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DIE LITERATURAUSGABE 2013

Dinge, die wiederum wichtig waren für eine Kindheit in den ausgehenden 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts

Die hochgefeierte Schweizer Jungautorin Katja Brunner erhielt für ihr "Stück Von den Beinen zu kurz" den renommierten Mülheimer Dramatiker-Preis. Für unsere Literaturausgabe hat sie uns den Text mit dem längsten Titel im Heft zur Verfügung gestellt.

Allem voran hat sie gelernt, nützlich zu sein. Sie hat gelernt, das bisschen an Schönheit zu steigern ins Maximalmögliche, sie hat gelernt, dassdies—wohlgemerkt neben der Nützlichkeit—die grössteTugend ist. Sie hat gelernt, dass die Befindlichkeit unwichtig ist und grösstenteils zu ignorieren, im besten Fall, sodass man vergisst, dass man einst eine hätte haben können. Sie hat gelernt, von sich genauso viel zu halten, wie es die Schönheit erlaubt. Sie hat gelernt, von klassischer Musik (vor allem Wagner) berührt zu sein.

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Sie hat gelernt, von anderen Musiken schwerer berührbar zu sein.

Sie hat gelernt, dass die eigene Mutter früh starb, und sie hat frühzeitig Erfahrungen gemacht mit dem Schwärzen ihrer ganzen Garderobe. Sie hat gelernt, was Stauden sind und Sträucher, sie hat Konversationsfranzösisch gelernt, und die mannigfaltigen Stolpersteine von Tischmanieren hat sie zu umgehen gelernt, leichthändig, ohne die Anspannung um den Mund. Sie hat anschauen gelernt und auf den Markt gehen. Sie hat bestimmte Leute bestimmten Standes, bestimmter Verhaltensweisen und bestimmter Gangarten sowie auch bestimmter Nasengrössen und bestimmter Sprachanwandlung verachten gelernt. Sie hat stilles Verachten gelernt, das sich nicht einmal zu einer Handbewegung verführen lässt.

Sie hat gelernt, Genuss zu verstecken. Sie hat gelernt, Joghurt herzustellen und ein oder zwei Kuchenrezepte. Sie hat gelernt, die Schrift der Mutter zu lesen. Sie hat gelernt, zur Schule zu gehen, sie hat gelernt, ganz komplett geräuschlos über gebohnerten Boden zu gehen. Sie hat gelernt, einen Ring der Mutter zu verstecken, dabei hat sie auch das Lügen zu perfektionieren gelernt, der Vater und die Brüder haben ihn nicht gefunden bis auf einen Tag, aber das war spät genug, um gefunden zu werden.

Sie hat die Kunst des Begehrtwerdens gelernt, sie hat das Handeln gelernt, sie hat das wohldosierte Lieben gelernt, sie hat Stricken, Stopfen und Sticken gelernt, sie hat das Alphabet gelernt. Sie hat gelernt, nach welcher Zeit man zu schlafen, zu denken, zu essen, zu spielen hat. Sie hat gelernt, dass in den gepuderten Perücken barocker Frauen Mäuse hausten, sie hat gelernt, am Tisch zu sprechen, wenn sie gefragt wurde, sie hat gelernt, nicht oft gefragt zu werden, ausser es waren Gäste da. Sie hat gelernt, wie die Bergspitzen heissen, die die Alpen machen, einige davon, sie hat das Skifahren gelernt und die Bauchschmerzen, sie hat das Weinen ohne Schulterzucken gelernt und auch ohne Ton, nur auch noch ohne Wasserlass, das hat sie nicht gelernt, dafür schelte ich sie nun. Sie hat gelernt, wann man Schafgarben pflücken geht und zu Tee aufgiesst. Sie hat gelernt, was Körpersäfte sind und was Blutungen. Sie hat gelernt, was eine Engelmacherin ist und eine drohende Enterbung. Sie hat gelernt, was ihr Bruder liebte, sie hat gelernt, ohne jemanden reden zu können. Sie hat gelernt, keine Fragen zu stellen, die nicht im Kursmaterial voraussehbar waren, sie hat gelernt, milde zu kichern und dabei verhängnisvoll zu schauen, sie hat gelernt, sich für ihre Nase zu schämen, sie hat gelernt, Rosen richtig anzuschneiden, sie hat von Meissenporzellan zu essen gelernt, sie hat gelernt, eine Penetration erträglich zu finden, sie hat gelernt, einer sterbenden Schwalbe den Tod zu schenken, sie hat gelernt, eine Ente auszunehmen, sie hat den Erlkönig auswendig aufzusagen gelernt, sie hat Geschichten um Jesus gelernt, sie hat gelernt, mit der letzten Tram nachhause zu fahren, sie hat die Ehrfurcht vor der Stadt gelernt, sie hat die Prozedere um Nagelpflege gelernt (dazu: Immer schön Unterlack, Farblack, Überlack und bitte ausschliesslich acetonfreien Nagellackentferner), sie hat den Grabplatz der Urne mit den Mutterüberresten drin gewissenhaft pflegen gelernt, sie hat französische Literatur kennengelernt, sie hat die Briefschrift des Vaters kennengelernt, sie hat den Turnbarren lieben gelernt, sie hat die Nächte verachten gelernt, sie hat Hasstiraden lesen und als normal und ewiggültig zu verstehen gelernt, sie hat einen Mann kennengelernt und eine Hochzeit in Zeiten der Rationierung. Sie hat die auszuhaltende Schwangerschaft kennengelernt, sie hat einen wiederkehrenden Traum kennengelernt, sie im Skilift und wie sie daraus herausrutscht, nichts hält sie drin, sie hält sich mit einem Arm noch fest, dabei ein Bäuchlein wie nach fünf Monaten Schwangerschaft im Traum, und ja nicht, gar nicht, keinesfalls darf sie loslassen, sie hat Gemüse pürieren gelernt und gute Rochaden. Sie hat die Bedeutung von Baldrian für Katzenjunge kennengelernt und die Übelkeiten des Ausbrütens. Sie hat Geduld nicht kennengelernt, singen nicht und nicht den Überfluss, den sie sich erbat. Sie hat Essensmärklein einordnen gelernt und Lieder ans Vaterland. Sie hat Mittagsspaziergänge gelernt, sie hat scheiden gelernt und Strampelanzüge für Kleinkinder zuzuknöpfen, gänzlich ohne hinzuschauen.

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Nicht gelernt hat sie, traurig zu sein, dass man es ihr an der Nase ansieht, nicht gelernt hat sie, Sätze zu Ende zu denken, wie mir blutets aus dem Herz, nicht gelernt hat sie, dem Kind zu sagen, dass sie es liebt, sie hat aber vortrefflich dem Kind sagen mögen, es sei eine verlorene Liebesmüh und Mühe sei sein zweiter Vorname, der vom Kind, und hat dem Kind einen Jagdhut für den ersten Schultag aufgesetzt, das ihm schon einen Stand, wobei eher einen Sitz oder eine verrenkte Liegeposition beschert hatte im Klassenverbund.

Gelernt hat sie, wie es sich anfühlt, die Gesichtsmitte des Kindes vorzüglich zu treffen, sodass ein roter Faden sich wand vom Gesicht hin zum Boden, hin und wieder.

Wenn sie traurig war, die Grossmutter, dann hat sie halt eine Gesichtsmitte gesucht und gefunden. Wenn sie glücklich war, eine andere. Die gehörte meistens jemandem, der Onkel genannt wurde von dem Kind, das eben eine verlorene Liebesmüh war.

Ich glaube auch, die Grossmutter hat im Bad lange gebraucht, weil sie die Badewanne anfüllte, weil sie angefüllt war mit Augenwasser, das reicht, sich zu baden.

Ich glaube, wenn sie wütend war, war sie traurig, und traurig war ein Grundzustand, deshalb tat sie erstmal nichts.

Und schaute hinaus in den Garten oder an die Bäume oder in die Hosentaschen oder auf die Qualität der Maniküre.