimmung im Wachen herstellen", erklärt Voss. Wenn aber reale Gefühle in meinen Träumen auftauchen, müsste es mein Medienkonsum doch auch tun.


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Ich sitze ja nicht den ganzen Tag emotionslos vor dem Rechner, sondern logge mich jeden Tag voller Aufregung ins Uni-Portal ein, bis die Klausurnoten endlich dastehen. Ich ärgere mich über einen Leserkommentar bei Facebook, der die Bedeutung eines Artikels mit einem flapsigen Kommentar kleinreden will.

"Dass jemand, der seine Zeit mit brutalen Computer-Spielen verbringt, auch gewaltvoller träumt, halte ich für erwartbar."

Voss sagt, dass meine Grundannahme falsch sei. Sie glaube nicht, dass Träume die Erlebnisse des Tages widerspiegeln müssen. Ich solle mir den Inhalt eines Traums eher wie den Gewinner eines Preisausschreibens vorstellen. Ein Thema, das mir besonders am Herzen liege, sei wie ein Los mit einer besonders hohen Gewinnchance. Dabei sei es egal, ob die Sorgen nun auf dem ausbleibenden Erfolg auf Tinder oder auf einem Streit mit dem Mitbewohner beruhen. Ob sie sich also auf Ereignisse in der echten Welt oder auf meinem Smartphone-Bildschirm beziehen.

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"Dass aber jemand, der seine Zeit mit sehr brutalen Computer-Spielen verbringt, gewaltvoller träumt, halte ich für erwartbar", sagt Voss. Nur sei es sehr selten, dass Gamende auch im Traum Ego-Shooter spielen. Träume bilden nicht die Realität ab, sondern verzerren sie auf unlogische und bizarre Weise.

Gewalt im Traum ist ein gutes Stichwort. In der Nacht, bevor ich diesen Text schreibe, träume ich von Arafat Abou-Chaker. Auf einer Grillparty fragt er mich, warum ich so dünn geworden sei. In der Realität sind wir uns noch nie begegnet. Ich kannte ihn bisher nur aus dem Internet. Aber zum Glück weiß ich jetzt, wie ich ihn dahin wieder zurück schicken kann.

Wenn Gewalt in Medien meine Träume beeinflusst, wie die Traumforscherin sagt, sollte ich vielleicht aufhören, den ganzen Deutschrap-Gossip auf YouTube aufzusaugen und mich weniger von den "Hass"- und Gewaltschlagzeilen auf Bild.de triggern lassen. Vielleicht zocke ich stattdessen lieber mal wieder ein Wochenende ohne Pause Sims 3. In meinem selbstgebauten Anwesen schlafe ich ruhiger als mit einem Clan-Oberhaupt im Bett.

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