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Reisen

Wie viele Bratwürste kann man essen, bevor man sich übergeben muss?

Wir waren auf der Berliner Bratwurstmeisterschaft und haben es mit Wein, suizidalen Ponys und psychotischen Show-Acts herausgefunden.
Foto: Grey Hutton

Die Sonne schien, es war ein lauer Frühlingsmorgen, wie man ihn sich schöner kaum vorstellen könnte, und als wir mit verquollenen Augen auf eine meterlange Schlange zustolperten, lag bereits der Duft nach totem, brutzelnden Tier in der Luft. Am Sonntag fand die mittlerweile 13. Berliner Bratwurstmeisterschaft im tiefsten Berliner Süden statt und natürlich haben wir von VICE ein hochqualifiziertes Wurst-Investigativteam ausgesandt: Fotoredakteur Grey, mein bratwurstaffines Selbst und unsere Munchies-Redakteurin Vanessa. Grob erinnerte ich mich noch an meinen letzten Besuch dieses berlin-brandenburgischen Top-Events und wie man inmitten von höchstens hundert Menschen in der Sonne sitzen, Tiere streicheln und sich fettiges Essen ins Gesicht stopfen konnte. Schnell mussten wir allerdings feststellen, dass die Gentrifizierung der deutschen Hauptstadt auch vor Wurstwaren nicht Halt macht. Die Schlange vorm Eingang war nur der Anfang.

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Alle Fotos: Grey Hutton

Der Veranstaltungsort ist zum einen ein Freilichtmuseum, hat zum anderen aber den Appeal eines ziemlich rudimentären Bauernhofes—samt Hofladen, Kutschen, Traktoren und Stallgebäuden. Tatsächlich ließ sich aber bereits am späten Vormittag der staubige Boden vor lauter drängelnden Wurstfanatikern kaum noch sehen. Berlin ist eine Hochstadt der Kultur, voller urbaner Super-Events und Partys, die von Freitagabend bis Sonntagnachmittag gehen? Vielleicht. Wenn fetttriefende Würste rufen, dann kennen die Leute aber anscheinend nur ein Ziel—egal ob Pensionisten, Mittzwanziger mit ironischer Frisur oder Vorzeige-Familie mit schreienden Kindern, die sich von Stand zu Stand prügeln, als gingen die zu verleihenden Preise nicht an die beste Wurst, sondern den brutalsten Wohlstandsbauchträger mit Halbglatze.

Nicht im Bild: brutale Wohlstandsbauchträger mit Halbglatze.

Jeder Besucher bekam zu Beginn einen Stimmzettel in die Hand gedrückt, auf dem er seine Favoriten in den Kategorien „Beste regionale" und „beste kreative Wurst" ankreuzen konnte. Schließlich war man nicht zum Spaß hier, das Ganze war ein knallharter Wettbewerb. Insgesamt 20 verschiedene Bratwurstkreationen aus ganz Deutschland (vor allem Berlin-Brandenburg und Franken) wurden einem an verschiedenen Ständen zum Stückpreis von 2 Euro angeboten und bei diesem Überangebot schwante uns bereits zu Beginn Übles. Aus journalistischer Sorgfaltspflicht heraus musste wir schließlich so viele wie möglich probieren. Hilfesuchend blickte ich in Richtung unserer Essensexpertin von Munchies, bei irgendeinem Stand mussten wir schließlich anfangen. Allerdings waren wir alle ziemlich verkatert und nicht dazu in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Vielleicht erst mal ein Konterbier, schlug der Fotograf vor, und so geschah es.

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Im Hintergrund: die Weinbar

Im Allgemeinen schien das Publikum für einen Sonntagmittag äußerst trinkfreudig, andererseits: Gibt es einen besseren Ort, als sich inmitten von fetttriefendem Fleisch so richtig einen reinzustellen? Wir entschieden uns, unseren kulinarischen Wurstausflug mit der „Marillen-Ingwer-Bratwurst mit Goji-Beeren" zu beginnen. Wenn man sich schon auf den weiten Weg in den tiefsten Berliner Süden begibt, warum dann nicht gleich mit der Wurst einsteigen, die das mit Abstand abstruseste Geschmackserlebnis verspricht? Nach zwei Bissen in das durchfallgelbe Stück Tier bereute ich allerdings, bei der Bestellung nicht vehementer auf Senf bestanden zu haben, trotz leicht süßlicher Note blieb die große Geschmacksexplosion nämlich absolut aus. „Sie schmeckt ohne Senf viel besser", hat die Wurstfrau behauptet. Diese Unwissende. Alles schmeckt mit Senf besser.

Drei Stunden und ebenso viele durchwachsene Wursterlebnisse später kam erste Langweile auf. Immerhin meldete sich eine Freundin per Whatsapp, die das Event trotz akuter Magenverstimmung „nicht verpassen" wollte und versprach, „auf jeden Fall" nachzukommen. Auch mein Magen-Darm-Trakt begann, mir etwas Sorgen zu machen. Nach der Daiquiri-Bratwurst, rein vom Namen her mein Instant-Favorit, war ich kurz davor zu brechen und kann euch folgende Lebensweisheit mit auf den Weg geben: Wenn es eine Limette ist, hat es in der Wurst nichts zu suchen. Deutlich besser ging es mir allerdings eine halbe Stunde später nach der Jalapeno-Cheddar-Bratwurst, bei der unsere Munchies-Chefin erstmals aussetzte. Grey hingegen hatte sich gerade erst warm gegessen und scharwenzelte mit den großen, glänzenden Augen eines Kindes von Stand zu Stand. „Wir besuchen jetzt den Esel", beschloss ich, und stiefelte in Richtung Koppeln davon. „Ich glaube nicht, dass es hier einen Esel gibt", sagte der Fotograf und stapfte motzig hinterher.

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Die Liebe zum Tier wird bei Wurst-Events groß geschrieben.

Nach 30 Minuten und fünf Kilo Sand an den Schuhen später stellte sich heraus: Er hatte Recht. Der Nachmittag war mittlerweile deutlich fortgeschritten und wir näherten uns langsam der Art von Tiefpunkt, die geschätzte 18 Stunden nach exzessivem Alkoholkonsum eintritt. Es war verdammt anstrengend, viel zu essen und dabei permanent in Bewegung bleiben zu müssen, weil die einzigen freien Sitzplätze sich in unmittelbarer Nähe des hofeigenen Misthaufens befinden. Kurz bevor die Stimmung endgültig zu kippen drohte—woran die Erkenntnis, dass wir zu groß und zu alt zum Ponyreiten sind, nicht ganz unbeteiligt war—, entdeckten wir allerdings den Hofladen. Lokale Lebensmittel, auch aus der Eigenproduktion, wurden dort verkauft und nach all dem Tierdarm in unserem Magen schien es die einzig richtige Entscheidung, zielsicher nach einer Flasche Bio-Weißwein zu greifen. Mit Korken.

Nicht im Bild: vorwurfsvolle Rentner.

„Wir hatten kürzlich ein Video auf der Seite, wo gezeigt wurde, wie man eine Weinflasche mit Hilfe eines Schuhs aufkriegt!", verkündete Vanessa optimistisch, ich blieb skeptisch. Zu oft hatte ich mich und andere beinahe in Lebensgefahr gebracht, weil ich versucht hatte, eine Weinflasche ohne Korkenzieher aufzubekommen. Der Schuh-Trick war auch dabei. Nach mehreren peinlichen Momenten des absoluten Unvermögens, engagiertem körperlichen Einsatz des Fotografen—und Blicken von älteren Pärchen, die an Vorwurfsvollheit (ist das ein real existierendes Wort in der deutschen Sprache?) nicht zu übertreffen sind—war die Flasche schließlich offen, wir ein bisschen zu euphorisch, um nicht ein ernsthaftes Alkoholproblem nahezulegen, und die Magen-Darm-Freundin war auch endlich eingetroffen.

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Drake wäre so stolz. #wurstbehavior

Nachdem wir ein angemessen hässliches Selfie mit Spargelstangen gemacht hatten, war es an der Zeit, sich mit der Capucchino-Chili-Bratwurst in Schoko- und Karamellsauce (die Spargel-Zitronengras-Wurst war leider schon aus) auf eine freigewordene Bierbank zurückzuziehen und die Aufmerksamkeit voll und ganz dem zunehmend absurder werdenden Showprogramm zu widmen. Nach einer ebenso enervierenden wie ausdauernden Performance von Peter Subway and The Tickets war ein Artisten-Duo an der Reihe, das … Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was genau da passiert ist. Dinge wurden schlecht jongliert, eine Französische Bulldogge in der ersten Reihe ist komplett ausgerastet und Kleinkinder haben mit atemloser Spannung verfolgt, wie die zwei Erwachsenen in den verrückten Outfits ihre Intimbereiche aneinander gerieben haben. Glücklicherweise existiert dieses Bild, sonst hätte uns das doch wieder keiner geglaubt:

„Mama, hat der Mann einen Jonglierkegel in der Hosentasche, oder freut er sich einfach nur, die Frau zu sehen?"

Mir war mittlerweile ziemlich übel und ich dachte ernsthaft darüber nach, mich auf einer der Wiesen auszustrecken und für immer zu schlafen. Nur noch der Fotograf sah sich dazu in der Lage, sich weiterhin Würste in den Rachen zu schieben (insgesamt waren es sieben oder acht), und auch sonst gab es absolut nichts für uns zu tun. In Anbetracht unserer körperlichen Verfassung stand es außer Frage, bei einer der Traktorfahrten mitzumachen, die Enten freuten sich nicht so wirklich über das Bio-Weizen-Futter, das wir extra für sie aus einem Automaten gezogen hatten, unser Verpflegungsbudget neigte sich im Allgemeinen dem Ende zu und dann durfte ich noch nicht mal das todesdepressive Pony streicheln, das stundenlang schreiende Kinder durch die Gegend tragen musste. Es war 17 Uhr und wir bereits deutlich zu lange bei dieser Veranstaltung.

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Don't hate the player, hate the game, Pony.

Schließlich und endlich erhob sich dann aber doch noch eine imposant dröhnende Stimme von der Bühne. Hatte Peter Subway in seiner wohlverdienten Auftrittspause drei Stangen Zigaretten geraucht? Nein, es war der Vorsitzender der Fleischerinnung, zumindest würde er das später, beim Verlassen der Bühne, empört rufen. Dass die Schaulustigen aber auch keine Gasse gebildet haben. Frechheit. Egal, die Stimmzettel waren endlich ausgewertet und die Gewinner konnten verkündet werden. Meine nachgereiste Bekannte warf sich Bio-Weizen in den Mund, unser Fotograf wand sich schlangengleich durch die geballte Menge zur perfekten Fotoposition, und ich musste vor lauter Aufregung mehrfach die Bratwurst von vor zwei Stunden aufstoßen. Immerhin: die Jalapeno-Cheddar-Wurst, meine heimliche Favoritin.

Ein glorreicher Moment. Für uns alle.

Den Preis für die beste kreative Wurst räumte dann allerdings die Spargel-Zitronengras-Bratwurst ab, dicht gefolgt von der Balinesischen Hochzeitsbratwurst, die auch bei uns relativ gut angekommen war. Irgendjemand nahm dann auch noch den Award für das beste regionale Produkt entgegen, wir waren allerdings etwas von einem größeren Fernsehteam abgelenkt, dessen Kameras permanent auf einen grauhaarigen Mann Mitte 40 gerichtet waren, der verdächtig nach ehemaligem Soapstar aussah. War er der Posterboy der Fleischerinnung? Der Bratwurst-Pate? Wir sollten es nie erfahren.

Erschöpft und mit dem Gefühl, fünf Liter Fett am Kinn zu haben, machten wir uns schließlich auf den Weg nach Hause. Wie viele Bratwürste kann man essen, ohne seine eigenen Innereien auf den U-Bahn-Bahnsteig kotzen zu müssen? In meinem Fall waren es genau fünf.

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Folgt Lisa und Grey bei Twitter: @antialleslisa @greyman01