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Justiz

Reichen 71.000 Euro Entschädigung für eine HIV-Infektion?

Ein Mann lügt, seine Partnerin infiziert sich. Die AIDS-Hilfe sagt, es sollte gar keine Strafe geben. Wer hat Schuld? Ein moralischer Mindfuck.

Es gibt Fragen, die uns in Abgründe stürzen. Darf man Menschen töten, um viel mehr Leben zu retten, wie im Theaterstück Terror. Oder das aus dem Roman Sophies Entscheidung. Eine jüdische Frau hat zwei Kinder und wird von einem Nazi vor die Wahl gestellt: Entweder beide Kinder werden getötet oder sie muss das aussuchen, das weiterleben darf.

Und dann gibt es diese Dilemmata, die eben nicht aus der Literatur stammen, sondern aus dem Leben. Ende 2015 lebten rund 84.700 Menschen mit HIV in Deutschland, schätzt das Robert Koch-Institut. Von ihnen wissen rund 15 Prozent nicht, dass sie infiziert sind. Das sind 12.600 Menschen. 3.200 Menschen haben sich 2015 neu mit dem Virus infiziert. Wer trägt aber nun die Verantwortung für die Infektionen? Derjenige, der über seine Krankheit weiß, es nicht sagt und ungeschützt mit Menschen schläft? Derjenige, der sich nicht testen lässt? Derjenige, der nicht nachfragt und sich selbst in Gefahr bringt?

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In einem aktuellen Fall urteilte das Oberlandesgericht München: Ein Mann muss einer Frau 71.000 Euro Schmerzensgeld zahlen, weil er sie getäuscht und angesteckt hat. Seine Ex-Frau war an Immunschwäche gestorben. Seine neue Partnerin wollte – so sagt es die Frau –, dass er vor dem ersten ungeschützten Sex einen AIDS-Test macht. Der Mann allerdings ist darauf hin nur zum Gesundheitscheck gegangen und hat seiner Partnerin versichert, alles sei OK. Das war 2012. Die heute 60-Jährige hat sich durch den ungeschützten Sex mit ihm infiziert.

Vorneweg: Um Leben und Tod geht es heutzutage nicht mehr, wenn wir über HIV sprechen. In vielen Köpfen ist eine HIV-Infektion gleichbedeutend mit AIDS und damit gleichbedeutend mit dem frühen Tod. Durch neue Medikamente und Behandlungsmöglichkeiten ist das aber schon länger nicht mehr der Fall. Die Lebenserwartung von HIV-Infizierten ist zumindest in Deutschland nicht sehr viel niedriger als die von HIV-negativen Menschen. Trotzdem heißt HIV: ein Leben mit Medikamenten und leider immer noch Ausgrenzung.

Das Urteil des Gerichts: Er hat ihr durch sein Verhalten einen lebenslangen Schaden zugefügt. Er hat sie angelogen und ist schuld, dass sie jetzt ihr Leben lang mit HIV zu leben hat.

Die Deutsche AIDS-Hilfe sagt: Ihn trifft keine Schuld, zumindest keine, über die vor Gericht verhandelt werden sollte.

"Sofern dieser Mann gelogen hat, ist das tragisch und zu bedauern", sagt Holger Wicht, Sprecher der Deutschen AIDS-Hilfe gegenüber VICE. "Aber Gerichtsverhandlungen sind nicht geeignet, um über Lügen in Beziehungen zu streiten."

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Darf ein Gericht entscheiden, was moralisch richtig ist oder falsch?

Zivilgesellschaftliche Organisationen aus ganz Europa – darunter auch die Deutsche AIDS-Hilfe – haben 2012 in ihrer Osloer Deklaration gefordert, dass die Kriminalisierung abgeschafft wird. Sprich: Jeder Mensch ist für seinen eigenen Schutz verantwortlich. Der Ungeschützte könne gar nicht davon ausgehen, dass der andere ihn informiert, weil der Infizierte oft gar nichts von seiner Krankheit wisse.

Das klingt plausibel, und trotzdem muss nun eine Frau aus München mit dem Virus leben, nachdem der Mann sie angelogen hat.

Vor Gericht leugnete der Mann sogar, dass es das HI-Virus überhaupt gebe. Seine Anwältin entschuldigte sich bei den Prozessbeteiligten sogar dafür, dass sie im Auftrag ihres abwesenden Mandanten die Einschätzung einer Ärztin vorlas, in der es hieß, das HI-Virus gebe es nicht und die Immunschwächekrankheit AIDS habe damit nichts zu tun. Der Anwalt der infizierten Frau bezeichnete dieses Statement als "weiteren Schlag ins Gesicht" seiner Mandantin. Die Frau muss jetzt mit den realen Konsequenzen weiterleben. Hat sie nicht alles richtig gemacht, vor dem Sex nach einem Test verlangt, und wurde nur getäuscht?

In erster Instanz hatte das Landgericht München der Frau noch 160.000 Euro zugesprochen. Das Oberlandesgericht beschäftigte allerdings die Frage, wann die Infektion passierte. Denn: Die Frau schlief weiter mit dem Mann, als sie schon Zweifel an dem Test gehabt haben könnte. Eine "eigenverantwortliche Selbstgefährdung" ist laut Gericht deshalb nicht ausgeschlossen.

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"Wer sich mit HIV infiziert hat, sollte sich nicht selbst mit Schuldzuweisungen überziehen", sagt Holger Wicht von der AIDS-Hilfe. "Fehler zu machen oder aus Leidenschaft auf Schutz zu verzichten, ist menschlich. Dafür muss man sich nicht selbst drangsalieren. Aber man sollte sich dann bewusst machen, dass man selbst mit seinem Verhalten zu der Infektion beigetragen hat. Man kann die Verantwortung nicht einfach dem anderen zuschieben."

Wer trägt die Schuld in Situationen, in denen ein Mensch nichts davon weiß, dass er HIV-positiv ist (oder nichts davon wissen will, wie in diesem Fall)? Klar, vor ungeschütztem Sex sollten beide Partner einen Test machen. Ja, jeder einzelne trägt Verantwortung in einem System, das nie 100-prozentig sicher sein wird. (Es fängt schon dabei an, dass Kondome reißen können.) Aber wann hört die Verantwortung auf? Wenn einer zu seinem Schutz nicht dringlich genug auf den Test des anderen gepocht hat? Muss man sich den Test sogar zeigen lassen? Trägt man schon Verantwortung, wenn man seinem Partner vertraut, wenn der sagt, er sei negativ?

"Das Strafrecht sieht solche Fälle mit einer Täter-Opfer-Logik", sagt Wicht von der AIDS-Hilfe. "Der eine tut dem anderen aus Eigennutz etwas Böses. Das passt aber nicht, um eine sexuelle Situation zu beschreiben, in der Leidenschaft und Angst im Spiel sind. Der HIV-Positive verschweigt seine Krankheit meist nicht aus bösem Willen, sondern aus Angst, etwa, den Partner zu verlieren, wenn er es sagt. HIV ist noch immer mit sozialer Ausgrenzung verbunden."

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Aber werden damit nicht Lügen gerechtfertigt, die die Gesundheit und das weitere Leben der anderen maßgeblich beeinflussen? Wo ist die Chance, sich selbst zu schützen, wenn das Vertrauen in Worte missbraucht wird?

Die Frage wird zum größeren Mindfuck, je länger man darüber nachdenkt. Was ist Schuld in einem Fall, in dem es weder Täter noch Opfer gibt, weil beide von der Tat nichts wussten?

Ich weiß es nicht.

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