Menschen

Als ich sechs war, brachte mein Vater fast die ganze Familie um

In den Alpen durchbrachen wir mit dem Auto eine Leitplanke und stürzten in eine Schlucht. Ich habe mich 18 Jahre später mit meinem Vater über den Crash unterhalten.
Links das geborgene Autowrack, rechts das Auto direkt nach dem Unfall in der Schlucht
Das Autowrack – links geborgen, rechts noch in der Schlucht | Alle Fotos: bereitgestellt von der Autorin

Es geschah im Sommer 2001. Ich saß zusammen mit meinen Eltern, meiner Schwester und unserem Hund im Auto. Wir hatten gerade die Leitplanke einer Serpentine durchbrochen und stürzten über 20 Meter tief in eine Alpenschlucht. Unten erwarteten uns eiskaltes Wasser und Dutzende Felsen. Wie durch ein Wunder konnten wir uns aus dem Auto befreien und wieder hoch zur Straße klettern. Niemand wurde ernsthaft verletzt. Nur meinem Vater, der gefahren war, bereitete der Unfall noch lange Probleme.

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Jedes Jahr macht meine Familie Urlaub in einem Sommerhaus in Italien. Von den Niederlanden aus führt der Weg dorthin durch die Schweizer Alpen. Als wir 2001 zurück nach Hause fuhren, entschieden wir uns für den auf 2.106 Höhenmeter liegenden Gotthardpass, weil im Gotthard-Straßentunnel so viel los war. Ich weiß noch, wie wir hoch oben im Gebirge eine Schneeballschlacht veranstalteten. Auf dem Weg wieder nach unten stellte mein Vater fest, dass die Bremsen des Autos nicht mehr funktionierten.


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"Danach ging alles sehr schnell", erzählt er heute. "Wir sind zwei entgegenkommenden Autos ausgewichen und dann direkt durch die Leitplanke gekracht. Wir stürzten 22 Meter tief in die Schlucht vor uns. Der Fall selbst dauerte rund fünf Sekunden. Das Wasser und die Felsen kamen rasend schnell auf uns zu."

Unser Auto landete mit der Motorhaube voran genau zwischen mehreren Felsen. Das Wasser drückte sich sofort ins Innere, rasch stand es hüfthoch im Fahrzeug. Wir mussten uns so schnell wie möglich aus dem Auto befreien. Die Strömung war jedoch so stark, dass wir die Türen nicht öffnen konnten. Meine Eltern kurbelten hektisch ihre Fenster herunter, kletterten nach draußen und zogen meine Schwester und mich aus dem Wagen.

Das Autowrack liegt in der Alpenschlucht in eiskaltem Wasser

Mein Onkel war mit seiner Familie im Auto hinter uns unterwegs und hatte gesehen, wie wir die Leitplanke durchbrachen. "Er befahl seiner Frau und seinen Kindern, nicht auszusteigen. Er wollte nicht, dass sie unsere Leichen sehen", sagt mein Vater. Zusammen mit anderen Autofahrern kletterte mein Onkel runter zu unserem Autowrack und half uns wieder hoch zur Straße.

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Oben hatte sich derweilen eine Menschentraube aus Schaulustigen, Polizisten, Feuerwehrleuten, Sanitätern und unseren Verwandten gebildet. Im Rettungswagen stellten die Sanitäter fest, dass es uns – abgesehen von ein paar Quetschungen durch die Anschnallgurte – gut ging. Da niemand ernsthaft verletzt war, war kein Krankenhausaufenthalt nötig.

Mein Vater musste jedoch direkt mit auf die Polizeiwache. "Ich wurde trotz nasser Klamotten drei Stunden lang verhört – von einem Mann, den ich kaum verstand", erzählt er. "Der Polizist fragte mich, wie schnell ich gefahren sei und woher wir kamen. Er deutete an, dass ich den Unfall absichtlich verursacht haben könnte, weil ich meine Familie loswerden wollte. Da blickte ich ihn zornig an und sagte: 'OK, das reicht jetzt.'"

Das geborgene Autowrack wird abgeschleppt

Noch am selben Tag zog die Feuerwehr das Autowrack aus der Schlucht. Wir organisierten uns derweilen ein Ersatzfahrzeug.

Unser anfänglicher Schock machte schnell Platz für ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit. Wir waren dankbar dafür, noch am Leben zu sein. Da wir allerdings auch unglaublich erschöpft waren und keine Lust auf die Weiterfahrt hatten, verbrachten wir die Nacht in einem Hotel. Und diese Nacht war sehr stressig für uns alle: Meine Mutter hatte schlimme Albträume, meinen Vater quälten die ersten Selbstzweifel.

"In meinem Kopf spielte ich den Unfall immer wieder durch. Aber ich verstand einfach nicht, wie das Ganze passieren konnte", sagt er. "Ich fragte mich, ob ich an allem schuld war."

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Am darauffolgenden Morgen gingen meine Eltern zurück zur Unfallstelle und hielten sich dort eine Weile einfach nur in den Armen. "Als wir sahen, wie tief die Schlucht eigentlich war, wurde uns erst richtig bewusst, dass wir alle hätten tot sein können", erzählt mein Vater. Schließlich entschied er, dass wir weiterfahren sollten – auch wenn die ersten Kilometer zurück auf der Straße unglaublich nervenaufreibend waren.

Das Autowrack im eiskalten Wasser der Schlucht

Zwei Tage später waren wir wieder zu Hause in den Niederlanden. Mein Vater nahm ein paar Tage Urlaub, um sich von dem Schock zu erholen. "Ich konnte weder schlafen noch aufhören, über alles nachzudenken. Außerdem musste ich mich mit der Versicherung herumschlagen", sagt er. Er bekam sogar eine Geldstrafe wegen der kaputten Leitplanke, weigerte sich aber zu zahlen.

Das Angebot, eine Therapie zu machen, lehnte mein Vater ebenfalls ab. "Ich war nicht der Meinung, so etwas zu brauchen", sagt er. "Ich konnte ja mit meiner Frau über alles reden. Genau das haben wir quasi jeden Tag gemacht."

Monatelang wurde mein Vater von Schuldgefühlen geplagt. Dann bekamen wir den technischen Bericht über die Unfallursache zugeschickt. Wie sich herausstellte, war die Bremsflüssigkeit unseres Autos ausgelaufen. "Da fiel mir ein richtiger Stein vom Herzen", sagt mein Vater. "Ganz weg waren meine Schuldgefühle aber nicht. Ich hätte die Bremsflüssigkeit ja mal überprüfen können."

Inzwischen sind seit unserem Unfall auf dem Alpenpass 18 Jahre vergangen. Wir sind auch in den folgenden Jahren weiter nach Italien gefahren – wenn auch über eine andere Route. Die Schuldgefühle meines Vaters verwandelten sich mit der Zeit in eine Wertschätzung für das Leben. "Seit dem Unfall lasse ich mich von kleinen Dingen nicht mehr aus der Ruhe bringen. Ich weiß jetzt ja, wie schnell alles vorbei sein kann", sagt er.

"Und ich schaue seitdem immer, dass genügend Bremsflüssigkeit vorhanden ist."

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