FYI.

This story is over 5 years old.

Popkultur

Die verstörende Wahrheit hinter der „Koks-Challenge“

„Das Ganze war einfach nur ein schlechter Scherz in einer WhatsApp-Gruppe, der aus dem Ruder gelaufen ist." Dazu gab es noch gefälschte Interviews und einen Trend, der keiner ist.

Foto: bereitgestellt von Ber

„Ich habe das Video vor über einem Jahr aufgenommen", meint Ber, als wir in ihrem Wohnzimmer sitzen. „Das Ganze war einfach nur ein schlechter Scherz in einer WhatsApp-Gruppe, der aus dem Ruder gelaufen ist."

Vor ein paar Wochen verbreitete sich ein Artikel der mexikanischen Nachrichtenagentur SDP Noticias mit der Titel „'Reto del pasesito' de coca: la nueva moda entre las niñas bien mexicanas" [‚Koks-Challenge': Der neue Trend unter reichen, hübschen Mexikanerinnen] in den sozialen Netzwerken (auch wir berichteten). In der von SDP recherchierten und online immer noch verfügbaren Story geht es um den angeblichen „neuen Facebook-Trend unter jungen, reichen Frauen aus Mexiko": Der Sinn des Ganzen besteht darin, eine Line Koks vor laufender Kamera zu ziehen und anschließend Freunde zu nominieren, die dann das Gleiche machen müssen—ganz nach dem Vorbild der Ice Bucket Challenge.

Anzeige

„Am 17. September rief mich ein Freund an und meinte zu mir, dass ihm ein Bekannter—ein Ecuadorianer, der in Miami lebt—das Video per WhatsApp geschickt hätte", erzählt Ber. „Ich dachte, die Sache wäre damit erledigt, aber am darauffolgenden Tag klingelte mein Telefon erneut und ein anderer Freund sagte mir, dass sein Bruder das Video ebenfalls per WhatsApp erhalten hätte."

Platicamos con una de las chicas del 'reto del pasecito' para saber la verdad de esto. Vía — Alejandro Mendoza (@soyalemendoza)5. Oktober 2015

Das durch WhatsApp-Chats verbreitete Video, das Ber und ihre Freunde angeschaut haben

Ber, die in einem der drei viral gegangenen Videos zu sehen ist, meint, dass die Aktion im Oktober 2014 aufgenommen wurde. „Das war nicht mal unsere Idee. Wir haben nur ein Video angeschaut, in dem irgendein Typ die sogenannte ‚Koks-Challenge' macht, und fanden das ganz witzig—aber gleichzeitig auch richtig dumm. Wir haben das Ganze dann einfach als Scherz in unserer WhatsApp-Gruppe nachgemacht, in der mindestens 15 enge Freunde drin sind, die ich schon seit 20 Jahren kenne."

Reto a — Marcelo García (@marcelogv98)29. September 2015

Bers Video ging zwischen dem 17. und 18. September in verschiedenen WhatsApp-Gruppen viral. „Schließlich wurde die Aufnahme einer weiteren Freundin geschickt", erinnert sich Ber, „und ein paar Stunden später ließ mir meine Schwägerin dann den Link zu besagtem SDP-Artikel zukommen. Ich dachte mir nur: ‚Ich bin am Arsch!'"

Anzeige

In dem Artikel wird Ber als „gut aussehende, junge Blondine vor einer malerischen Kulisse" beschrieben, die ein „teures, schwarzes Kleid" sowie „edlen Schmuck" trägt. Mir gegenüber erklärt Ber jedoch, dass weder das Kleid noch der Schmuck teuer sind und auch das Haus, in dem sie das Video aufgenommen hat, nicht ihr oder ihrer Familie gehört: „Das Kleid habe ich bei H&M gekauft, die Ohrringe gehören meiner Mutter und der Ring ist einfach nur mein Verlobungsring. Ich war damals so aufgebrezelt, weil ich bei der Hochzeit einer Freundin eingeladen war, die in einem teuren Hotel stattfand. Normalerweise trage ich nur selten Kleider und High Heels." SDP Noticias vermutete einfach, dass Ber reich sei, und mehrere andere Nachrichtenportale übernahmen diese Info, ohne sie selbst noch mal zu validieren.

Nach der Veröffentlichung des Artikels wurde die Story in den Medien hochgepusht. „Ich habe das Video dann auf mehreren YouTube-Kanälen und Websites gefunden und immer hieß es, dass es sich dabei um einen neuen Trend unter jungen, reichen Leuten handeln würde. Mir ist schon klar, dass ein Otto Normalverbraucher irgendwie auf diese Schlussfolgerung hätte kommen können, aber doch kein Journalist. Die Medien haben hier eine Grenze überschritten und schlichtweg falsche Vermutungen aufgestellt. Eine solche Arbeitsweise ist total verantwortungslos."

„Warum wurden sofort falsche Annahmen bezüglich meiner finanziellen Lage und meines Alters gemacht?"

Anzeige

In dem SDP-Artikel wird immer wieder von einem „neuen Trend" gesprochen, obwohl eigentlich nur drei Videos herumgingen: das von Ber, das von Bers Freundin Betty und das von einer dritten jungen Frau, die Ber aber nicht kennt und die auch nie etwas von einer Challenge sagt. Kann das wirklich als Trend angesehen werden? „Die Medien besitzen viel Macht und die Leute glauben alles, ohne Fragen zu stellen", meint Ber.

Am 20. September hatten dann noch weitere Medienkanäle den Originalartikel aufgegriffen und den angeblichen „Trend" damit noch bekannter gemacht. „Am darauffolgenden Montag hat sich die Lage dann etwas beruhigt und ich dachte, das Schlimmste überstanden zu haben, aber am Dienstag geriet dann alles aus dem Ruder, als bekannte mexikanische Zeitungen wie Publímetro, Sin Embargo oder El Universal über die ganze Sache berichteten. Selbst im Fernsehen gab es einen Beitrag dazu."

Screenshot von Noticieros Televisa aus dem Videobeitrag „El reto del ‚pasecito'"

Am 26. September brachte der mexikanische Fernsehsender Televisa in der Sendung Primero Noticias einen Beitrag der Journalistin Danielle Dhiturbide, in dem sie angeblich ein Interview mit Bers Freundin Betty führt und sie als dabei eine der jungen Frauen bezeichnet, die den Trend ins Leben gerufen haben. „Das ist so nie passiert", erzählt Ber. „Sie haben irgendein Mädchen per Skype interviewt und dabei deren Gesicht unkenntlich gemacht. Dieses Mädchen behauptet, 18 Jahre alt zu sein und das Ganze nur wegen des Gruppenzwangs gemacht zu haben. Dabei handelt es sich allerdings nicht um Betty."

Anzeige

In dem Beitrag, in dem unter anderem auch ein „Internet-Experte" und ein „Sucht-Spezialist" zu Wort kommen, wird nochmals betont, dass es sich wirklich um einen Trend handelt: „Wir haben soziale Netzwerke wie Twitter, Facebook, Vine und Instagram durchforstet und dieses 18-jährige Mädchen ist die Erste, die die Koks-Challenge erwähnt", meint Danielle Dhiturbide aus dem Off.

Rafael Jiménez, der als „Internet-Experte" angeführt wird, behauptet in den dazugehörigen Kommentaren: „Ich habe die Verantwortlichen nicht darum gebeten, mir diesen Titel zu geben. Ich habe ihnen einfach nur meine Meinung zu dem ganzen Thema gesagt. Teile meiner Antworten auf ziemlich allgemein gehaltene Frage haben sie in einem ganz falschen Kontext wiedergegeben."

Salí en un reportaje en TV que saca contundentes conclusiones de quién sabe dónde. No lo vuelvo a hacer

— Rafael Jiménez (@rafael_j)26. September 2015

Jiménez, der bereits 20 Jahre Erfahrung im Bereich der digitalen Kommunikation vorweisen kann, erklärt mir, dass die TV-Mitarbeiter ihm zwar erzählten, worum es in dem Interview gehen würde, ihre Fragen dann aber trotzdem sehr allgemein gehalten waren: „Die Journalistin selbst ist zu dem Interviewtermin gar nicht mal aufgetaucht. Als wir fertig waren, meinte ich zu der Crew, dass wir das eigentliche Thema ja überhaupt nicht angeschnitten hätten, und sie haben meine Aussagen dann einfach passend zur Geschichte des Beitrags zusammengeschnitten."

Anzeige

Ich frage Jiménez, was er denn nun wirklich über die ganze Sache denkt. Daraufhin antwortet er: „Das ist ein Paradebeispiel für die Sachen, die die Medien völlig aufblasen, um dann darüber massenweise Artikel ohne wirkliche Grundlage veröffentlichen zu können. Das hat nichts mit korrekter journalistischer Arbeit zu tun. Ohne den SDP-Artikel hätte der Skandal wohl niemals solche Ausmaße angenommen. Ohne selbst irgendwie zu recherchieren, wurden die ‚Fakten' einfach so übernommen. Ich hasse es, jetzt Teil von so etwas zu sein."

Screenshot von Noticieros Televisa aus dem Videobeitrag „El reto del ‚pasecito'"

In dem TV-Beitrag ist zu sehen, wie die Journalistin vor einem Tablet sitzt und ein Skype-Interview führt—angeblich mit Betty. Während dieses Interviews fragt Dhiturbide: „Du wurdest zur Challenge aufgefordert, als du noch minderjährig warst?" Das unkenntlich gemachte Mädchen bejaht diese Frage. Falls das wirklich wahr sein sollte, dann hat Betty die Challenge schon vor mindestens 13 Jahren gemacht. „Betty und ich sind keine 18 mehr, sondern 30. Die Medien lügen", meint Ber, die mit Betty schon seit ihrer Kindheit befreundet ist.

Foto: bereitgestellt von Betty, die in einem der drei Videos zu sehen ist und angeblich von Primero Noticias interviewt wurde

Betty behauptet, niemals interviewt worden zu sein: „Ein Freund rief mich an und meinte, dass er den Beitrag im Fernsehen gesehen hätte. Ich war zu diesem Zeitpunkt nicht mal zu Hause. Ich wusste aber auch sofort, dass sich das Ganze zu einem richtigen Skandal entwickeln würde."

Ber sieht jedoch auch ein, selbst Schuld zu tragen: „Ich hätte das Video niemals aufnehmen sollen. Ich verstehe jedoch nicht, wieso die Medien nicht einfach nur darüber berichtet haben, dass die Aufnahmen viral gegangen sind. Warum wurden gleich falsche Annahmen bezüglich meiner finanziellen Lage und meines Alters gemacht? Ist es nicht total krank, dass irgendein Mädchen freiwillig lügt und sich als meine Freundin ausgibt, damit das Fernsehen ein ‚richtiges' Interview führen kann? Wenn schon solche Fernsehsender wie Televisa nicht mehr die Wahrheit erzählen und sich Beiträge zu solch dummen Themen aus den Fingern saugen, wem sollen wir denn dann überhaupt noch glauben?"

Ber meint, dass kein Nachrichtensender und keine Zeitung versucht hat, sie zu kontaktieren. Sie hat sich dazu entschieden, mit VICE zu reden, weil sie endlich Klarheit schaffen wollte: „Trotz meiner zwei Abschlüsse und meines Jobs ist mein Ruf ruiniert—und das nur wegen eines unüberlegten, dummen Scherzes zwischen Freunden, der in einen völlig falschen Kontext gesetzt wurde."