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Türkisches Referendum

Was kommt in der Türkei nach dem Wahlkampf gegen "Nazi-Deutschland" und "faschistisches Europa"?

Seit Wochen setzt der türkische Staatspräsident Erdoğan​ im Wahlkampf zum Referendum auf Hetze gegen Österreich, Deutschland und die EU. Doch wie wird es zwischen der Türkei und den europäischen Staaten nach dem Referendum weitergehen?
Erdoğan-Sympathisanten bei einem Besuch des türkischen Politikers 2014 in Wien. Foto: VICE Media

Titelbild: Erdoğan-Sympathisanten bei einem Besuch des türkischen Politikers 2014 in Wien. Foto von VICE Media

Noch hat Recep Tayyip Erdoğan nicht auf ganzer Strecke gewonnen. Der türkische Staatspräsident und die Regierungspartei AKP haben es bisher nicht eindeutig geschafft, eine Mehrheit der türkischen Bevölkerung vom geplanten Präsidialsystem zu überzeugen.

Die Umfragen zum Referendum am 16. April, mit dem das Präsidialsystem bestätigt werden soll, sagen aktuell sogar ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Befürwortern und Gegnern voraus.

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Was die AKP mit Argumenten für das Präsidialsystem nicht erreicht hat, soll jetzt ein Bedrohungsszenario erwirken, in dem sich die türkische Bevölkerung vom Ausland angegriffen fühlen und deswegen hinter der eigenen Staatsführung sammeln soll.

Es ist fraglich, ob die türkische Regierung mit ihren verbalen Eskalationen die politischen und ökonomischen Beziehungen zum Westen nicht dauerhaft beschädigt.

Die antiwestliche Hetze mag im Sinne des Wahlkampfes in der Türkei wirksam sein. Es ist aber fraglich, ob die türkische Regierung mit dieser verbalen Eskalation nicht dauerhaft die politischen und ökonomischen Beziehungen zum Westen im generellen und der Europäischen Union im besonderen beschädigt.

Trotz der vermeintlich selbstsicheren Äußerungen der türkischen Regierung, ist die Türkei auf die Beziehungen zum Westen angewiesen. 48 Prozent der Importe stammen aus der EU und 58 Prozent des Exports geht in die EU. Deutschland ist der der größte Handelspartner der Türkei mit 13 Prozent der Gesamtimporte und 14 Prozent der Gesamtexporte.

Der türkische Tourismussektor ist insbesondere nach dem Wegfall der russischen TouristInnen auf die deutschen und österreichischen UrlauberInnen angewiesen. In dieser Lage die Beziehungen zu Österreich, Deutschland und anderen europäischen Ländern in Gefahr zu bringen, birgt mittel- und langfristig große Risiken für die türkische Wirtschaft.


Unser Video von Recep Tayyip Erdoğans Besuch in Wien 2014:

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Die AKP-Regierung plant aber derzeit nicht für längere Zeiträume, sondern lediglich bis zum Referendumstag am 16. April. Wahrscheinlich setzt die türkische Regierung darauf, nach dem gewonnenen Referendum die Beziehungen zum Westen wieder reparieren zu können – nicht zuletzt, weil der Westen die Türkei als Bündnispartner im Nahen und Mittleren Osten braucht.

Ein autokratisches Präsidialsystem in der Türkei wird dabei kein Hindernis darstellen. Der Westen und die EU kooperieren mit solchen Regimen hervorragend – zum Beispiel in Ägypten und Aserbaidschan. Es kommt lediglich darauf an, ob diese Regime die politischen und ökonomischen Interessen des Westens bedienen können und wollen. Autoritär hergestellte Stabilität wird aus Sicht des Westens begrüßt, wenn sie den eigenen Interessen dient.

Die eher moderaten Reaktionen aus Deutschland und anderen Ländern der EU scheinen diese Annahme zu bestätigen. Während aus Ankara tagtäglich die schrillsten Anschuldigungen zu hören sind, ist man in Wien, Berlin und Brüssel höchstens "besorgt" und findet die türkischen Äußerungen zum Beispiel "nicht hilfreich".

Kein Politiker und keine Partei kann sich in Wahlkampfzeiten eine öffentliche Nähe zur Erdoğan und der türkischen Regierung leisten.

Von außen könnte man fast den Eindruck gewinnen, als sei Deutschland im politischen und ökonomischen Vergleich der Türkei unterlegen – und nicht anders herum. Wenn die türkische Regierung also davon ausgehen kann, dass nach dem gewonnenen Referendum die traditionell guten Beziehungen zu Deutschland wiederhergestellt werden, dann kann sie auf gute Beziehungen zur Gesamt-EU hoffen, in der Deutschland nach wie vor federführend ist. Das gilt auch für Österreich – trotz der deutlichen Kritik von Außenminister Sebastian Kurz an Erdoğan.

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Für die Zeit nach dem Referendum gibt es aber ein zweites mögliches Szenario. Die Europäische Union könnte ihre bisherige Politik ändern und in Verhandlungen mit der Türkei eher auf sichtbaren Druck setzen und sich öffentlich von Erdoğan distanzieren. In Deutschland und Frankreich, den wichtigen Staaten der EU, stehen bundesweite Wahlen bevor und die öffentliche Meinung in beiden Ländern ist eindeutig gegen Erdoğan und den türkischen Staat insgesamt.

So wie die türkische Außenpolitik vom Bemühen der AKP geprägt ist, das Referendum zu gewinnen, wird die Außenpolitik Deutschlands, Frankreichs und der EU vom Wahlkampf der regierenden Parteien in Europa geprägt werden. Kein Politiker und keine Partei kann sich in Wahlkampfzeiten eine öffentliche Nähe zur Erdoğan und der türkischen Regierung leisten.

Eine Distanzierung von Erdoğan seitens europäischer Politiker ist bereits zu beobachten. Die offene Frage ist, ob diese verbalen Distanzierungen auch zu einem realen Abbruch der Beziehungen zur türkischen Staatsführung führen werden. Denkbare Schritte wären die Einstellung der EU-Finanzhilfen für den EU-Beitrittsprozess der Türkei und Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei. Ebenso vorstellbar ist etwa der Abbruch der EU-Beitrittsgespräche insgesamt.

In Punkto Flüchtlingsdeal stehen die Regierungen der EU-Länder vor einem Dilemma.

Deutlich komplizierter wird es beim EU-Türkei-Flüchtlingsdeal. Während einerseits politische Kooperationen mit der Türkei derzeit nicht gerne gesehen sind und den regierenden Parteien in der EU Stimmen kosten können, sind aus der Perspektive der rechten und konservativen Wähler Geflüchtete ebenfalls nicht gerne gesehen.

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Hier stehen die Bundesregierungen von Österreich, Deutschland und anderen EU-Ländern vor einem Dilemma: Wenn sie der Anti-Erdoğan- und Anti-Türkei-Stimmung am rechten Rand nachgeben und den Deal mit der Türkei aufkündigen, könnte dies dazu führen, dass die Türkei mehr Geflüchtete nach Europa durchlässt. Dies wiederum würde aber auch zu Stimmenverlusten im rechten Lager führen und rechten Parteien erst recht Aufschwung geben. Wahrscheinlich ist also, dass sich die europäischen Regierungen von der türkischen Regierung verbal distanzieren, der Deal gegen Geflüchtete aber weiter aufrechterhalten wird.

Die Konflikte zwischen Europa und der Türkei werden sich in den nächsten Jahren aber nicht nur auf die staatliche Ebene beschränken. Die Aktivitäten der türkischen Regierung in Europa – sei es der Wahlkampf zum Referendum oder die Bespitzelungen durch Imame der türkischen Religionsbehörden – führen zu einem wachsenden Unmut in der Öffentlichkeit über die sogenannten "innertürkischen" oder "importierten" Konflikte.

Weil eine Mehrheit der türkeistämmigen Menschen in Österreich und Deutschland eher mit Erdoğan und der türkischen Regierungspartei AKP sympathisiert, werden diese Menschen wiederum stellvertretend für die türkische Politik angegriffen.

In der Hitze des Gefechts wird oft nicht hingeschaut, wie sich die Türkeistämmigen selbst politisch verorten. So wird schnell aus einer vermeintlichen Erdoğan-Kritik die Forderung abgeleitet, alle Türkeistämmigen müssten sich öffentlich bekennen – und wer sich falsch bekennt, müsste Europa verlassen.

Diese feindliche Stimmung treibt jedoch die türkeistämmigen Menschen direkt in die Arme Erdoğans und der AKP, die sich seit Jahren als Beschützer der Türken in Europa inszenieren.

Ismail auf Twitter: @ismail_kupeli

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