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DIE WIR HABEN EUCH VERMISST AUSGABE

Die Probleme mexikanischer Migranten und die Menschen, die ihnen helfen

Durch Mexiko zu reisen, ist gefährlicher denn je. Eine Organisation versucht zu helfen.

Das Zentrum für humanitäre Migrantenhilfe beherbergt Dutzende Migranten, doch da die Vorräte oft knapp sind, ist es schwierig, sie alle zu versorgen. Fotos von Jose Luis Cuevas

Aus der ,Wir haben euch vermisst'-Ausgabe

Als eine Gang im honduranischen El Progreso drohte, ihn zu töten, wusste Ivan Castillo, dass die Männer es ernst meinten. Sie hatten bereits zwei seiner Brüder ermordet, und Castillo schuldete ihnen Geld. „Ich war verzweifelt", sagte mir der 22-Jährige. Er konnte seine Schulden nicht begleichen, und nachdem ein Bandenmitglied ihn auf seiner Arbeit aufsuchte, beschloss Castillo, in die USA zu fliehen. Er und sein überlebender Bruder verließen Honduras letzten Herbst. Sie wollten nach Tapachula, einer Stadt im südmexikanischen Staat Chiapas, wo Castillos Mutter und Stiefvater warteten.

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Wochen später war Castillo mit seiner Familie auf dem Weg nach Chahuites, immer entlang der Gleise in nordwestliche Richtung. Diese nächste Station auf der Durchquerung Mexikos war mehr als 1.600 Kilometer von der US-Grenze entfernt. Sie verließen die relative Sicherheit ihres gemieteten Vans, um nicht an einem der Checkpoints, die in Südmexiko heute zahlreich sind, aufgehalten und womöglich deportiert zu werden. Da griffen sie zwei bewaffnete Männer aus dem Hinterhalt an und befahlen der Familie, sich hinzusetzen und auszuziehen.

Die Banditen nahmen das gesamte Geld der Familie—270 Pesos, also etwa 14 Euro—und ein Handy. Bevor sie weiterzogen und die Männer sich anziehen durften (Castillo hatte sie überzeugt, seiner Mutter das Entkleiden zu ersparen), warnten die Banditen die Familie, sie solle sich von den Gleisen fernhalten: Eine weitere Gruppe Banditen warte entlang der Strecke, und diese würde Castillos Mutter nicht respektieren.

VOR ZWEI JAHREN SAHEN SICH zentralamerikanische Migranten auf dem Weg nach Norden selten solchen Räuberbanden gegenüber, zumindest in Südmexiko. Migranten reisten über La Bestia (die Bestie), eine berüchtigte Reihe von Güterzügen, nach Chiapas und Oaxaca. Die Gleise führten durch Chahuites, ein verschlafenes Küstenstädtchen mit knapp 11.000 Einwohnern. Zwar war La Bestia nie sicher, doch die Züge erlaubten es den Migranten, die potenziellen Gefahren von Orten wie Chahuites und die dünn besiedelten Landstriche zu vermeiden. Doch das war vor Frontera Sur, dem südlichen Grenzprogramm der mexikanischen Regierung. Es wird von den USA unterstützt und soll zentralamerikanische Migranten davon abhalten, nach Mexiko zu gelangen. Nur wenige nehmen noch La Bestia. Um Grenzbeamten zu entgehen, durchqueren sie tagelang Hügel und Dschungel, um kleine Städte wie Chahuites zu erreichen.

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Sie folgen den Gleisen, denn diese sind ihr einziger Anhaltspunkt in einem fremden Land. So werden sie leicht Opfer von Dieben und Vergewaltigern, die im dichten Grün des südöstlichen Oaxaca lauern.

Der mexikanische Präsident Enrique Peña Nieto kündigte Frontera Sur als ein Programm an, das die Sicherheit von Migranten erhöhen würde. Als es im Sommer 2014 implementiert wurde, sagte Peña Nieto: „Wir können für eine würdevolle und humane Behandlung der Migranten sorgen." Doch Kritiker bemängeln die fehlende Transparenz des Programms. Peña Nietos Regierung hat keine Einzelheiten zur Umsetzung von Frontera Sur oder dem Schutz der Migranten veröffentlicht. Im Juni 2014 befand sich die Kindermigrantenkrise auf dem Höhepunkt. So viele unbegleitete zentralamerikanische Minderjährige ohne Papiere erreichten die USA wie noch nie zuvor. Mit der Implementierung im Juli 2014 und Juni 2015 stieg die Abfangrate zentralamerikanischer Migranten und potenzieller Flüchtlinge in Mexiko um 71 Prozent.

Seit 2011 haben die USA stark in die Modernisierung mexikanischer Checkpoints und Auffanglager investiert sowie mexikanische Beamte ausgebildet, die entlang der guatemaltekischen Grenze patrouillieren. 2014 wurde das Budget hierfür erhöht. Die Zahl der zentralamerikanischen Migranten, welche die US-Grenze erreichen, ist seit Einführung von Frontera Sur stark gesunken, auch wenn es Schwankungen gegeben hat. Präsident Barack Obama, der im Laufe der Kindermigrantenkrise in der Kritik stand, pries Frontera Sur. „Ich schätze die Bemühungen Mexikos sehr, sich um die unbegleiteten Kinder zu kümmern, die im Sommer so zahlreich ankamen", sagte Obama nach einem Treffen mit Peña Nieto vergangenes Jahr. „Zum Teil dank des starken Einsatzes Mexikos, auch an seiner Südgrenze, sind diese Zahlen wieder auf einen überschaubaren Umfang gesunken."

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Doch eine deutliche Folge des Programms ist eine Zunahme der Angriffe auf Migranten, wie jener auf die Familie Castillo. Entführungen und Vergewaltigungen nehmen zu, Raubüberfälle sind um mehr als 80 Prozent gestiegen und Migranten suchen in Einrichtungen entlang des Weges Schutz.

Isais Luis Betanzos, ein Beamter der Bundes-staatspolizei, klagt darüber, wie leicht Banditen Migranten angreifen und sich dann unter die Lokal-bevölkerung von Chahuites mischen können.

An einem heißen, sonnigen Tag letzten Oktober war ich dabei, als sich ein Team von neun Polizeibeamten auf Lokal- und Bundesstaatsebene in zwei Pick-up-Trucks setzte. Die Beamten auf den Ladeflächen hielten große Sturmgewehre. Das Team verließ Chahuites für eine Patrouille in Richtung Südosten, wo die Banditen operieren.

Antonio Fuentes saß vorne im ersten Truck. Er arbeitet ehrenamtlich im Centro de Ayuda Humanitaria de Migrantes (Zentrum für humanitäre Migrantenhilfe) in Chahuites. Der zierliche, 24-jährige Honduraner blickte nervös umher, als er das erste Ziel, El Basurero (die Müllhalde) beschrieb, wo man ihn einst angegriffen hatte.

Wir fuhren entlang der Gleise. Obwohl mögliche Banditen uns bereits von Weitem hätten kommen sehen und sich somit verstecken können, hielten wir dennoch, um die Gegend abzusuchen. Ein Bauernlaster näherte sich. Die Beamten hielten ihn an, doch die Suche war ergebnislos. Isais Luis Betanzos, der Anführer der anwesenden Bundesstaatspolizisten, entschuldigte sich bei mir dafür, dass nichts los war. „Wann immer wir an so einen Ort kommen, finden wir nichts, weil die Kriminellen Leute sind, die hier in der Nähe arbeiten", sagte er. Die Banditen entkommen den Patrouillen, weil sie unter den Landarbeitern der Gegend nicht hervorstechen.

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Betanzos stand auf den Gleisen und suchte mit den Augen den Südosten nach sich nähernden Migranten ab—Menschen, die er beschützen konnte, wenn auch nur für einen Teil ihrer Reise. Er schüttelte den Kopf, als er von Frontera Sur erzählte. „Aufgrund der zusätzlichen Checkpoints suchen sich die Migranten alternative Routen", sagte er. „Früher konnten sie einfach den Zug nehmen und das alles hier umgehen."

Die letzte Station auf der Patrouille war ein Ort, der El Escopetazo (der Flintenschuss) genannt wird, nach der bevorzugten Waffe der Banditen. Fuentes zeigte auf einen kleinen Bereich unter einer Eisenbahnbrücke. Er erklärte, die Banditen würden sich dort verstecken, auf Migranten warten und sie dann von den zwei kleinen Hügeln zu beiden Seiten der Brücke aus in die Zange nehmen.

Auf dem Rückweg nach Chahuites fragte ich den leitenden Beamten der anwesenden städtischen Polizisten, Jose Hilario Cruz Castillejos, warum die Bekämpfung der Verbrecher, die sich an Migranten vergehen, so schwierig sei. Er blickte düster drein. „Wir haben Verdächtige, aber uns fehlen die Beweise", sagte er. „Und selbst wenn man einen Kriminellen erwischt, nimmt gleich ein neuer seinen Platz ein. Eigentlich sollte es auch gar nicht unser Problem sein", fügte er nach einer Pause hinzu. „Die Angriffe auf Migranten sind die Verantwortung des fiscal—des örtlichen Staatsanwalts."

Der Staatsanwalt für Chahuites, Marcelino Daniel Matias Benitez, ist verantwortlich für die Ermittlungen von Verbrechen gegen Migranten. Er hat eingeräumt, dass es seit dem Start des Programms mehr Verbrechen gibt. „Wir tun unser Bestes mit den Mitteln, die die Regierung uns zur Verfügung stellt", sagte Matias Benitez. Er fügte stolz hinzu, es sei bereits einen Monat her, dass in seinem Büro eine Anzeige wegen eines Angriffs auf Migranten eingegangen sei. „Das beweist, dass es keine Angriffe gegeben hat, oder?", fragte er. „Unser Vorgehen zeigt Wirkung."

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Gegenüber der Staatsanwaltschaft, nahe dem Stadtzentrum von Chahuites, steht das Zentrum für humanitäre Migrantenhilfe, wo Antonio Fuentes ehrenamtlich arbeitet. Am Tag nach unserer Patrouille erzählte er mir, eine Gruppe Migranten sei an einem der von uns besuchten Orte angegriffen worden.

„Es waren drei, alle mit Waffen", sagte Alex Ramos*, eines der Opfer. „Ich dachte, sie bringen mich um."

Die mexikanischen Behörden erlauben von Banditen attackierten Migranten den Aufenthalt in Mexiko mit einem humanitären Visum, wenn sie die Tat beweisen können. In diesem Fall bietet ihnen das Zentrum für humanitäre Migrantenhilfe Obdach, doch Ramos war dabei mulmig. Er sagte, er habe Angst davor, in Chahuites zu bleiben, während der Staatsanwalt in seinem Fall ermittle, denn dies könne Monate dauern. Die Stadt ist ihm fremd und er sorgt sich, dass die Banditen Verbindungen zur Staatsanwaltschaft unterhalten könnten. „Man weiß nie, wer zuhört", sagte er. Auf einem früheren Abschnitt seiner Reise drohte ihm ein Grenzbeamter in Chiapas mit Deportation und verlangte eine Bestechung von 500 Pesos (ca. 26 Euro). „Wie soll ein Migrant für seine Rechte kämpfen?", fragte er. „Das kann er gar nicht."

60 Prozent aller Migranten, die durch die Einrichtung in Chahuites kommen, wurden angegriffen. Täglich kommen zwischen 30 und 50 neue an, doch im Monat vor meinem Besuch war bei der Staatsanwaltschaft nur eine einzige Anzeige eingegangen. Sie stammte von Ivan Castillo und seiner Familie, die seit ihrer Meldung des Überfalls im humanitären Zentrum wohnen.

Das Zentrum für humanitäre Migrantenhilfe wurde 2014 mit der Hilfe eines katholischen Priesters gegründet, der ein größeres Migrantenasyl in Ixtepec betreibt. Wie Fuentes sind viele der Freiwilligen in der Einrichtung selbst Migranten; sie haben entweder eine Aufenthaltserlaubnis erhalten oder sind im Begriff, sie zu bekommen. Der ständige Zustrom von Migranten bringt das Zentrum an seine Grenzen; regelmäßig muss es mehr als 50 Menschen versorgen. Fuentes sagte mir, eine Woche vor meinem Besuch sei das Essen ausgegangen und er habe sich hungrig schlafen gelegt. Die Lagerstätten sind dreckige Schaumkissen auf kahlem Betonboden, in einem Gemeinschaftsraum mit Blechdach. Wenn sie nicht Asyl in Mexiko suchen, dürfen sie nur lange genug bleiben, um die Blasen an ihren Füßen zu heilen und ein paar Mahlzeiten zu essen, bevor sie die Reise nach Norden fortsetzen.

Trotz der lauter werdenden Kritik von Menschenrechtlern scheint es, als würde das Programm Frontera Sur noch eine Weile bestehen. Zum Glück gilt dasselbe für die Hilfseinrichtung in Chahuites—selbst wenn das Essen knapp ist. Als Fuentes davon erzählte, mit knurrendem Magen zu Bett zu gehen, rechnete ich mit Trauer oder Wut. Stattdessen strahlte er. „Es macht mich glücklich, denn das wenige, das ich hätte essen können, habe ich jemand anderem gegeben."


*Name geändert