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Syrien

Die Rakka-Tagebücher: So leben die Menschen in der "Hauptstadt" des IS

Ein BBC-Korrespondent hat die Berichte eines 24-Jährigen aus der besetzten Stadt veröffentlicht.

Das syrische Rakka ist einer der isoliertesten Orte der Welt. Seit Anfang 2014 herrscht die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) über die Stadt am Euphrat und ihre Einwohner. Unter dem Regime der Islamisten können schon Rauchen, Fernsehen und Verstöße gegen die Kleiderordnung mit Peitschenhieben bestraft werden, auf schlimmere Vergehen stehen Strafen wie Amputationen oder der Tod.

Eine Gruppe, die die Gräueltaten der Terrororganisation dokumentiert, ist Raqqa Is Being Slaughtered Silently. Ein Großteil der Aktivisten hat allerdings aus Angst um ihr Leben die Stadt verlassen. Der IS kontrolliert streng, welche Informationen nach Rakka rein und raus gelangen – bei Kommunikation mit westlichen Journalisten droht die Todesstrafe. Umso erstaunlicher ist, dass BBC-Korrespondent Mike Thomson jemanden finden konnte, der bereit war zu reden.

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Samer (nicht sein echter Name) ist ein 24-jähriger Student aus Rakka. Er will der Welt seine Geschichte erzählen, auch wenn er damit sein Leben in Gefahr bringt. Im Laufe des letzten Jahres schickte Samer Mike Thomson Tagebucheinträge in Form verschlüsselter Nachrichten über ein Drittland. Sie beschreiben die Hoffnungslosigkeit und Brutalität in der "Hauptstadt" des IS.

Samer ist Teil von Al-Sharqiya 24, einer kleinen Gruppe von Aktivisten. Er beteiligte sich an den Aufständen gegen Präsident Assad, bevor seine Stadt 2013 in die Hände der Freien Syrischen Armee und einer Gruppe militanter Islamisten fiel. Kurz darauf tauchten in Rakka "Fremde", wie er sie nennt, unter dem Banner des IS auf und übernahmen die Kontrolle. Samer blieb länger als die meisten Gemäßigten in seiner Heimatstadt, aber inzwischen ist auch er geflohen. Die Veröffentlichung seiner Tagebucheinträge in dem Buch The Raqqa Diaries: Escape From 'Islamic Sate' rückte ihn ins Visier der Islamisten.

Ich habe mich mit dem Journalisten Mike Thomson über Samer und sein Leben unter dem IS unterhalten.


Zum Thema: Unsere Dokumentation über den Islamischen Staat


VICE: Wie bist du mit Samer in Kontakt gekommen?
Mike Thomson: Ich habe einige Tage in den sozialen Netzwerken nach Menschen in Rakka gesucht, die reden wollten. Ich kam in Kontakt mit der Aktivistengruppe Raqqa Is Being Slaughtered Silently, allerdings waren alle, die sie kannten, bereits geflohen. Schließlich bekam ich eine WhatsApp-Nummer. Ein paar Tage später erhielt ich eine Nachricht mit der Frage: "Was hast du vor?" Das war mein erster Kontakt mit Samer.

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Anfangs nahmen wir Audio-Interviews für das Radio auf, aber Samer und seine Freunde fanden das schließlich zu riskant. Für jedes unserer Gespräche mussten sie sich verdächtiges Audio-Equipment beschaffen und spezielle Sicherheitsvorkehrungen treffen, damit man sie nicht im Internet zurückverfolgen konnte. Sie hatten auch Angst, dass der IS, der behauptete über Stimmerkennungstechnologie zu verfügen, ihnen auf die Schliche kommt. Sie wussten zwar nicht, ob das tatsächlich stimmt, aber es reichte aus, um sich Sorgen zu machen. Samer fing dann an, mir seine Tagebucheinträge zu schicken.

Was verraten uns seine Berichte über das Leben unter dem IS?
Ich hatte mit Schilderungen von Gewalt gerechnet, aber sie waren dann so detailliert beschrieben, dass sie mich trotzdem noch schockiert haben. Alles, vom Abwenden des Blicks beim Anblick einer öffentlichen Hinrichtung bis hin zur Länge der Hose, gilt als Akt des Ungehorsams. Die Menschen bleiben in ihren Häusern und wegen des Scharia-Zwangsunterrichts sind viele Geschäfte geschlossen. Trotz allem gibt es noch Humor. In einem Tagebucheintrag macht Samer Witze darüber, wie er Peitschenhiebe riskiert, weil er seiner Mutter beim Abwasch hilft und zu spät zum Scharia-Unterricht kommt. Ich kann kaum fassen, wie belastbar Menschen wie Samer sind.

Samer riskiert mit den Berichten sein Leben. Warum?
Samer hat mir mal von einem Massaker erzählt, das 1982 in der Stadt Hama, 130 Kilometer nördlich von der Hauptstadt Damaskus, stattgefunden hat. Die Truppen des damaligen Präsidenten Hafiz al-Assad töteten dort zwischen 20.000 und 40.000 Menschen. Genaue Zahlen gibt es nicht, weil keine Journalisten darüber berichtet haben. Die Geschichten der Opfer gerieten in Vergessenheit. Samer will nicht, dass sich das gleiche in Rakka wiederholt. Mit seinen Tagebucheinträgen, in denen er über Gräueltaten wie Kreuzigungen und Folter berichtet, verhindert er in seinen Augen, dass das Geschehene vergessen wird. Für ihn war das Schreiben befreiend. Er sagte: "Wenn dich eine große Sorge plagt, ist es dann nicht besser, wenn du sie mit der Welt teilen kannst?"

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Hast du dich für ihn verantwortlich gefühlt?
Als er einwilligte, mir seine Berichte zu schicken, sagte er: "Mein Leben ist in deinen Händen." Ich musste sehr vorsichtig sein, nichts zu enthüllten, was auf ihn zurückführen lässt. Im letzten Jahr gab es Phasen, in denen ich wochenlang nichts von ihm gehört habe. Irgendwann erreichte mich die Nachricht von zwei syrischen Aktivisten, die Rakka verlassen und in der Türkei getötet worden waren. Samer hatte mir seit zwei Wochen nicht geschrieben und ich kannte die Namen der Toten nicht. Ich machte mir große Sorgen.

Wissen die Menschen in Rakka von den Raqqa Diaries?
Ich habe vor ein paar Wochen mit Samer gesprochen und er meinte zu mir, dass die im Internet zugänglichen Teile der Tagebücher bei den Aktivisten sehr beliebt sind. Sie wurden ins Arabische übersetzt. Sie haben sogar dazu geführt, dass der IS seine eigene Version mit dem Namen "A Young Man from Raqqa" ins Leben rief. Darin beschreiben sie, wie toll alles dort angeblich ist.

Samer hat die Stadt verlassen. Wo möchte er jetzt hin?
Er spricht in seinem Tagebuch darüber, wie sehr er die Stadt liebt. Er will dorthin zurückkehren. Er glaubt, dass es an Menschen wie ihm liegt, die studiert haben, das Land wieder aufzubauen. Ich habe ihn gefragt, ob er nach Europa möchte, aber er will nicht. Er hat gehört, dass Flüchtlinge hier schlecht behandelt werden, und dass er seine Familie nicht verlassen möchte. Samer versucht nicht zu viel über die Zukunft nachzudenken. Er hasst das Assad-Regime genauso wie den IS. Er befürchtet, dass Rakka wieder von Regierungstruppen regiert wird, sobald der IS geschlagen ist. In seinem Tagebuch schreibt er, dass er einen älteren Freund um Rat fragte, wie er mit den angsteinflößenden Umständen in seinem Leben klarkommen soll. Sein Freund sagte: "Stell dir vor, du balancierst auf einem Seil zwischen zwei Bergen. Die Gegenwart ist der Boden unter dir. Lauf geradeaus. Konzentrier dich nur darauf, den anderen Berg zu erreichen. Schaue niemals nach unten."

The Raqqa Diaries: Escape From 'Islamic State' ist jetzt im Handel erhältlich

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