Einblicke in den Krieg der Erinnerungen auf den Friedhöfen im Kosovo
Gedächtnisfriedhof der "Befreiungsarmee des Kosovo" (UÇK) an der Grenze zu Mazedonien

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Einblicke in den Krieg der Erinnerungen auf den Friedhöfen im Kosovo

Der Kosovo-Krieg ist seit 1999 ein Teil der Geschichte. Auf den Friedhöfen des Landes toben die Konflikte aber weiter.

Alle Fotos von Emanuele Amighetti Es gibt einen Aspekt, der charakteristisch ist für Kosovos serbisch-orthodoxe Friedhöfe: Verlassenheit. Oft sind sie abseits der Hauptstrassen des Landes gelegen und so ist es nahezu unmöglich, sie zu bemerken, versteckt von Gestrüpp, hohem Gras und zu einem Schotterhaufen reduziert. Jede einzelne dieser Flächen namenloser Grabstätten weckt ein Gefühl von Grauen, Gewalt und eine Flut an Erinnerungen, die einen Krieg umreissen, der auch 17 Jahre nach seinem Ende noch nicht erledigt ist.

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Auf kosovo-albanischen Friedhöfen ist die Landschaft augenscheinlich anders: ordentlich, gepflegt, besucht. Hier sind das Grauen und die Gewalt unsichtbar. Es reicht jedoch, 1999 auf einem Grabstein zu lesen und die Geschichte der Toten zu studieren, um zu realisieren, dass die Gewalt bloss gut versteckt ist, verkleidet mit frischen Blumenbouquets.

Serbisch-orthodoxer Friedhof im südlichen Mitrovica, wo circa 90 Prozent der Grabsteine zerstört wurden. Die kosovarische Polizei muss Serben begleiten, wenn sie den Friedhof besuchen

Der Kosovokrieg begann 1998 und endete—zumindest offiziell—1999 nach der Intervention der NATO. Auf der einen Seite stand die jugoslawische Armee, auf der anderen die Befreiungsarmee des Kosovos. In etwas mehr als einem Jahr an Kämpfen erlitten beide Seiten tausende Opfer sowohl im Militär als auch in der Zivilbevölkerung. Was beide Fraktionen vereinte, war die unablässige Verübung der schrecklichsten Kriegsverbrechen.

Wenn man heute durch die Friedhöfe des Landes streift, begegnet man nicht selten dem Jahr 1999 auf den Gräbern der Verstorbenen. Das passiert beispielsweise in Kaçanik, an der Grenze zu Mazedonien. Hier liegen Kosovo-Albaner, viele von ihnen Opfer der brutalsten Massaker, die im Krieg verübt wurden. Die jugoslawischen Streitkräfte verfolgten die Zivilbevölkerung albanischer Ethnie, von Tür zu Tür gehend ermordeten sie diese gleich da, wo sie vorgefunden wurden. Dann schafften sie die Körper auf die Felder in der Umgebung, verbrannten die Leichen oder warfen sie in Massengräber.

Serbisch-orthodoxer Friedhof in Pristina. Die Kapelle wurde kürzlich renoviert, der Friedhof aber bleibt stark beschädigt

Ein Washington Post-Artikel vom 15. Juni 1999 thematisiert die Entdeckung eines solchen Massengrabes mit hunderten von Leichnamen darin. Das Massaker von Kaçanik ist einer der traurigsten Momente im kollektiven Gedächtnis der Kosovo-Albaner und die Stille, welche sich wie eine Decke über das Dorf legt, mutet nach dem unmenschlichen Chaos der Vergangenheit an wie ein Friedensversuch. Die rationale und ordentliche Rückbesinnung dieses Friedhofs, welcher noch immer von den Bewohnern des Dorfes besucht wird, um ihren Verwandten von 1999 Respekt zu zollen, läuft der Entfernung des Gedächtnisses entgegen, welche andere Orte im Land kennzeichnet.

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Staro Gracko ist ein kleines ländliches Dorf in Zentral-Kosovo, bestehend aus vier Strassen und einigen Gebäuden, umgeben von Kohl-, Weizen- und Kartoffelfeldern. Während und unmittelbar nach dem Krieg waren die meisten der 300 Einwohner serbischer Ethnizität und betrieben, was noch immer die Haupteinkommensquelle dieser Gemeinde ist: Landwirtschaft. Mit dem Ende des Krieges und dem Rückzug der jugoslawischen Armee wurden die Serben im Land Gewalt ausgesetzt, insbesondere auch wegen der Massaker, welche die serbische Armee in Dörfern wie Kaçanik verübt hatte.

Ein Gedächtnisfriedhof der "Befreiungsarmee des Kosovo" (UÇK) nahe Mitrovica, der "Friedhof der Märtyrer" genannt wird

Serbisch-orthodoxer Friedhof in Staro Gracko, wo am 23. Juli 1999 vierzehn Kosovo-serbische Bauern ermordet wurden. Einige der Leichen wurden verstümmelt und mit stumpfen Objekten verunstaltet

Die Rache von Staro Gracko war hasserfüllt. Am 23. Juli 1999 waren einige serbische Bauern nach einem Erntetag in den Weizenfeldern auf dem Weg nach Hause. Plötzlich wurden sie von unbekannten Angreifern attackiert und 14 von ihnen entführt, in einem Kreis aufgereiht und einer nach dem anderen ermordet. Als NATO-Kräfte in die Region kamen, fanden sie in den Feldern die Leichname, von denen einige verstümmelt und mit stumpfen Objekten verunstaltet worden waren.

Der serbisch-orthodoxe Friedhof von Staro Gracko, wo diese Leute ruhen, ist ein Quadrat inmitten eines Feldes, umgeben von einem rostigen Geländer. Man muss sich durch Gebüsch kämpfen und einen Weg durch wildwucherndes, hohes Gras bahnen, um die Gräber zu erreichen. Es sieht aus, als wäre seit Monaten niemand hierhergekommen und 17 Jahre nach dem Ende des Krieges vermuten einige, dass der Friedhof noch immer vermint ist. Da liegen die Trümmer entweihter Gräber, diesmal nicht das Resultat von Schändung der Körper, sondern deren Erinnerung, deren Grabsteine.

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Ein Grab auf einem serbisch-orthodoxen Friedhof in Staro Gracko, wo am 23. Juli 1999 vierzehn Kosovo-serbische Bauern ermordet wurden

Reist man durch den Kosovo, trifft man immer wieder auf ein ähnliches Szenario. Die Orte Milosevo, Plemetina, Istok und Livoç i Poshtëm bilden einen Flickenteppich serbisch-orthodoxer Friedhöfe, die selbst heute noch entweiht sind, im Versuch, die letzten Spuren der serbischen Erinnerung in kosovarischem Gebiet auszuradieren.

Ćikatovo, Meja, Cuska, Pusto Selo und dutzende andere Dörfer waren Schauplätze der von der serbischen Armee verübten Massaker an der albanischen Zivilbevölkerung, deren Erinnerung noch immer auf den jeweiligen Friedhöfen mit den Ziffern 1-9-9-9 in Stein gemeisselt ist. Das erklärt, ohne es zu rechtfertigen, warum der Wunsch nach Rache in den Köpfen dieser Leute fortbesteht und aufgrund familiärer und geographischer Bande mit den Massakern in Verbindung bleibt.

Die Leichen von 85 Kosovo-Albanern sollen in 35 neuen Gräbern auf dem Friedhof im Dorf Kacanik liegen

In Mitrovica trennt ein Fluss die serbisch-ethnische Minderheit im Norden von der albanischen Bevölkerung im Süden. Die Brücke, welche die zwei Stadtteile verbindet, bleibt geschlossen und von der NATO bewacht. Der Zugang der Gruppen in die jeweils anderen Stadtteile ist strikt limitiert. Es ist kein Zufall, dass die Serben, die ihre Verwandten auf dem Friedhof im Süden der Stadt besuchen wollen, eine Polizeieskorte benötigen. Einmal dort angelangt, bietet sich ein Panoramablick auf einen Hügel, der mit halb-zerstörten Grabsteinen übersät ist. Die Keramikbilder der Verstorbenen sind in mosaikartige Fragmente zerbrochen und in einigen Fällen ist es unmöglich, die Gräber der Angehörigen zu finden, derart gewaltig war die destruktive Kraft der Überfälle.

Heute herrscht im Kosovo kein Krieg mehr im buchstäblichen Sinne des Wortes. Die endlose Wiederholung der vier in Stein gehauenen Ziffern 1-9-9-9, die glorifizierten Gedenkstätten in allen Ecken des Landes und die Grabsteine der serbisch-orthodoxen Friedhöfe, die zu Schutt zerlegt wurden und andauernden Überfällen ausgesetzt sind—das sind die Zeichen eines "Kriegs der Erinnerungen", welcher in den Köpfen der Leute noch immer wütet.

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