„Pass auf—auf der Straße sind Scharfschützen“, warnte uns der Dschihadist, als mein Fahrer neben ihm und acht anderen schwer bewaffneten Männern anhielt, die sich auf einen Kampf vorbereiteten.Er und die anderen Kämpfer gehörten jener als Islamische Staat im Irak und al-Sham (ISIS) bekannten Gruppe an, die derzeit als Ableger von al-Quaida auf den Schlachtfeldern Syriens agiert.Wie der Zufall es wollte, hatten wir das gleiche Ziel—die Frontlinie in der Nähe von dem Hauptsitz von Ahfad al-Rasul—noch eine militante Gruppe in Syrien. Sie kämpfen an der Seite der Freien Syrischen Armee und hatte der ISIS wenige Stunden zuvor wegen der Kontrolle der Provinzhauptstadt ar-Raqqa den Krieg erklärt.
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Es war mein dritter Besuch in der Stadt, seitdem sie vor vier Monaten „befreit“ worden war, wie Syrer die Gebiete oft bezeichnen, in denen Rebellen es geschafft haben, Regierungstruppen zu vertreiben. Der Kampf gegen Baschar al-Assads Kräfte in ar-Raqqa hat nur etwa eine Woche gedauert—ein scharfer Kontrast zu den Kämpfen in Aleppo, wo Waffenkämpfe und Bombardements noch über ein Jahr nach Beginn des Konflikts anhalten.
Mitglieder eines Bataillons der Freien Syrischen Armee helfen beim Betrieb einer Bäckerei, die in der Provinzhauptstadt ar-Raqqa zu niedrigen Preisen Brot an Zivilisten verkauft. Nachdem Rebellen einmal die Kontrolle über ein Gebiet gewonnen haben, ist es nun zur Standardprozedur geworden, dass das Regime mit willkürlichen Luftschlägen antwortet—mit dem Ziel, Schwaden von Anti-Assad-Kämpfern zu töten. Doch im April, nur wenige Wochen nach der Befreiung, schienen Einwohner die unvermeidliche Spur der Verwüstung willkommen zu heißen—ein Zeichen für den Fortschritt der Rebellen.Seit Kurzem hat sich die Spannung in ar-Raqqa jedoch wieder stark verstärkt und die Stimmung veränderte sich vollständig. Der rebellische Widerstand zersplittert weiter. Viele Gruppen, die einst Seite an Seite gegen Assad gekämpft haben, richten sich nun gegeneinander. Die ursprüngliche Feier der Freiheit ist in Furcht und Unsicherheit umgeschlagen.Eine Reihe von zivilen religiösen und säkularen Bewegungen hat ebenfalls versucht, sich zu etablieren—in der Absicht, die Zukunft der Stadt und vielleicht auch die des Landes zu beeinflussen. Eine Gruppe names Haqna—Arabisch für „unser Recht“—ist eine der Organisationen, die entsprechende Verantwortung übernehmen wollen. Ihr Logo—eine Hand, die ein V-Zeichen macht, wobei der Zeigefinger mit Wahltinte bemalt ist—wurde über die ganze Stadt verteilt gesprayt. Haqna verfolgt das Ziel, die Bevölkerung über ihre zivilen Rechte und die Wichtigkeit von Wahlen zu unterrichten—meist geschieht dies auf Initiative junger einheimischer Aktivisten.
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Kinder spielen mit den Überresten einer Statue des Präsidentenbruders Basil al-Assad, die zerstört wurde, nachdem Rebellen die Kontrolle über die Provinzhauptstadt ar-Raqqa übernommen hatten.Haqna stieß jedoch bereits auf Widerstand der ISIS. Einige der Mitglieder wurden vor Kurzem verhaftet, weil sie Proteste gegen die militante Islamistengruppe organisiert hatten. Ein Aktivist behauptete nach einer Demonstration vor ihrem Hauptquartier, er hätte jemanden gesehen, der sie aus dem Inneren des Gebäudes gefilmt hätte. „Sie sind schlimmer als der Mukhabarat [der Geheimdienst]—sie haben ihre Augen überall“, sagte er.Während Mitglieder der ISIS zur Zeit das Regierungsgebäude in ar-Raqqa besetzen—ihre schwarze Flagge ist draußen auf dem Hauptplatz gehisst—, ist es die unabhängige Bewegung Ahrar al-Sham, die bei der Verwaltung der Stadt die größte Rolle spielt. Die Gruppe hält Grundleistungen wie Müllabfuhr und Wasser- und Stromversorgung instand. Zudem leitet sie öffentliche Bäckereien, versorgt Tausende Familien in der Provinz mit Essenspaketen und fördert die islamische Bildung durch öffentliche Vorträge, Workshops sowie durch religiöse und philosophische Nachrichten, die in der ganzen Stadt auf Mauern und auf Postern verbreitet sind.Das heißt nicht, dass die Gruppe nicht auch militärisch engagiert sei. Obwohl die Stadt von den Rebellen kontrolliert wird, bleibt ein Gebiet etwa einen Kilometer außerhalb der Stadt noch immer von der Division 17, einer Assad-Einheit, umkämpft. Die Kämpfer von Ahrar al-Sham stellen hier die wichtigste Rebellenkraft dar. Ich fragte einen von ihnen, wann er glaubt, dass die Division 17 besiegt wird. Auf Anhieb antwortete er: „Ich hoffe, nicht so bald“, offensichtlich im Bewusstsein, dass das Regime dann mit Luftschlägen reagieren würde, denen Zivilisten zum Opfer fallen würden.
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Die Leiche eines Kindes, das während eines Fassbombenangriffs getötet wurde, wird zur Bestattung in ar-Raqqa City vorbereitet. Ich kenne das Problem aus eigener Erfahrung. Am Ende des Ramadan wurde ich vom Lärm vorbeirasender Rettungswagen geweckt. Es stellte sich heraus, dass Helikopter der syrischen Armee Bomben auf drei verschiedene Gebäude geworfen und dabei 13 Menschen getötet hatten. Nach wenigen Stunden fand ich mich im gekühlten Raum eines Leichenschauhauses neben einem Vater wieder, der vor den Leichen seiner sechs in Grabtücher gewickelten Kinder stand.Die Familie wartete mit der Beerdigung bis zum Abend, um nicht von einem weiteren Angriff getroffen zu werden. Bestattungen sind oftmals Ziele des Beschusses durch das Regime. Ein Rebell, der auf der Ladefläche eines Trucks ein schweres Maschinengewehr hielt—oder eine „dushka“, wie sie umgangssprachlich genannt wird—, folgte uns zu unserem Schutz.Die Leichen und die Trauernden wurden in drei Trucks transportiert. Auf dem Weg zum Friedhof sah ich, wie ein kleiner Junge am hinteren Ende eines Trucks saß und über der Leiche von einem seiner sechs ermordeten Geschwister weinte. Die Umstehenden, vor allem Familien, die am Abend zuvor ein fröhliches Ramadanfest gefeiert hatten, standen schweigend da. Als der Zug an ihnen vorbeifuhr, hielten sie die Handflächen respektvoll vors Gesicht. Ein Mann kündigte die Märtyrer an: „Shahid! Shahid! Sechs Brüder und Schwestern!“
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Islamistische Rebellenkämpfer posieren für ein Porträt im opulenten Regierungspalast in der Provinzhauptstadt ar-Raqqa. Als wir angekommen waren, blieb keine Zeit für eine Zeremonie. Aufgrund der Nähe zu den Truppen der Division 17 musste die Beerdigung eilig vonstattengehen. Wir mussten unsere Lichter ausschalten, um keine in der Region verbliebenen syrischen Armeefunktionäre anzuziehen. Ein paar Männer halfen dabei, die Leichen an den Vater zu reichen, der in dem riesigen offenen Grab stand. Andere hielten ihre Handys hoch, um gerade so viel Licht zur Verfügung zu stellen, dass die Leichen an den richtigen Ort gelegt werden konnten. Nach ein paar Minuten fuhren wir wieder ab.Zurück im Hauptquartier von Ahfad al-Rasul—das die Gruppe im stillgelegten Bahnhof von ar-Raqqa eingerichtet hat und zu dem wir wollten, als wir den ISIS-Kämpfern über den Weg gelaufen sind—setzte ich mich mit Abu Mazin zusammen, dem Kommandanten, der der militanten Islamistengruppe gerade den Krieg erklärt hat. Seine Männer hatten um die gesamte Station herum Barrikaden errichtet.Abu Mazin beschrieb seine Gruppe als eine militärische Organisation ohne politische Verbindungen und sprach über ein größeres Projekt, von dem Ahfad al-Rasul ein Teil ist. „Wir arbeiten daran, alle FSA-Gruppen unter dem Nationalen Sicherheitsrat zu vereinigen“, erzählte er mir. „Zukünftig werden wir die nationale syrische Armee bilden.“ Mit der Versicherung, dass seine Gruppe keiner speziellen Ideologie folge, fuhr er fort: „Wir sind für alle nur Syrer. Wir können Syrien nicht als Einheit zusammenhalten, wenn wir eine einzelne Ideologie verfolgen.“
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Frauen bei einer öffentlichen Kundgebung, die diejenigen in Erinnerung ruft und ehrt, die beim Kampf um die Kontrolle der Provinzhauptstadt ar-Raqqa ihr Leben verloren haben. Als Ortseinwohner sagte Abu Mazin, dass er der ISIS vor allem deshalb den Krieg erklärt hat, um für die Freilassung von 1.500 Gefangenen zu kämpfen, von denen etwa 500 FSA-Mitglieder sind. Außerdem sagte er, dass er die Unterstützung der Einwohner von ar-Raqqa habe. „Die Leute wollen nicht unter der Herrschaft der ISIS stehen“, erklärte er.Das Interview wurde kurzgehalten, weil Abu Mazin und seine Männer vor allem mit dem Kampf beschäftigt waren, den sie vor ein paar Tagen angefangen hatten. Seitdem hätten seine Männer bereits 40 ISIS-Mitglieder getötet oder verletzt, während in den eigenen Reihen nur drei Verletzte zu verzeichnen seien. „Das ist meine Stadt. In einem Stadtkampf können sie uns hier nicht besiegen“, erzählte er mir.Bevor ich abfuhr, fragte ich ihn, ob ich die Kämpfer an der Front fotografieren könnte. „Klar. Aber zeig ihre Gesichter bitte nicht“, antwortete er. „Sie haben Angst vor der ISIS.“Am folgenden Tag, vor meiner Abreise aus ar-Raqqa, wollte ich Abu Mazin anrufen und ihm ein paar weitere Fragen stellen. Doch mein Telefon klingelte, bevor ich seine Nummer wählen konnte. Eine Autobombe hatte sein Hauptquartier getroffen. Er und alle anderen Männer, die ich am Tag zuvor getroffen hatte, waren tot. „Es ist vorbei“, sagte der Aktivist, der mir die Neuigkeiten mitteilte. „Die ISIS hat gewonnen.“
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