Weltkugel im Hintergrund, vorne ein Fläschchen mit homöopathischen Globuli
Bild: imago images | Steinach/Joko ||  Montage: VICE 
Menschen

Wie die "Homöopathen ohne Grenzen" weltweit Menschen in Gefahr bringen

Epilepsie, Schlangenbiss, Trauma nach Vergewaltigung? Dieser Verein verteilt Zucker-Kügelchen an Kranke im globalen Süden.

Im Jahr 2007 reist Anja K. zum ersten Mal nach El Alto im Westen Boliviens. Die arme Stadt wächst rasant, immer mehr Menschen leben deshalb ohne Zugang zu Abwasser, Elektrizität und Gesundheitsversorgung.

K. will für einige Tage Patienten in der "Fabrica de vidrio" behandeln, einer bitterarmen, indigenen Trabantenstadt von El Alto. Aber Anja K. ist keine Ärztin, keine Psychologin, keine Psychiaterin. Sie ist nicht ausgebildet, medizinische Akutfälle zu kurieren oder schwer traumatisierte Kinder zu behandeln. Anja K. ist eine Heilpraktikerin aus Hessen – und behandelt mit Homöopathie.

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Mehrere, sehr gravierende Fälle dokumentiert sie öffentlich in einem Reisebericht, der als PDF abrufbar ist. Im Gespräch mit VICE bestätigt K., den Bericht selbst verfasst zu haben.

K. beschreibt darin einen 42-Jährigen mit einer Hodenschwellung, der sich sorge, zeugungsunfähig zu sein. Einige Monate zuvor sei bei einer Erkrankung der Hals angeschwollen, der Kopf habe ausgesehen wie eine Kartoffel. "Ich vermute, dass er Mumps hatte", schreibt K.

Eine Mutter kommt in die Sprechstunde, weil ihre neunjährige Tochter angefangen habe zu stottern. Sie könne nicht mehr lesen und rechnen und mache ins Bett. "Ich vermute das Thema Übergriff auf die Tochter", schreibt K.

Im Gefängnis von San Pedro will K. einen Mann behandelt haben, der wegen seines starken, unstillbaren Durchfalls schon im Fernsehen aufgetreten sein soll. Der Mann ist stark kokainabhängig, ihm sei ständig kalt, seine Zunge weiß.


Auch bei VICE: So wollen Gefrier-Fans den Tod überlisten


Und von einer 63-jährigen, verschuldeten Sekretärin schreibt K., nach dem Regierungswechsel habe sie Job und Wohnung verloren: "Während sie erzählt, fängt sie an zu weinen und sagt, dass sie gar nicht weiß, wie sie ihr Leben meistern soll, sie möchte am liebsten sterben."

K. verordnet dem Mann mit Hodenschwellung Pulsatilla C 200. Das Mädchen bekommt, nachdem es im Gespräch eine Vergewaltigung durch den Onkel zugegeben habe, Staphisagria C 200. Der Drogenabhängige Arsenicum album C 200. Zur depressiven Sekretärin ist vermerkt: "Für mich und meine Kollegin Birgit L. ist nach kurzer Absprache klar: Hier braucht es Aurum metallicum".

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Was K. verordnet hat, sind Globuli – homöopathische Zuckerkugeln. Es gibt keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass Homöopathika eine Wirkung haben, die über den Placebo-Effekt hinausgeht. Homöopathie ist Humbug. Die bekannte Homöopathie-Kritikerin Natalie Grams hält sie sogar für eine Einstiegsdroge in ein gefährliches, antiwissenschaftliches Weltbild. Im Homöopathie-Mutterland Deutschland – die "Heilkunde" wurde hier erfunden und der Weltverband sitzt hier – hält sich der Glaube an die Globuli trotzdem stabil.

Der Verein für grenzenlose Placebos

Nach Bolivien reiste K. im letzten Jahrzehnt mindestens vier weitere Male als Vertreterin der "Homöopathen ohne Grenzen". Der Verein sitzt in Hamburg und hat, nach eigenen Angaben, 320 Mitglieder. Regelmäßig entsenden die Homöopathen ohne Grenzen Freiwillige in Länder des globalen Südens. Das Ziel der Expeditionen sei "effiziente und nachhaltige medizinische Hilfe in Krisenregionen nach Kriegen, Naturkatastrophen und von Armut betroffenen Gebieten", heißt es auf der Webseite.

Medizin? Auch im Reisebericht von K. könnte man den Eindruck bekommen, sie sei Ärztin. Da ist die Rede von "Akutbehandlung", es geht um "Patienten", "Sprechstunden", "Behandlungen", "Fälle" – und sogar von "Heilung" ist die Rede. Das verstummte Mädchen und der Mann mit der Hodenschwellung seien wieder gesund. Über den Kokainabhängigen schreibt K.: "Er hat im ganzen Gefängnis von seiner 'Wunderheilung' erzählt."

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So freundlich und arglos wie K. wirkt: Ihr Verein ist gefährlich. Er betreibt mittlerweile ein weltweites Netzwerk. Und anders als K. traut sich der Vorstand nicht, sich der wachsenden Kritik zu stellen.

Ein Gespräch mit VICE lehnte die Geschäftsstelle mehrfach ab. Nach schlechten Erfahrungen gebe man nur noch "Interviews für medizinische und insbesondere für homöopathische Fachzeitschriften". Auf schriftliche Fragen bekamen wir keine Antwort.

Hier zeigt sich, was die Homöopathie-Kritikerin Grams meinen könnte, wenn sie vom "antiwissenschaftlichen Weltbild" spricht. Homöopathen drehen sich am liebsten um andere Homöopathen und werden ungern in ihrem Weltbild irritiert. Vielleicht kann man nur so einer 200 Jahre alten Theorie anhängen – obwohl ihr heute alle wissenschaftliche Evidenz widerspricht.

Also kontaktieren wir Anja K. direkt. Sie stimmt einem Gespräch zu, freut sich über das Interesse. Anja K. meint es gut, schwärmt von der Arbeit für die Ärmsten. Im Gespräch mit VICE wird deutlich, dass sie tatsächlich glaubt zu helfen.

Nach dem Interview kontaktiert uns der Verein. Man weist uns darauf hin, dass der Inhalt des Interviews "nur die private Meinung von Frau K." sei. K. sei nicht befugt, für den Verein zu sprechen. Dabei hat K. durchaus eine Funktion: Sie wird auf der Webseite als "Projektleiterin" geführt, ein Posten, der sogar in der Vereinssatzung auftaucht. Ein paar Tage später zieht K. per Mail alle Zitate zurück. Der Verein habe ihr von einer Veröffentlichung abgeraten, schreibt sie: Aus Angst, es werde "verdreht".

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Weltweite Doktorspiele

Allein 2019 verteilten die Homöopathen ohne Grenzen, laut Webseite, Zuckerkügelchen in Sierra Leone, Bolivien, Ecuador, Sarajevo, nochmal Bolivien und in deutschen Unterkünften für Geflüchtete. Auf der Webseite sind seit 1997 auch Einsätze in Iran, Honduras, Liberia, Mazedonien, Bosnien und Herzegowina, Ruanda, Serbien, Griechenland und Togo dokumentiert. Eine medizinische Qualifikation ist für die Teilnahme keine Voraussetzung. Für eine Mission als Wunderheiler zu den Ärmsten der Welt darf sich jeder bewerben, der fünf Jahre Berufserfahrung als Homöopath oder Homöopathin hat.

In vielen Ländern sind die Homöopathen ohne Grenzen bereits seit über zehn Jahren aktiv und haben die Quacksalberei made in Germany sogar institutionalisiert: Nach einem Erdbeben in Sri Lanka habe man "homöopathische Erste-Hilfe-Kurse" angeboten. In Bolivien, dem Dorf Rorinka (Sierra Leone) und Lamu (Kenia) betreibe der Verein "Lehrpraxen". In Rorinka werde seit 2017 eine "Grundausbildung von Health Workern" angeboten. In Ruanda engagieren sich die Homöopathen ohne Grenzen gerade dafür, dass Homöopathie vom Gesundheitsministerium anerkannt wird, heißt es. Damit – kein Scherz – die staatlichen Krankenkassen die Kosten übernehmen.

Schüler aus Lamu wollen erfolgreich Schlangenbisse und Epilepsie mit Homöopathie behandelt haben, geht aus den Reiseberichten hervor. Besonders oft ist dort auch die Rede davon, Durchfall sei mit Homöopathika geheilt worden. Erst einmal klingt das ähnlich ungefährlich, wie Globuli gegen Schnupfen zu schlucken: Hilft nicht, aber kann ja nicht schaden. Doch das täuscht: Magen-Infekte sind in Entwicklungsländern ein ernsthaftes Problem. Laut Ärzte ohne Grenzen tötet Durchfall weltweit mehr Menschen als Aids, Malaria und Masern zusammen.

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Die Hybris der Homöopathen ist grenzenlos. Als der US-Verein "Homeopathy for Health in Africa" behauptete, man heile auch AIDS mit Homöopathie, distanzierten sich die deutschen Homöopathen ohne Grenzen im Empörungssturm zwar. Im Falle von HIV-Infektionen fehle der wissenschaftliche Nachweis einer Wirkung. Aber: Als kurz darauf in Westafrika das Ebola-Virus ausbrach, beschwerten sie sich in einer Pressemitteilung: Ihnen werde eine "Notfallintervention" leider von der WHO untersagt. "Daher sind uns trotz unserer guten Kontakte in Westafrika die Hände gebunden."

Immer wieder gibt es Ärger

Globuli gegen Ebola? Der Medizinethiker David Shaw von der Universität Bern wird ziemlich sauer, wenn er das hört. "Wenn in Großbritannien jemand behaupten würde, er hätte Malaria oder HIV mit Homöopathie geheilt, würde man ihn zum Schweigen bringen." Im Süden machen die Homöopathen dagegen grandiose Versprechungen – ohne dass jemand nachprüfe.

Shaw sagt, es sei immer und überall unethisch, Homöopathie zu verordnen ("Weil sie einfach nicht wirkt"), aber in Entwicklungsländern ist es besonders perfide. "Im globalen Süden haben die Menschen niedrigere Level an Gesundheitskompetenz." Die Menschen verstehen also nicht unbedingt den Unterschied zwischen Medizin und Homöopathie. Und die Homöopathen verwischen diese Grenze bewusst selbst, indem sie ihren Namen an die Ärzte ohne Grenzen anlehnen.

Für Shaw ist das ganz klar Ausbeutung – auch wenn die Behandlungen wie bei den Homöopathen ohne Grenzen kostenlos sind. "Es ist keine finanzielle Ausbeutung, aber es nutzt die Notlage aus, um Propaganda für Homöopathie zu machen", sagt Shaw. "Und es schadet den Menschen."

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Shaw kritisiert die deutschen Homöopathen ohne Grenzen und ähnliche Vereine auf der ganzen Welt schon seit Jahren. Mit einem wissenschaftlichen Artikel löste er 2014 eine Kritikwelle aus. Damals schrieb er, die Homöopathen seien selbst ein Virus: Wenn ein Land geschwächt ist, durch eine Krise oder Armut, schlagen sie zu.

Eine kleine Petition versuchte nach Shaws Kritik, dem deutschen Verein die Gemeinnützigkeit entziehen zu lassen. Erfolglos: Laut aktueller Satzung gilt die Steuerbegünstigung noch immer. Das zuständige Finanzamt Hamburg bescheinigte den Homöopathen 2009 "öffentliche Gesundheitspflege, Bildung, Völkerverständigung und Entwicklungshilfe". Ob die Gründe für die Gemeinnützigkeit noch gelten, wollte das Finanzamt auf VICE-Anfrage wegen des Steuergeheimnisses nicht sagen.

Die freiwilligen Homöopathen bekommen für die Einsätze kein Geld, die Patienten zahlen nichts. Trotzdem könnte am Ende der Reise jemand profitieren: Für die Globuli-Hersteller ist der globale Süden bisher ein unerschlossener – und von lästigen Arzneimittel-Regelungen weitgehend freier – Markt. Auf der Seite der Homöopathen ohne Grenzen wird unter anderem der Augsburger Globuli-Hersteller Gudjons als "Förderer" aufgeführt.

Entrüstet bis belustigt berichteten auch deutsche Medien 2013 über die Homöopathen ohne Grenzen. Anke Engelke drehte einen Sketch, in dem sie als Homöopathin ohne Grenzen einem schwer verletzten Verkehrsunfall-Opfer zu Hilfe eilt. "Lösen Sie hiervon drei Stück in 100 Milliliter Wasser auf, schütteln Sie dreimal und wenn in ein paar Jahren die Beschwerden nicht weg sind – Dosis erhöhen!"

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In Wirklichkeit ist die Arbeit des Vereins aber nicht bloß lächerlich und skurril, sondern niederträchtig und gefährlich. Wer zum deutschen Arzt geht, kann zwischen Homöopathie und Medizin wählen. In den Einsatz-Ländern im globalen Süden sind Ärzte rar. Die Weißen Retter aus Deutschland spielen sich auf und täuschen die Verletzlichsten – manchmal sogar bewusst, wie man im Bericht von Anja K. nachlesen kann.

Im Gefängnis habe K., schreibt sie, auch auf der Kinderstation ausgeholfen. Die Kinderärztin des Gefängnisses habe besonders die Kinder zu ihr geschickt, die nach wiederholter Antibiose nicht genesen waren. Oft seien die verzweifelten Eltern wegen der geringen Größe der Kügelchen skeptisch gewesen. "Ich habe dann zusätzlich Vitamintabletten mit 2 cm Durchmesser verteilt, damit waren auch die Eltern zufrieden", schreibt K.

Zurück nach Bolivien

Der Bericht von K. ist 12 Jahre alt, aber Bolivien war bis 2019 eines der Haupteinsatzländer des Vereins und zeigt gut das Ausmaß des Irrsinns. 2009 unterschreibt das Ministerium für traditionelle Medizin die Erlaubnis für eine Lehrpraxis und einen Kooperationsvertrag für die Ausbildung neuer Homöopathen, heißt es. Heute praktizieren diese Schüler schon selbst.

Als im Herbst 2019 der Amazonas-Regenwald brannte, loderten auch in Bolivien die Flammen, auf einer Fläche von der Größe der Niederlande. Mindestens fünf Menschen starben. Einige Monate später landete Anja K. wieder in Bolivien, so ein Bericht auf der Webseite. Dort sei sie eingeladen worden, um bei der Freiwilligen Feuerwehr den Kurs "Erste Hilfe mit Homöopathie für die freiwilligen HelferInnen" zu geben.

Auf einer öffentlichen Informationsveranstaltung habe sie auch kritische Fragen beantworten müssen, denn mittlerweile gebe es auch in Bolivien Homöopathie-Skeptiker. Aber K. ist vorbereitet und optimistisch. Sie gibt, glaubt man ihrem Bericht, zwei Interviews im Fernsehen und eins im Radio und besucht das Dorf Ikahuara, wo ein Schamane und Behörden einem mögliche Projekt der Homöopathen ohne Grenzen wohlgesinnt gegenüberstünden. Schon in einem ihrer frühen Berichte zitierte K. den wohlgesinnten, befreundeten Schamanen:

"Der Samen der Homöopathie ist in Bolivien gelegt. Nun braucht er Zeit und guten Boden, um aufzugehen."

Update vom 2. März, 11:00 Uhr: In einer vorherigen Version des Artikels haben wir den Begriff "Schulmedizin" verwendet. Der Begriff stammt vom Homöopathie-Erfinder Samuel Hahnemann und seinen Anhängern, die damit etablierte Medizin verunglimpfen wollten. Wir haben die Textstelle daher geändert.

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