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Popkultur

Dieser Typ hat ein Entzugsprogramm für deine Internetsucht

Liefere dich in seine Notaufnahme für Internetsüchtige ein, bevor virtuelles Multitasking Teile deines Gehirns kollabieren lässt.

Foto von Nicolas Nova

Letzten Monat wurde in Stockholm die erste schwedische Notaufnahme für Internetsüchtige aufgemacht. Da Schweden zu den Ländern mit den meisten Internetnutzern der Welt zählt, war das vielleicht höchste Zeit. Unabhängig davon diskutieren verschiedene Wissenschaftler, Experten und Journalisten schon seit ein paar Jahren darüber, ob Internetabhängigkeit als eigenständige Krankheit gelten soll, der mit speziellen Behandlungseinrichtungen begegnet werden muss, oder ob es sich nur um eine urbane Legende handelt.

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Der amtlich zugelassene Therapeut und Gründer der Internetnotaufnahme Patrik Wincent vertritt den ersten der beiden Standpunkte. In seiner Einrichtung rufen jeden Tag zehn bis fünfzehn Leute an, die das Ausmaß ihres Internetkonsums für nicht mehr gesund halten.

Vor der Umsetzung des Entzugsprogramms half Patrik zehn Jahre lang Menschen, die von Computerspielen abhängig waren. Wie die meisten meiner Freunde bin ich zum Großteil der Zeit online. Patrik müsste mir also genau verraten können, wie ich eine baldige Einweisung in seine Notaufnahme verhindern kann.

Patrik Wincent

VICE: Hey Patrik, hast du Zeit für ein Gespräch?
Patrik Wincent: Ja, ich bin gerade unterwegs, aber wenn dich das nicht stört, können wir uns unterhalten.

Hattest du dein Handy in der Hand, als ich angerufen habe? Leidest du an einer digitalen Abhängigkeit?
Nein, ich habe Regeln, wie ich damit umgehe. Außerdem denke ich nicht, dass es das Gleiche ist, beim Gehen zu telefonieren und beim Gehen auf einen Bildschirm zu schauen. Letzteres wird gewöhnlich als Gefahr angesehen, du blendest ein Fünftel deines Blickfeldes aus und neigst deinen Hals wie ein Falke. Wir hatten letzte Woche einen Fall, wo ein Typ vom Bahnsteig gefallen ist, weil er sich so auf sein Handy konzentriert hat. Er konnte rechtzeitig von den Gleisen wegkommen, aber es war auf jeden Fall ein Warnzeichen für ihn.

Wow. Im Gehen auf den Bildschirm zu schauen, wird als gefährliches Verhalten eingestuft?
Ja, ich denke schon. Es gibt heutzutage Leute, die ineinander oder gegen einen Baum laufen. Das kann zu einem lebenslangen Schaden führen. Neben den physischen Konsequenzen ist es auch nicht besonders sexy, die ganze Zeit auf einen Bildschirm zu starren. Und es zeigt einen Mangel an Respekt anderen Menschen gegenüber. Wir sind in vielerlei Hinsichten von Stimulanzien abhängig, was sowohl psychische als auch physische Begleiterscheinungen haben kann. Viele Menschen beherrschen heute Multitasking. Die Forschung hat jedoch gezeigt, dass Leute aufgrund des Multitasking Lernprobleme entwickeln. Es wird schwieriger, Informationen aufzunehmen und sich für lange Zeit auf eine Sache zu konzentrieren. Wir begegnen vielen Menschen, die ADHS-artige Symptome aufweisen.

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Zumindest in Schweden ist es ja ziemlich normal, auf sein Handy zu schauen, während man sich mit Freunden trifft.
Ja. Wir sind süchtig nach externen Informationen und wissen nicht, wie wir Zeit mit uns selbst verbringen. Wie wir einfach unser Essen genießen oder uns erlauben, gelangweilt zu sein. Handys üben Macht und Kontrolle auf unser Leben aus. Ein Handy kann psychoaktiv wirken und deine Gefühle und deine Laune verändern. Es kann sein, dass du gelangweilt bist, dich aber plötzlich viel besser fühlst, weil du Nachrichten gelesen hast oder soziale Netzwerke genutzt hast. Das gibt dir die Reize, die du brauchst.

Das klingt eher nach einer sozialen Sucht als nach einer Abhängigkeit vom Internet. 
Es ist Beides. Ich würde eher von einer Sucht nach Stimulanzien sprechen, aber es gibt verschiedene Kategorien. Einige Menschen hängen vor allem an einer speziellen Social-Media-Seite wie Facebook. Es gibt 12-Schritte-Programme für zwanghafte Facebook-Nutzer. Aber das Smartphone hat Macht, Kontrolle, alles.

Denkst du, dass die Leute in westlichen Gesellschaften Angst vor der Einsamkeit haben?
Ich denke, dass viele Leute Schwierigkeiten haben, allein zu sein, weil sie an schlechten Angewohnheiten leiden. Aber das trifft nicht auf alle zu. Du kannst nicht die Gesellschaft anschauen und sagen: „Meine Güte, alle starren auf ihre Handys.“ Einige Leute wollen es so und haben kein Problem damit. Und das ist völlig in Ordnung. Bei denjenigen, die unsere Hilfe suchen, handelt es sich jedoch um Leute, die an der Sucht und den Begleiterscheinungen leiden. Sie entwickeln zwanghafte Verhaltensweisen. Wir bieten Behandlungen an, um diesen Zustand zu durchbrechen. Zu den Symptomen zählen Schlafstörung, Depression, ein generelles Gefühl der Niedergeschlagenheit, Konzentrationsschwierigkeiten und Gedächtnisprobleme. Das Gehirn kommt nie zur Ruhe, wenn wir ständig im Internet sind. Wir brauchen mehr Zeit für uns selbst.

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Das klingt nach typischen Stresssymptomen. 
Auf jeden Fall.

Würdest du sagen, dass Smartphones und das Internet Stress auslösen?
Es ist das Multitasking. Wir sind extrem effizient, wenn wir alles auf einmal machen. Unser Körper erzeugt Cortisol und Adrenalin—Stresshormone, durch die das Hirn überbeansprucht wird. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass der vordere Teil des Gehirns durch Multitasking kollabiert. Dieser Teil des Gehirns ist unter anderem für die Motivation verantwortlich. Wir begegnen vielen Jugendlichen—und Erwachsenen—, die einen kurzfristigen Kick bekommen, wenn sie riesige Mengen an Informationen aufnehmen, aber nicht in der Lage sind, große Zeit lang zu denken.

Wann wurde dir klar, dass es an der Zeit für eine Internetnotaufnahme ist?
Wir hatten zwei Jahre lang eine Notaufnahme für Abhängige von Computerspielen. Wir haben Familien geholfen, deren Kinder zu viel spielen oder die ganze Zeit vor dem Computer sitzen. Bald wurde uns klar, dass es nicht nur um Computerspiele geht. Viele Menschen sind süchtig nach dem Internet oder nach Handys, meistens Leute, die das Bedürfnis haben, immer online zu sein. Bei dem Ausbau unseres Unternehmens haben wir die Internetnotaufnahme eingerichtet. Wir arbeiten mit Einrichtungen in den USA zusammen und probieren Behandlungen aus, die dort ebenfalls eingesetzt werden.

Wie behandelt man diese Sucht?  
Wir haben zum Beispiel das „mobile Entzugsprogramm“ oder den „weißen Monat“. Das sind verschiedene Programme, mit denen du eine Balance finden sollst. Sie funktionieren wie alle anderen Programme gegen Missbrauch und Suchtverhalten, aber wir erwarten keine völlige Abstinenz. Wenn du Essstörungen hast, musst du ja auch nicht aufhören zu essen. Es geht darum, eine richtige Haltung zu finden, eine gute Balance herzustellen, deinem Gehirn Erholung zu gestatten und zu lernen, sich auf eine Sache zur Zeit zu konzentrieren.

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Was für Leute wenden sich an euch? 
Ein weites Spektrum von Leuten. Aber wir werden vor allem von Mädchen angerufen. Sie leiden an einem unsachgemäßen Gebrauch des Internets und Handys.

Warum gerade Mädchen?
Mädchen interessieren sich mehr für soziale Medien. Jungen natürlich auch, aber Mädchen scheinen im Internet anders zu kommunizieren. Es gibt heutzutage Instagram und Selfies und so weiter. Das könnte ein Grund dafür sein.

Warum seid ihr die Einzigen, die diesen Service anbieten?
Das ist eine gute Frage. Die Sache ist, dass diese Probleme noch nicht auf politischer Ebene diskutiert werden, der Staat bietet keine Hilfe gegen diese Sucht. Die Angelegenheit bekommt zu wenig Aufmerksamkeit.  Es ist an der Zeit, dass wir die Internetsucht im gleichen Ausmaß wie die USA erforschen. Es gibt schon ein bisschen Forschung, aber wir brauchen noch mehr, und das Problem muss ernster genommen werden. Wir bekommen immerhin zehn bis fünfzehn Anrufe am Tag.

Was gibst du Leuten mit auf den Weg, die das Gefühl haben, internetsüchtig zu sein? 
Du kannst dir zum Beispiel Regeln und Grenzen setzen, wann du dein Telefon benutzt und wann nicht. Du könntest unter der Woche zwischen 9 Uhr abends und 7 Uhr morgens nicht auf dein Handy sehen. Du könntest dafür sorgen, dass sich dein Handy nicht in deinem Schlafzimmer befindet. Viele Menschen nutzen ihr Handy morgens als Wecker, aber dadurch besteht die Gefahr, dass sie ihre E-Mails und Social-Media-Seiten lesen. Schaff dir lieber einen richtigen Wecker mit Batterien an!

Guter Tipp. Danke Patrik!