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Adrenalin fürs Rentnerherz: Aufstand im helvetischen Mittelerde

Die Berner Jugend ist wütend und tanzt sich die Stadt zurück. Oder so.

Was geschieht, wenn sich ein desillusionierter Mob aus tanzwütigen After-hour Prolos und frustrierten Krawalltouristen im sakrosankten Dorfzentrum einer verschlafenen Kleinbürgerstadt die Kante gibt?

Wir befinden uns in Bern, der politischen Hauptstadt der Schweiz. Eine Stadt mit gefühlten 10 000 Einwohnern und dem mittelalterlichen Charme von zinnroten Ziegeldächern, schmalen Gässchen und Pflastersteinboulevards. Eine Aussicht mit Bergen, Hügel und Wäldchen und alldem Kitsch von dem die asiatischen Touristen nie genug kriegen können. Wenn die Sonne untergeht und vereinsamte Strohballen durch die leeren Gassen rollen, haben sich die Berner längst in ihr trautes Heim zurückgezogen. Gott weiss was sie dort machen. Von einer Home-Massenorgie will man auf jeden Fall noch nie etwas gehört haben.

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Man stelle sich also vor, man ist wie wir, ein ungeduldiges Kind der Handy-Generation, und man lebt seit eh und je an diesem Ort, an dem noch die Polizeistunde herrscht und an dem man die Zahl der Bierdestinationen an der Hand abzählen kann. Man braucht Unterhaltung. Man will trotz allem feiern, sich frei fühlen, das Leben leben halt. Und dann beginnen prompt irgendwelche besenstramme Politiker, die noch nie von Swag gehört haben, für die Dubstep nach Alien Sex klingt, und die Morgens um Punkt Sechs ihr Lokalblatt lesen wollen, damit, Schritt für Schritt alles dicht zu machen, was noch irgendwie an Jugendkultur erinnert.

Die Reitschule – der  autonome Jugendkulturplatz von Bern seit 1987 und damit der Dorn im Auge der Stadtverwaltung schlechthin – wird von dieser seit je her penetrant bürokratisch mit Lärmklauseln und Tränengas bekämpft.  Die konservativen Frechheiten gipfeln schliesslich in dem expliziten Alkoholausschankverbot nach 00.30 Uhr auf dem Vorplatz der Reitschule, was in etwa so realistisch ist wie ein Prohibitionsversuch am Ballermann auf Mallorca. Das ist der Tropfen der das Fass zum Überlaufen bringt und den Zorn der Massen entfacht. Das Ziel ist die Stadt zurückzuerobern und das Recht zu Tanzen, hier, jetzt und überall, kompromisslos einzufordern. Grund genug für uns, dem Spektakel beizuwohnen: „Tanz dich frei Strassenfest 2.0“, wir kommen!

Nach all dem was wir dort an obszönen Zirkusattraktionen, Zwitterwesen oder aggressiven Vollrauschzombies sehen mussten, ist es ein Wunder dass wir a) nicht erblindet sind, und b) die Stadt nicht angezündet wurde.

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Da startet man mit einem Konvoi aus liebevoll geschmückten selbstgebastelten Paradewagen mit wummernder Musik um 20 Uhr vom Vorplatz Richtung Innenstadt, und man sieht in den braven Kolonnen neben netten Schulmädchen kaum grössere Freaks als ein Paar ungeduschte Iro-Verschnitte oder ein paar Gothik-Transen. Gewalt wird irgendwie notorisch abgelehnt. Die politische Bedeutung wird entweder mit Klassenkampfparolen ins Lächerliche manövriert oder unschuldig aufs Spassmotiv reduziert.

Schon ganz anders sieht es dagegen um 2 Uhr morgens am Bundesplatz aus. Oh ja. Während affenartige Rudel halbnackter Sonnenbrillenträger die Häuser rund um den Platz besteigen, sieht man wie das Bundeshaus zum Freakshow Campingresort degeneriert. Man hört heftige Minimalbeats und entdeckt Berge von nackter  Hippiehaut zwischen der tanzenden Menge in einem klebrigen Sumpf von Alkoholabfällen. Man sieht Leute die Sofas vorbeitragen oder nackt durch die Menge flitzen. Ein Typ stellt sich uns vor mit dem Namen „Nitroverdünner“  und beklagt sich über zu wenig Ecstasy. Jetzt wird uns klar wo wir eigentlich gelandet sind: Das hier ist das Vietnam der Gleichgültigkeit, der missverstandene Aufstand einer apathischen Sinnsuche in diesem längst geplünderten Kultursupermarkt Individualismus. Brutal.

Ehrlich, liebe Berner, wir haben keinen blassen Schimmer wie Ihr das geschafft habt, nicht alles kurz und klein zu hacken. Vielleicht lag es ja an den sanften Akkorden vom Kuschelrockkonzert der Band „Patent Ochsner“ um 4 Uhr morgens auf dem Reitschulvorplatz. Wahrscheinlich aber liebt ihr ganz einfach eure Stadt so sehr wie der Bauer die frisch geschöpfte Milch. Das war’s. Wir sind weg.

Fotos: Evan Ruetsch