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Ein Extremismus-Experte erzählt

So ist es, in einer islamistischen Familie aufzuwachsen

"Ein Vierjähriger marschiert nicht in den Kindergarten und zündet dort eine Bombe."
Radikale Salafisten, die 2012 in Berlin gegen Pro Deutschland demonstriert und Korane verteilt haben | Foto: imago | Christian Mang

Diese Woche warnte der Verfassungsschutz vor Kindern. Vor jenen, die in islamistisch geprägten Familien aufwachsen. Sie stellten "ein nicht unerhebliches Gefährdungspotenzial" dar, so die Analyse der Verfassungsschützer, und würden "von Geburt an mit einem extremistischen Weltbild erzogen, welches Gewalt an anderen legitimiert". Eine niedrige dreistellige Zahl islamistischer Familien lebe in Deutschland – mit mehreren hundert Kindern. Darunter seien Familien, die in ein Kriegsgebiet ausgewandert sind, um den sogenannten Islamischen Staat zu unterstützen, aber auch solche, die Deutschland nie verlassen haben.

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Doch was weiß man wirklich über diese Kinder? Wie gefährlich sind sie? Und wie sieht ihr Alltag aus? Tobias Meilicke leitet die Beratungsstelle PROvention in Schleswig-Holstein für religiös begründeten Islamismus. Er berät Aussteiger und Angehörige. Solche Stellen gibt es inzwischen in fast jedem Bundesland, doch die im Norden haben sich laut Meilicke in den vergangenen zwei Jahren auf Familien spezialisiert. Ihr Ziel: Kindern beizubringen, wie sie trotz negativer Erfahrungen eine gute Entwicklung erleben können.

Tobias Meilicke ist 2015 Projektleiter von PROvention | Foto: Bundesarbeitsgemeinschaft Religiös begründeter Extremismus

VICE: Der Bundesverfassungsschutz warnt vor Kindern, die in islamistischen Familien aufwachsen. Was weiß man überhaupt über diese Kinder?
Tobias Meilicke: Wenig. Denn es geht um ein sehr junges Phänomen. Der Begriff "Salafismus" tauchte im Verfassungsschutzbericht erstmals 2011 auf. Die meisten Menschen, die damals in die Szene kamen, waren zwischen 15 und 18 Jahre alt. Sie haben früh geheiratet und hatten dann einen starken Kinderwunsch. Das heißt, die Kinder, um die es jetzt geht, sind erst zwischen null und sechs Jahre alt. Man weiß auch deshalb so wenig sie, weil in salafistischen Familien die Erziehung meist komplett in der eigenen Familie abläuft.

Also schicken die Eltern ihre Kinder nicht in den Kindergarten?
Genau, denn dort befürchten sie negative Einflüsse. Musik zu machen, ist in der salafistischen Szene zum Beispiel verboten. Auch das Malen von menschlichen Figuren ist nicht erlaubt. Aus deren Sicht ist das Gotteslästerung, weil nur Gott befugt ist, Menschen zu schaffen. Die Familien glauben, wenn ihre Kinder bei solchen Dinge mitmachen, dass sie später in die Hölle kommen. Und wenn den Kindern das passiert, bedeutet das, dass auch die Eltern dafür bestraft werden und ebenfalls nicht ins Paradies gelangen. Die ganze Erziehung ist daher von Angst geprägt. Auch und vor allem auf Seiten der Eltern.

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Wie erziehen salafistische Eltern ihre Kinder?
Darüber gibt es wenig Informationen. Auf alle Fälle ist es so, dass die Kinder lernen, dass andere, die nicht in der salafistischen Szene sind, weniger Wert haben. Das gilt sowohl für andere Muslime als auch für Christen oder Juden. Sie alle gelten als Ungläubige. Es kommt aber stark darauf an, aus welchem salafistischen Milieu die Familie stammt.

Welche Unterscheidung muss man treffen?
Es gibt drei verschiedene Strömungen. Erstens den puristischen Salafismus – das sind Menschen, die superkonservativ sind, aber sagen: "Wir würden uns zwar eine andere Gesellschaftsordnung wünschen, aber die muss Gott herbeiführen und nicht wir." Diese Gruppe ist vergleichbar mit den Amish in den USA. Die zweite große Gruppe ist der politische Salafismus, sie beobachtet der Verfassungsschutz. Das sind Menschen, die die Gesellschaftsordnung, wie sie jetzt existiert, für unmoralisch und falsch halten und diese verändern wollen. In erster Linie wollen sie das über den Weg der Missionierung tun. Das sind die Menschen, die in Fußgängerzonen unterwegs sind und Korane verteilen. Und dann gibt es noch die dritte Gruppe der dschihadistischen oder militanten Salafisten. Sie haben die Auffassung, dass sie zu lange als Muslime unterdrückt wurden und dass sie lange genug versucht haben, etwas mit Worten zu verändern. Das sind zum Beispiel diejenigen, die nach Syrien gereist sind, um dort den sogenannten Islamischen Staat zu unterstützen oder die hier in Deutschland Gewalt anwenden wollen, um das System ins Wanken zu bringen.

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Der Großteil der Salafisten in Deutschland hängt dem politischen Salafismus an. Das sind keine Menschen, die zur Gewalt neigen. Von 11.000 Salafisten in Deutschland gehören nur etwa 1.500 zum dschihadistischen oder militanten Spektrum, also etwa zehn Prozent. Von den insgesamt 4,5 Millionen Muslimen in Deutschland ist das nur ein marginaler Anteil von weniger als 0,005 Prozent.


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Wie werden Kinder aus dem salafistischen Milieu auffällig?
Vor allem in der Schule. Ich habe es schon einmal erlebt, dass diese Kinder Kunst- und Musikunterricht abgelehnt haben, weil sie große Angst haben, dass sie in die Hölle kommen, wenn sie mitmachen. Wie es dort aussieht, haben ihnen ihre Eltern farbenfroh ausgemalt: Sie stehen auf Kohlen, ihre Haut wird zerrissen. Was ich auch erlebt habe: dass salafistische Kinder es ablehnen, bei Schulausflügen in christliche Häuser zu gehen. Es kann auch sein, dass schon Kleinkinder beginnen, missionarisch zu sein, anderen Kinder den Islam erklären und zu kleinen Mädchen sagen, dass sie Kopftuch tragen müssen. Auf der anderen Seite kann es sein, dass diese Kinder überhaupt nicht auffällig werden. Denn sie sind oft sehr anpassungsfähig und haben in ihren geschlossenen Familiensystemen vielleicht gelernt, welche Reaktion sie zeigen müssen, um möglichst nicht bestraft zu werden.

Das heißt, da bekommt das Umfeld gar nichts mit?
Es sei denn, sie bemerken, dass die Kinder ihre eigenen Bedürfnisse nicht artikulieren können. Denn es sind Kinder, die eigentlich gar nicht wissen, was sie wollen. In ihrem Milieu war es bloß wichtig, sich anzupassen und das zu machen, was Erwachsene gesagt haben.

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Wie sieht der Alltag der Kinder aus?
Meistens wachsen diese Kinder relativ normal auf. Der Unterschied ist im Wesentlichen, dass die Familien einen stärkeren Fokus auf Religion. Zum Beispiel ermuntern die Eltern ihre Kinder schon im jungen Alter dazu, fünf Mal am Tag zu beten und am Koran-Unterricht teilzunehmen. Und die Kinder werden weniger individualisiert erzogen, sondern stärker kollektiv. Das heißt, sie lernen, ihre eigenen Bedürfnisse hinter den Bedürfnissen der Gemeinschaft anzustellen.

Haben Kinder aus solchen Familien Freunde?
Alle Kinder haben das Bedürfnis, mit Gleichaltrigen in Kontakt zu kommen. Darin steckt eine große Chance. Gerade für die Kinder, die aus Syrien zurückkommen. Die haben dort ja sehr viele Gewalt erleb. Es gibt Videos, auf denen zu sehen ist, wie Fünf- und Sechsjährige eine Pistole in die Hand gedrückt bekommen haben und auf Personen schießen sollten. Aber man muss ganz klar sagen, das ist nicht der Großteil von den Kindern, die zurückkommen. Das sind Ausnahmen.

Wie kann man den Kindern helfen?
Indem man sie möglichst schnell in ein normales Leben einführt und in den Kindergarten oder die Schule schickt. Dort können sie lernen, dass das, was sie da unten erlebt haben, nicht der Realität entspricht. Wenn sie hier feststellen, die anderen sind ja gar nicht böse zu mir, sondern Kinder, mit denen ich Fußball spielen kann, ist das eine große Chance. Die Kinder, die in Syrien waren, sind überwiegend Kleinkinder, zwischen null und fünf Jahren. Sie haben ein großes Potential, solche traumatischen Erlebnisse gut zu verarbeiten. Deshalb ist für mich das, was der Verfassungsschutz gerade macht, komplett kontraproduktiv. Durch solche Schlagzeilen werden die Kinder nur noch mehr stigmatisiert und ihre Integration in Kindergärten und Schulen erschwert.

Wie gefährlich sind solche Kinder?
Die Kleinkinder halte ich für überhaupt nicht gefährlich. Das, was Hans-Georg Maaßen, der Chef des Verfassungsschutz, sagt, ist völlig übertrieben. Ein Vierjähriger wird nicht in den Kindergarten marschieren und dort eine Bombe zünden. Möglicherweise aber haben die Kinder ein gestörtes Empathieverhältnis. Wenn man als kleines Kind immer gelernt hat, dass die anderen Feinde und schlecht sind, dann hat man natürlich auch weniger das Bedürfnis, gut mit ihnen umzugehen. Es kann sein, dass das eine oder andere Kind am Anfang eher dazu neigt, die Fäuste zu nutzen. Aber das sind Herausforderungen, die es auch bei anderen Kindern gibt. Und ich glaube, damit kann man gut umgehen, wenn man das entsprechend betreut.

Sollte man den Eltern die Kinder wegnehmen?
Das geht nur, wenn eine Gefährdung des Kindes vorliegt. Aber die ist oft nicht zu sehen. Eltern haben das Recht auf freie Meinungsäußerung und freie Religionsausübung. Auch eine Familie, die mal nach Syrien ausgereist ist, muss ihre Kinder nicht zwangsläufig abgeben. Eine aktuelle Kindeswohlgefährdung würde nur vorliegen, wenn die Eltern wieder vorhätten, dorthin zu ziehen. Ich glaube, dass in vielen Fällen die rechtliche Grundlage fehlt, den Eltern die Kinder wegzunehmen. Ich halte es auch nicht für unbedingt sinnvoll. Wir wissen aus der Forschung: Das Schlimmste, was Kindern passieren kann, ist ein frühkindlicher Bindungsabbruch. Der kann dazu führen, dass sich Kinder später einmal schwerer tun, Bindungen aufzubauen. Deshalb sollte jeder Fall individuell geprüft und Unterstützungsmaßnahmen erdacht werden.

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