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„Die türkischen Behörden wollen unser Glück zerstören“

Der Arzt ​Ünal E. ist am Montag in Italien wegen Terror-Verdachts festgenommen worden. Der politische Flüchtling könnte nun an die Türkei ausgeliefert werden. Wir haben mit seiner Frau gesprochen, die während der Verhaftung bei ihm war.

Hier geht es zu unserem Video über die DHKP-C.

Weil der Arzt Ünal E. aus der Türkei flüchten musste, lebt er seit Mai 2000 in Österreich. Zuletzt wurde er als politischer Flüchtling anerkannt und ist mittlerweile österreichischer Staatsbürger. Eine Abschiebung in die Türkei könnte eine ernsthafte Gefährdung für das Leben von Ünal E. bedeuten. Laut seiner Frau saß er bereits fünf Jahre in türkischen Gefängnissen und wurde dort gefoltert. Eine Vertraute der Familie berichtet mir, dass der 45-jährige Orthopäde aufgrund der Folter gesundheitlich bis heute belastet ist. Es ist auch fraglich, ob E. in der Türkei einen fairen Prozess bekäme. Nach der Geiselnahme eines Staatsanwalts in Istanbul durch die linksradikale Organisation DHKP-C in der vergangenen Woche ist die Situation in der Türkei enorm angespannt. Türkische Medien behaupten sogar, dass Ünal E. mit dieser Geiselnahme zu tun gehabt haben soll. Das einflussreiche Nachrichtenportal Haberturk titelt zum Beispiel: „Der Drahtzieher hinter den Mördern des Staatsanwalts Kiraz ist in Italien festgenommen worden." Haberturk kann allerdings im Artikel keinerlei Belege für diese These bringen. Aus genau diesen Gründen äußert sich eine Quelle aus dem österreichischen Außenministerium mir gegenüber sehr skeptisch zu den Chancen eines fairen Prozesses, falls Ünal E. von Italien in die Türkei ausgeliefert werden sollte. Auch die Vorwürfe gegen Ünal E. werden in Frage gestellt. Es wird berichtet, dass die türkischen Behörden im Haftbefehl illegales Plakatieren, das Werfen eines Molotow-Cocktails sowie einen Anschlag auf eine Bank anführen.

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Allerdings werden laut diesen informierten Kreisen die Taten im Haftbefehl nicht konkret Ünal E. zugeordnet, sondern allgemein der DHKP-C. Für die österreichischen und deutschen Behörden war das viel zu wenig und zu vage, um den türkischen Haftbefehl zu vollstrecken. Ein Mitarbeiter aus dem Außenministerium, der nicht namentlich genannt werden will, sagt mir gegenüber, es wäre „absurd", wenn der türkische Haftbefehl in Italien vollstreckt würde, während Österreich Ünal E. genau wegen der Verfolgung in der Türkei Asyl gewährt hätte.

Vor allem seit den Gezi-Protesten geht der türkische Staat äußerst repressiv gegen jede Form von Widerstand vor. Damals starben 13 Menschen durch Polizei-Einsätze, darunter der 15-jährige Berkin Elvan, der von einer Tränengasgranate getroffen wurde, als er gerade Brot kaufen wollte. Der Tod von Elvan ist bis heute ein brisantes Thema in der Türkei. Daraus erklärt sich auch die Forderung der Geiselnehmer von Istanbul, die von der Polizei das Bekenntnis zur Verantwortung für seinen Tod verlangten.

Ende März hat die Türkei ein neues Sicherheitsgesetz verabschiedet, das künftig bei Demonstrationen den Schusswaffeneinsatz sogar wegen des Abbrennens bengalischer Feuer erlaubt und Vermummung (selbst bei Tränengas) mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft.

Defne E.*, die Frau von Ünal E., bereitet derzeit die Verteidigung ihres Mannes vor und pendelt zwischen Italien und Österreich. Ich bekam von Vertrauten der Familie das Angebot, ein exklusives Interview mit Defne zu führen und habe gestern und heute am Telefon mit ihr über die aktuelle Situation gesprochen.

VICE: Defne*, kannst Du zu Beginn erzählen, was bei der Verhaftung passiert ist?
Defne E.: Wir waren eigentlich mit unseren beiden Kindern auf einem Osterurlaub in Italien. Wir wollten nach Venedig und Verona, ein wenig ausspannen vom Alltag. Am Sonntag haben wir uns den ganzen Tag Venedig angesehen und sind dann am Abend ziemlich müde ins Hotel. Um ein Uhr nachts wurden wir von bewaffneten Männern aufgeweckt. Die Polizei ist mitten in der Nacht in unser Hotelzimmer gekommen, während wir schliefen. Sie waren sehr unfreundlich und haben meinen Mann ohne irgendwelche Erklärungen mitgenommen. Das war natürlich ein absoluter Schock für uns alle. Was wird Ünal vorgeworfen?
Türkische Medien und Behörden behaupten, dass Ünal in Zusammenhang mit der Geiselnahme eines Staatsanwalts in Istanbul letzte Woche stehen würde. Das steht auch in einigen italienischen Medien. Das ist völlig absurd und dient offenbar nur dazu, eine Auslieferung an die Türkei zu rechtfertigen. Die türkischen Medien haben dabei einen besonderen Trick gefunden: sie haben den Namen meines Mannes leicht verändert, damit es keine Klagen geben kann, aber die Botschaft gedruckt werden kann.
Offiziell beschuldigt die Türkei Ünal jetzt wegen Taten aus dem Jahr 1995. Diese Anklage war allerdings pure Verleumdung und reichte für die österreichischen und deutschen Behörden nicht einmal für die Umsetzung des türkischen Haftbefehls. Es wäre wahnsinnig, wenn Italien Ünal deshalb ausliefert. Dein Mann war früher in der Türkei politisch aktiv. Was ist damals geschehen?
Ünal ist ein politisch denkender Mensch, der keine Ungerechtigkeit mag. Die politische Situation in der Türkei ist nicht zu akzeptieren, mit den Menschenrechten wird gespielt. Wer sensibel ist, muss gegen diese Diktatur aktiv werden. Die türkische Regierung aber duldet das nicht. Ünal wurde für fünf Jahre ins Gefängnis gesteckt und dort wie viele andere schwer gefoltert.
Nach dem Gefängnis durfte er sein Medizin-Studium nicht beenden und hätte auch nicht als Arzt arbeiten dürfen. Er war auch in Gefahr, wieder verhaftet zu werden. Er ist dann nach Österreich geflüchtet und wurde hier als politischer Flüchtling anerkannt. Später hat dann die Türkei diesen neuen Haftbefehl gegen ihn aufgelegt, der jetzt der Grund für die Verhaftung in Italien ist. Wo ist Dein Mann jetzt? Hast Du Kontakt zu ihm?
Derzeit sitzt er in einem Gefängnis in Mestre bei Venedig. Die italienischen Behörden erlauben mir keinen Kontakt zu ihm. Ich weiß nicht, wie es ihm geht und was gerade passiert. Ich durfte ihm auch keine privaten Sachen und kein Geld zukommen lassen. Wir haben jetzt aber einen italienischen Rechtsanwalt. Ich hoffe, dass ich ihm nun zumindest ein paar persönliche Dinge zukommen lassen kann. Gibt es Kontakt zu Behörden in Österreich?
Die österreichischen Behörden sind derzeit sehr hilfreich. Sie glauben uns und unterstützen uns sehr. Am Donnerstag ist Haftprüfung, dort soll auch der österreichische Generalkonsul anwesend sein. Wir hoffen, dass das helfen wird. Was bedeutet die Verhaftung beruflich für Ünal?
Derzeit stehen seine KollegInnen voll hinter Ünal. Das Spital, in dem Ünal arbeitet, hat uns auch einen Brief geschickt, dass Ünal immer freundlich, korrekt und zuvorkommend ist. Aber natürlich ist die Situation nicht leicht. Wie geht es euch nun?
Wir stehen natürlich alle unter Schock, das ist ein Albtraum. Die kleine Tochter ist fünf Jahre alt, sie hat die ganze Zeit geweint. Sie ist jetzt bei Verwandten. Die große Tochter hat alles mitgemacht, sie musste in Italien auch übersetzen. Das alles ist natürlich eine extreme Belastung. Viele FreundInnen und Verwandte unterstützen uns allerdings auch in dieser schweren Lage. Kannst Du Ünal als Mensch beschreiben?
Er versucht, nach all den Erlebnissen in der Türkei das Leben zu genießen. Er mag seinen Beruf, er liest sehr gern, sein größtes Hobby sind aber die beiden Kinder. Wir sind nun seit zwölf Jahren verheiratet, er ist der perfekte Mann und Vater. Ich habe noch nie einen Mann gesehen, der Kinder so sehr liebt. Die türkischen Behörden wollen unser Glück zerstören. Ich werde alles tun, damit das nicht passiert. * Name von der Redaktion geändert. Ihr könnt mit Michael auch auf Facebook in Kontakt treten.