Wie die Jugend in Kolumbien den Frieden gerettet hat
José Antequera ist eine treibende Kraft hinter der Bewegung Paz a la Calle | Foto von Aitor Sáez

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The Restless Youth Issue

Wie die Jugend in Kolumbien den Frieden gerettet hat

Das Friedensabkommen zwischen der Regierung und den Guerillakämpfern der FARC war zum Scheitern verurteilt. Junge Menschen haben protestiert und Geschichte geschrieben.

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José Antequera erfuhr übers Radio, dass Auftragskiller seinen Vater ermordet hatten. Es war 1989 und er war erst fünf. In den 1980ern und 90ern erschütterte eine Welle politischer Morde Kolumbien, zwischen 4.000 und 6.000 Menschen sollen dabei umgekommen sein. So wollten diverse Kräfte die Unión Patriótica (Patriotische Union) auslöschen. Diese Linkspartei bestand aus ehemaligen Mitgliedern der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens, der FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia). Mehr als ein halbes Jahrhundert lang stand die Guerilla-Organisation im Konflikt mit der Regierung. Viele Mitglieder hatten Mitte der 80er-Jahre die Waffen niedergelegt, um mit der Unión Patriótica in die Politik zu gehen, doch die Morde erstickten das große Potential dieser linken Bewegung im Keim. Antequera ist heute 33 und hat sein Leben dem Frieden in Kolumbien gewidmet.

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Über 50 Jahre lang versetzte der Konflikt mit der FARC Kolumbien in Aufruhr. Die marxistisch-leninistisch ausgerichtete Guerillaarmee zählte zu ihren stärksten Zeiten um die Jahrtausendwende mehr als 20.000 Mitglieder und beherrschte weite Landstriche. Seit 1986 hatte die Regierung dreimal vergeblich versucht, einen Frieden auszuhandeln. Im Juni 2016, nach vierjährigen Verhandlungen im kubanischen Havanna, gelang es dem kolumbianischen Präsidenten Juan Manuel Santos schließlich, mit dem FARC-Kommandanten Rodrigo "Timoschenko" Londoño einen Waffenstillstand zu vereinbaren.

Am 2. Oktober 2016 stimmten die Kolumbianer in einem Referendum über den Friedensvertrag ab. Antequera, der sich für das Abkommen eingesetzt hatte, ging um 8:00 Uhr wählen. Auf dem Weg zum Wahllokal sagte seine Freundin: "Wenn 'Nein' gewinnt, verlassen wir Kolumbien." Alles sah nach einer Mehrheit für das Ja-Lager aus. Antequera hatte eine Feier in seiner Wohnung geplant, mit Whiskey, Tequila, aguardiente (einem starken kolumbianischen Zuckerrohrschnaps) und Trommeln. Doch die Feier sollte ausfallen.


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Um 17:45 Uhr wurde klar, dass eine knappe Mehrheit von 50,2 Prozent der Kolumbianer gegen das Friedensabkommen gestimmt hatte. Auf den Straßen war es an diesem regnerischen Sonntagabend still. Journalisten waren schockiert und rangen um Worte. Präsident Santos und sein Chefunterhändler Humberto de la Calle wirkten im Fernsehen wie gelähmt. "Ich war überzeugt, dass die Ja-Seite gewinnt", erzählt mir de la Calle diesen März. "Nicht mit einer überwältigenden, aber doch mit einer klaren Mehrheit."

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Auch die Gewinnerseite war von dem Ergebnis überrumpelt. Francisco Santos, ehemaliger Vizepräsident Kolumbiens von der größten Oppositionspartei Centro Democrático (Demokratische Zentrum), berichtet: "Beim Treffen der Parteiführung am Nachmittag habe ich gefragt, was wir sagen sollen, falls wir gewinnen. Alle haben gelacht." Selbst der Oppositionsführer, Ex-Präsident und jetzige Senator Álvaro Uribe, sonst alles andere als medienscheu, blieb still. Auch der Präsident wirkte vor der Kamera nicht gerade zuversichtlich.

Antequera war zutiefst enttäuscht. Für "Ja" hatten zumeist jüngere Kolumbianer gestimmt und Menschen aus ländlichen Regionen, die jahrzehntelang unter dem bewaffneten Konflikt gelitten hatten. Sie wurden überstimmt von der älteren, städtischen Bevölkerung, die alle FARC-Anführer hinter Gitter bringen und ihre politische Teilhabe einschränken wollte. Nur 40 Prozent der Wahlberechtigten hatten abgestimmt. Antequera begann, seinen Kummer im Aguardiente zu ertränken. Seine Mutter, eine der zahllosen Witwen des Konflikts, starrte fassungslos aus dem Fenster. Seine Freundin saß weinend auf dem Sofa. Einer seiner Gäste schrie: "Was für ein Scheißland!" Doch Antequera wollte nicht in der Verzweiflung versinken. "Das ist keine Niederlage", sagte er sich, "sondern eine Krise."

Nach dem negativen Referendum gingen Kolumbianer für den Frieden auf die Straße. Ihr Protest sorgte dafür, dass die FARC und die kolumbianische Regierung die Verhandlungen wieder aufnahmen. Foto via Raul Arboleda/AFP/Getty Images

Während um ihn herum wütend diskutiert wurde, erhielt er über WhatsApp eine Einladung zu einem Treffen am Park Way, einer beliebten Allee im Zentrum von Bogotá. Dort erwartete ihn ein Peace-Zeichen aus Hunderten Kerzen. Freunde, Nachbarn und Jugendliche hatten sich versammelt, musizierten und machten ihren Gefühlen über ein Mikrofon Luft.

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Unterdessen schrieb de la Calle seine Rücktrittserklärung. "In diesem Land zeigt ansonsten niemand Verantwortung für irgendetwas. Ich hatte das Gefühl, einmal geradestehen und die Konsequenzen tragen zu müssen", sagt er.

Das Referendum hatte das Land noch instabiler gemacht, doch Antequera sah darin auch eine Chance. Am nächsten Tag kehrte er zum Park Way zurück. Er war überrascht: Inzwischen harrten dort 500 Menschen aus. Alle waren entschlossen, den mühsam in Havanna ausgehandelten Frieden zu verteidigen. Schließlich entschied die spontane Versammlung, sich erst dann wieder aufzulösen, wenn die Krise überwunden war. Die Leute riefen ihre Namensvorschläge für die entstehende Bewegung. "Irgendwann rief jemand: 'Paz a la Calle!' [etwa: "Frieden auf der Straße"] und alle stimmten mit ein; das war sehr aufregend", erzählt mir Antequera im März. Schon bald hatte er die Versammlung am Park Way und Hunderte mehr überzeugt, sich zwei Tage später einem Schweigemarsch anzuschließen. Diese Demonstration am 5. Oktober sollte sich zu einem Massenprotest entwickeln.

Drei Tage nach dem Referendum strömten Tausende Menschen auf die Straßen von Bogotá, Cali, Medellín, Cartagena und Barranquilla. Mit der kolumbianischen Flagge und weißen Kerzen in den Händen marschierten sie schweigend durch die größten Städte des Landes. Ihre Botschaft war dennoch laut und deutlich: Die Regierung, die FARC und die Opposition sollten wissen, dass sie die neuen Protagonisten des Friedensprozesses waren und kein Nein zum Frieden akzeptieren würden.

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Die Bewegung wuchs und diese Botschaft erreichte auch Havanna, wo Londoño und de la Calle, dessen Rücktritt der Präsidenten abgelehnt hatte, die Verhandlungen wieder aufgenommen hatten.

"Wenn ich daran zurückdenke, bekomme ich Gänsehaut", erinnert sich de la Calle an den Schweigemarsch. "Das war die moralische Unterstützung, die wir brauchten."

Nach dem ersten Marsch in Bogotá beschloss eine Gruppe, über Nacht auf der Plaza de Bolívar zu campieren. Sie errichtete ihr Lager vor der Casa de Nariño (der Residenz des Präsidenten), dem Justizpalast und dem Kongressgebäude. "Wir hatten Trommeln, Musik und Getränke", erzählt mir Alejandro Diaz, einer der Demonstranten. "Die Stimmung war recht entspannt." Daraus entstand das "Campamento por la Paz" (Friedenscamp), wo Aktivisten 41 Tage lang ausharrten, bis ein neues Friedensabkommen ausgehandelt war.

Foto via Raul Arboleda/AFP/Getty Images

Antequera führte Paz a la Calle seit der ersten Stunde an und ermutigte Tausende Kolumbianer, auf Frieden zu beharren. "Die Empörung war heftig, aber allen war klar, dass die Bewegung friedlich bleiben musste, um andere Bürger nicht abzuschrecken", sagt Antanas Mockus, der ehemalige Bürgermeister von Bogotá. Er ist Experte für Zivilgesellschaft und gehört zu den beliebtesten Politikern Kolumbiens.

Die Plaza de Bolívar wurde zum Zentrum des Widerstands. Studierende, Aktivisten, Intellektuelle und Künstler gaben Tanzstunden, hielten Lesungen über den Krieg ab und errichteten eine Installation aus Pflanzen und Blumen. Sie organisierten Straßenaktionen und Kampagnen in den sozialen Netzwerken. Die kolumbianische Künstlerin Doris Salcedo hüllte den Platz in mehr als 7.000 Meter weißen Stoff, auf dem in Asche Namen der Opfer des Konflikts standen.

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"Ich spürte eine enorme Energie – klar, friedlich und ehrlich. Es ging den Menschen wirklich um Kolumbiens Zukunft. Das war ein sehr wichtiger Moment in meinem Leben", sagt de la Calle.

Eine Woche nach dem Schweigemarsch gingen die Leute erneut auf die Straße, um der Kriegsopfer zu gedenken. Laut dem Centro Nacional de Memoria Histórica (Nationales Zentrum der historischen Erinnerung) verloren im Laufe des Konflikts mehr als 220.000 Menschen durch die Guerilla, paramilitärische Gruppen und staatliche Kräfte ihr Leben. Weitere 60.000 werden vermisst. Auch Antequera und seine Mutter nahmen an diesem Marsch teil. Sie sahen die Witwe des ermordeten Carlos Pizarro, der nach seiner Zeit als Guerillakämpfer zu einem prominenten linken Politiker wurde. Die Leute schenkten einander Blumen und sagten: "Du bist nicht allein." Irgendwann, so Antequera, habe seine Mutter ihn gefragt: "Was ist hier los? So etwas hat es noch nie gegeben."

Anders als sonst nach Bürgerprotesten in Kolumbien nahm mit der Zahl der Demonstranten auch die öffentliche Aufmerksamkeit zu. Jede Aktion erhöhte den Druck weiter. Und es gelang das bis dahin Undenkbare: Präsident Santos und der ehemalige Präsident, Senator Álvaro Uribe, gaben einander die Hand und gelobten, einen neuen Friedensvertrag auszuhandeln. Obwohl ihr Verhältnis in den letzten vier Jahren eher feindselig war, machten sich Regierung und Opposition zusammen an die Arbeit.

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Alle Augen waren auf die Plaza de Bolívar gerichtet. Ausländische Journalisten positionierten sich neben dem Friedenscamp, das mittlerweile aus über 90 Zelten und 400 jungen Aktivisten bestand. Das Camp wurde zum Symbol für alle, die ihr Recht auf ein Leben in Frieden einfordern wollten. Für Politiker wie Santos und europäische Botschafter, die den Friedensprozess unterstützten, war ein Besuch hier Pflicht.

"Eine Generation mit einem humanitären Gewissen hat sich dem Abstimmungsergebnis entgegengestellt. Sie haben gesagt: 'Diese Krise darf unsere Chance auf Frieden nicht zerstören'", so Antequera.

Humberto de la Calle (links), Chefunterhändler der kolumbianischen Regierung, und die FARC-Kommandanten Iván Márquez (Mitte) und Pablo Catatumbo (rechts) verkündeten am 7. Oktober 2016 ihre Bereitschaft, das Friedensabkommen neu auszuarbeiten. Foto via STR/AFP/Getty Images

Am 12. November verkündeten Radio- und Fernsehsender, in Havanna habe man sich auf ein neues Friedensabkommen geeinigt. Einundvierzig Tage nach dem Scheitern des Referendums posierten de la Calle und der FARC-Anführer Iván Márquez für ein Foto, das in die Geschichte eingehen sollte. Antequera war erfreut, sah aber auch ein, "dass der Weg zur Umsetzung des Abkommens noch sehr schwierig werden würde".

Junge Menschen waren maßgeblich für die Rettung des Friedensprozesses. "Sie haben Geschichte geschrieben", sagt der ehemalige Bürgermeister Mockus. De la Calle fügt hinzu: "Dass die jungen Leute immer wieder auf die Straße gegangen sind, war ein entscheidender Faktor. Erstens für uns als Bürger, zweitens als politische Botschaft, und drittens, weil sie etwas Totgeglaubtes wieder zum Leben erweckt haben." Er schreibt Paz a la Calle ohne Zögern die gleiche historische Bedeutung zu wie "Todavía podemos salvar a Colombia" ("Wir können Kolumbien noch retten"), einer Studentenbewegung von 1991, die den Weg für die aktuelle Verfassung ebnete.

In den nächsten Wochen wurden die Versammlungen von Paz a la Calle kleiner. Die Bereitschaftspolizei von Bogotá räumte das Friedenscamp sieben Tage nach Unterzeichnung des neuen Abkommens gewaltsam. Seither hat auch die Begeisterung für den Frieden nachgelassen.

"Mir war immer klar, dass die Bewegung ein Verfallsdatum hatte", sagt Antequera. De la Calle, der mittlerweile klingt, als wolle er sich für die Präsidentschaftswahlen 2018 bewerben, formuliert es weniger drastisch: "Hier geht es nicht um etwas Vorübergehendes. Es besteht große Hoffnung, dass Kolumbien den richtigen Weg wählt", sagte er mir.

Seit Kurzem teilt sich die neue Jugendbewegung in zwei Gruppen: Die eine besucht Kongresssitzungen, bei denen die gesetzlichen Grundlagen für den Friedensprozess diskutiert werden. Sie will sicherstellen, dass das Abkommen auch umgesetzt wird. Aus dem Namen "Paz a la Calle" wurde "Ojo a la Paz" ("Frieden im Blick"). Die andere Gruppe, meist ehemalige Camp-Teilnehmer, besucht die ländlichen Gebiete und Lager, in denen mehr als 6.000 FARC-Mitglieder zusammengekommen sind, um ihre Waffen abzugeben und ins zivile Leben zurückzukehren.

Die Jugend Kolumbiens hat ihrem Land wieder Hoffnung geschenkt, als der Frieden schon außer Reichweite wirkte. Antequera, die Studierenden des Schweigemarsches und alle, die in den kalten Oktobernächten auf dem Platz kampierten, haben wirksamen zivilen Widerstand betrieben und einen langen Krieg beendet, ohne einen einzigen Schuss zu feuern.

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