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DIE SKAMMERZ ISHU

Alles nur Barrikaden und Gerüchte

Je nachdem, wem man glaubt, war Victor B. entweder ein großer rumänischer Revolutionär oder wollte nur eine staatliche Pension kassieren.

Betrügereien haben im rumänischen Teil meiner Familie seit jeher einen ganz besonderen Stellenwert. Seit ich als Kind zum ersten Mal mit meiner Mutter und Oma auf Besuch im gerade erst geöffneten Osten war, habe ich von den entlegensten Enden meines Stammbaums mitbekommen, dass man entweder sich selbst, einander oder zumindest den Staat verarscht—und dass für den Fall, man tut es nicht, immer mindestens eine Partei gierig darauf wartet, deine Schwäche auszunutzen und umgekehrt dich übers Ohr zu hauen.

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Beispiele gibt es mehr, als es im kommunistischen Rumänien Armut gab. Da wäre zum einen die Geschichte von meinem Großcousin Peter, der sein Haus beim Pyramidenspielen verloren hat und damit über Nacht vom geschäftigen Hoffnungsträger, der irgendwelche unergründlichen Dinge verkauft, zu einem obdachlosen Alkoholiker wurde, der wieder zu seiner Mutter ziehen musste.

Oder die von Peters Sohn, der mit dem letzten Ersparten (ganzen 200 D-Mark) nach Deutschland geschickt wurde, um die Ehre und das Budget der Familie aufzubessern—und der stattdessen nach einem fünftägigen Trinkgelage mit einem Brunnenbohrer zur Familie zurückkehrte, um der erste Wasserader-Millionär von Timişoara zu werden.

Ein anderer Verwandter erzählte mir, dass er seine Tage vor der Revolution damit verbracht hatte, auf dem Feld zu liegen und Schnaps zu trinken. Unter kommunistischer Führung bekamen sie schließlich alle denselben Lohn und Arbeit war etwas, das man sich für hohen Parteibesuch aufhob. Auch, als wir nach der Grenzöffnung ins Land einreisten, hatten wir auf Anraten unserer Onkel und Tanten immer ein Kilo Kaffee und ein bisschen hartes Westgeld für die Zollbeamten dabei.

Rückblickend wirkte für mich meine ganze rumänische Sippschaft wie eine wilde Collage aus Wes Anderson-Charakteren—nur, dass all die liebenswürdig-neurotischen Bill Murrays durch Marlboro rauchende, Korn trinkende Mickey Rourkes ersetzt waren (und ich rede hier von der Zeit vor seinem Comeback).

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Das klingt vielleicht furchtbar, war es aber nicht. Zumindest nicht für mich als Kind. Auch wenn es von uns zuhause nur 500 Kilometer bis Timişoara waren, galten hier andere Naturgesetze. Der frühere Vorhang warf immer noch einen eisernen Phantom-Schatten und zwang verzweifelte Mütter dazu, uns am Mariaplatz ernsthaft ihre Babys verkaufen zu wollen (während sie uns die Geldbörsen klauten).

Betrügereien waren so etwas wie die Strings in der großen Theorie des rumänischen Universums—ohne sie zerfällt alles in sinnlose Einzelmodelle, aber mit ihnen lässt sich plötzlich die ganze Welt verstehen. Sogar Rumänien selbst geriet 2008 in Verdacht, die EU zu betrügen, nachdem die Gelder, die der Staat ausgerechnet zur Korruptionsbekämpfung erhalten hatte, ohne nachweisliche Zweckwidmung im Sumpfland der Behörden verschwunden waren (die Zahlungen wurden daraufhin eingestellt).

Insofern ist es vielleicht auch nicht überraschend, dass ich die Geschichte über meinen angeheirateten Großcousin Victor B., die in der Verwandtschaft kursierte, anfangs nicht hinterfragte. Demnach war Victor der König der Betrüger—und hatte angeblich seine Beteiligung an der Revolution von 1989 vorgetäuscht, nur um vom Staat ordentlich Sonderleistungen (wie eine großzügige Pension und einen Baugrund in bester Vorstadtlage) zu kassieren.

So, wie man sich bei uns die Geschichte erzählte, war Victor einfach am Rande der Tumulte betrunken auf einen Panzer gestiegen, hatte sich mit Victory-Zeichen fotografieren lassen und war danach mit dem Foto, das in lokalen Zeitungen erschien, bei den Ämtern hausieren gegangen, bis sie ihn mit dem Nächstbesten zu Reichtum, das meine Familie kannte, überschütteten.

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Als ich mich schließlich selbst mit Victor unterhielt, zeichnete er ein ganz anderes Bild. Victor schickte mir einen Video-Ausschnitt aus der Tagesschau, in dem er angeblich zu sehen war—auch wenn die geringe Auflösung eine Identifizierung schwierig machte. Eine Woche später, als ich bereits mit einem Rückzieher rechnete, sendete er mir 10 abgetippte Seiten über die mühsam zusammengetragene Chronologie der Ereignisse. Hier ist also die Revolution aus Victors Sicht. Wer hier die wahren Betrüger sind, soll jeder selbst entscheiden. Ich sehe jedenfalls schon Bill Murray weinen.

„Am 16. Dezember 1989 hatte sich auf dem Mariaplatz über Nacht eine Menschenmenge gebildet. Ich erzählte allen Menschen, die ich traf, dass hier bald etwas Großes passieren würde, das hatte ich im Gefühl. Rundherum standen einige geparkte Autos, die eindeutig der Polizei gehörten.

Darin saßen Zivilpolizisten, die uns ausspähten. Am Nachmittag, als bereits an die 400 Personen am Platz versammelt waren, kamen dann zuerst die Straßenbahnen zum Stillstand—bald darauf der gesamte Verkehr. Zirka zur selben Zeit verschwanden die normalen Polizeibeamten und die ersten Sondereinsatzkommandos tauchten auf—die ‚Schilder-Polizei’, wie man bei uns sagt.

Inzwischen hatten sich auch unter die Demonstranten Spitzel gemischt—ich konnte sehen, wie einige der angeblichen Zivilisten immer wieder mit den Polizeibeamten sprachen und mit dem Finger auf einzelne Demonstranten zeigten, die daraufhin abgeführt wurden.

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Plötzlich griffen die beiden Menschen neben mir nach meinen Armen und wollten mich ebenfalls vom Platz zerren. Ich bekam einen harten Schlag auf den Kopf. Überall war Blut.

So ging das mit den Demos die nächsten zwei Tage weiter. Es wurde viel geplündert. Am 18. 12. sind dann schließlich auch die Soldaten auf unsere Seite übergelaufen. Dann tauchten die Zivilstreifen wieder auf. Sie waren es auch, die die ersten Schüsse abgaben. Ein weißes Auto fuhr an der Kirche vorbei und schoss in die Menge. Unweit von mir trafen sie einen Jungen in den Brustkorb. Wir schleiften ihn unter einen Baum in der Nähe. Ich wandelte völlig panisch in Richtung der Brücke und legte mich auf den Boden, um nicht auch erschossen zu werden—aus allen Richtungen wurde geschrien und gefeuert. Auf einmal war es keine Demonstration mehr, sondern Ausnahmezustand. Rund um den Mariaplatz lagen überall Tote.

Als sich die Lage vor Ort halbwegs beruhigt hatte, stand ich auf und machte mich auf den Weg zu meinem Vater—in meine eigene Wohnung konnte ich unmöglich zurück, da ich nicht wusste, ob sie mich nicht schon bei einer der Demos der letzten Tage identifiziert hatten. Außerdem hatte ich bereits zwei ‚schwarze Übertritte’ in meinem Akt, also illegale Fluchtversuche über die Grenze. Überall auf dem Weg sah ich, wie Menschen verhaftet wurden.

Als ich um neun Uhr abends dann die Wohnung meines Vaters erreichte, waren die Kämpfe erst seit kurzem vorbei. Am nächsten Tag trat ich vor die Tür, als gerade ein Kleinlaster vorbeifuhr. Direkt vor dem Haus lag ein Junge, vielleicht 18 Jahre alt. Er hatte ein Loch im Kopf. Ein paar Männer stiegen aus, öffneten die Kofferraumtür. Drinnen lagen Leichen. Ich weiß nicht genau, wie viele, aber es waren bestimmt zehn. Sie hoben den Jungen wie einen Kartoffelsack auf und schmissen ihn zu den anderen. Rundherum standen einige Nachbarn und beschwerten sich, wie achtlos die Leichen behandelt würden. Die Männer schrien uns an. ‚Wenn ihr ein Problem habt, kommt ihr auch ins Auto’, sagten sie. Die gesamte Situation war völlig absurd.

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Vor den Krankenhäusern standen Angehörige von Opfern, die nicht zu ihren Verwandten durchgelassen wurden. Auf den Treppen vor der Kathedrale lagen inzwischen Tote, die erwischt wurden, während sie Kerzen für die Opfer anzünden wollten.

Die Nachrichten verbreiteten sich ziemlich rasch. Als wir Radio Freies Europa hörten, war bereits überall von ‚DER SITUATION in Timişoara’ die Rede. Auch in den Fabriken wurde jetzt verstärkt gestreikt. Gerüchte tauchten auf, denen zufolge Ceauşescu angeblich verordnet hatte, dass Timişoara verschwinden sollte. Währenddessen erklärte die Rumänische Demokratische Front, die erste neue Partei seit den Kommunisten, Timişoara zur freien Stadt.

Am 19. 12. trat ein Bundesheer-Offizier auf den Balkon der Oper und verkündete jetzt auch offiziell, dass das Militär auf unserer Seite stünde. Wir errichteten Barrikaden vor dem Mariaplatz, weil es hieß, Ceauşescus Truppen würden einen Angriff von der anderen Seite der Bega auf uns vorbereiten. Alles bestand nur noch aus Barrikaden und Gerüchten. Wir hörten von Autos mit jugoslawischen Kennzeichen, aus denen ebenfalls geschossen wurde.

Bis Weihnachten war ich durchgehend bei der Barrikade, während rundherum geschossen wurde. Am 24. 12. stellten wir sogar einen Baum dort auf und schmückten ihn mit schwarzen Bändern statt Christbaumkugeln. Am 25. 12. war die Gegenwehr plötzlich verschwunden. Ich ging nachhause und war trotz allem wirklich ein bisschen glücklich. Wir hatten die Revolution für uns entschieden.

Heute werden wir ehemaligen Revolutionäre schief angeschaut—was kein Wunder ist, weil diejenigen, die heute an der Macht sind, immer noch dieselben sind, gegen die wir damals rebelliert haben. Ceauşescu ist gefallen, aber sein Personal ist geblieben. Uns wird vorgeworfen, dass wir von der Revolution profitieren wollen.

Ich selbst habe von 2005 bis 2010 eine kleine staatliche Pension als Revolutionär bekommen. Seit drei Jahren erhalte ich gar nichts mehr. Und ich bin nicht der Einzige. Nur diejenigen, die nachweislich im Gefängnis waren, bekommen heute noch Geld. Ich will natürlich nicht sagen, dass man für politische Gefangenschaft keinen Ausgleich bekommen sollte—aber ein bisschen ironisch ist diese Regelung schon, weil diejenigen, die während der Unruhen eingesperrt wurden, ja am wenigsten aktiv an der Revolution beteiligt waren.

In den letzten Jahren sind laut offiziellen Angaben an die 3.000 Revolutionäre verstorben. 18 davon haben Selbstmord begangen. Letztes Jahr ist auch noch mein Bruder gestorben—und obwohl man in Rumänien sonst beim Tod eines Angehörigen eine finanzielle Unterstützung erhält, hat meine Familie auch hier absolut keine Geldmittel bekommen. Von dem versprochenen Grundstück habe ich, genau wie 95 % aller früheren Revolutionäre, ebenfalls nie wieder etwas gehört.“

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