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DIE LITERATURAUSGABE 2013

Der Ort, an dem 
du dich befindest, ist uns nicht bekannt

Eine bildende Künstlerin, ein Fotograf und ein Schrifsteller sitzen in Kikinda, der "Mammut-Stadt" und trinken meistens Rakia anstatt zu Arbeiten. Cornelia Travnicek erzählt in der diesjährigen Literaturausgabe von einem KünstlerInnenaustausch in...

Unter meinen Fingern zerfällt die hellgraue Lackschicht in kleine Stückchen, darunter kommt der Rost zum Vorschein, was ich im Dunkeln jedoch nur fühlen kann. Wenn wir stehen bleiben, ich die Hände vom Eisen nehme und sie an meinen Jeans abstreife, um mich aufzurichten, den Rücken durchzustrecken und mir dann den Schweiß von meinem Gesicht zu wischen, verteile ich den grobkörnigen Staub von oxidiertem Metall auf meiner Kleidung und meiner Haut. Ich kann das Eisen riechen, es im Salz auf meiner Oberlippe schmecken. Mein T-Shirt wird mit jedem Schritt feuchter und schwerer, scheint mir, über unseren Köpfen fliegen die Fledermäuse, meine Schultern schmerzen.

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Nikola zündet sich in jeder Pause eine neue Zigarette an, die dann in seinem Mundwinkel hängt, nur um sich ganz von selbst in Asche aufzulösen. Michajlos Atem geht schwer, wenn wir schieben, und ich muss unwillkürlich an eine Sexszene denken (nur wegen der tiefen Atemzüge, so nahe an meinem linken Ohr). Der Schatten des Mammutskeletts legt sich auf die Häuserwände und neben dem längst zu Hintergrund gewordenen Geräusch der kleinen Räder am Asphalt ist alles still—bis auf das Schnaufen von Michajlo.

***

Ich stehe zwischen den Teilen meiner Lehmskulpturen im Terra und denke zurück an letzte Nacht, an alle letzten Nächte, während ich meine Handflächen betrachte. Die hart gewordene Haut beginnt sich an den Rändern der Schwielen zu lösen, noch lässt sie sich aber nicht abziehen.

Um die späte Mittagszeit bewegt sich nichts im Terra, denn obwohl es mittlerweile Herbst ist, bleibt die Tagesmitte unverändert drückend. Nur die vorgestern angereiste Künstlerin aus Deutschland sitzt seit einer halben Stunde vor einem Stück Lehm und starrt es an, starrt den Klumpen an, als könnte alleine das Starren den Lehm verformen, ihm eine Skulptur abringen. Scheinbar ist das Formen von Lehmskulpturen keine schwierige Tätigkeit, die Schwierigkeit daran wird erst im Nachhinein sichtbar—wird das Material falsch gehandhabt, geht man nicht richtig vor, so entstehen beim Trocknen Risse und am Ende birst die Figur im Feuer.

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Über eine gute Geschichte sage ich zu Michajlo und Nikola immer das Gleiche: dass die Schwierigkeit, eine gute Geschichte zu schreiben, meiner Meinung nach in jedem einzelnen Satz verborgen liegt, ein unpassender Satz nur und sie bekommt Risse. Ja, wirklich, sage ich, wenn sie die Köpfe schütteln bei meinen Ausführungen, ein falscher Satz nur und sie bricht. Michajlo sagt mir, ich hätte doch keine Ahnung, während Nikola beim Kopfschütteln bleibt.

Es ist Herbst und ich sollte schon wieder zu Hause sein, in Wien, in der Stadt, in der ich keine Wohnung mehr habe. Ungefähr vier Monate ist es her, dass ich mit einem Zug von Jimbolia her über die rumänische Grenze nach Kikinda kam, einer Gemeinde in Serbien mit ungarischem Namen, bestehend aus einer Stadt mit hauptsächlich rechtwinkelig verlaufenden Straßen und neun weiteren winzigen Orten. Kikinda Stadt selbst hat von allem genau eines: einen Marktplatz, eine Kirche, ein Hotel, ein echtes Mammut und ein falsches. Nur die Dichte an Kaffeehäusern und Bars ist im Zentrum gefühlt so hoch wie in den inneren Bezirken Tokyos. Frühmorgens hört man hier die Hähne krähen. Kikinda ist nicht das, was man in Österreich ein Kuhdorf nennt, alleine schon wegen der gar nicht so niedrigen Einwohnerzahl, abgesehen davon, dass ich bis jetzt nur in der Nähe von Mokrin zwei Kühe gesehen habe. Kikinda ist auch nicht die typische englische one horse town, Kikinda ist eine „Ein Mammut-Stadt“, und damit wäre zu diesem Ort eigentlich alles gesagt.

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Am ersten Tag stand ich ungläubig vor dem riesigen Hotel, das, weil renovierungsbedürftig, eine Baustelle war, an der die Arbeiten noch nicht begonnen hatten, obwohl die dazugehörigen Bauarbeiter darin wohnten. Allem Anschein nach wohnte sonst in diesem Hotel niemand, das heißt niemand außer uns für die folgenden drei Monate. Ich bezog ein Zimmer im fünften Stock, in dem es zwei Einzelbetten gab. Meine Koffer stellte ich auf dem linken ab, während ich mich selbst auf das rechte legte und ein wenig über die Dimensionen des Raumes und der darin aufgestellten Kästen und Regale staunte.

Danach klopfte schon zum ersten Mal Michajlo an meine Tür und wir gingen in eines der vielen Cafés, in dem Nikola schon auf uns wartete, vor sich eine winzige Kaffeetasse und ein etwas größeres Glas mit durchsichtiger Flüssigkeit.

Am ersten Abend stieg ich in die Badewanne, um zu duschen, und drehte am Wasserhahn. Abgelenkt von den ausgebrochenen Fliesen rund um die Armaturen, richtete ich den Strahl der Dusche unbesehen auf mich. Als mein Blick von den Fliesen abglitt und in die Wanne rutschte, sah ich, dass das Wasser gelb war.

***

Kurz nachdem ich mich für dieses neue, EU-geförderte Aufenthaltsstipendium im Sinne des KünstlerInnenaustausches beworben hatte und einem guten Freund davon erzählte, sagte der nur, er hätte schon davon gehört. Außerdem wäre angeblich Peter Handke ganz wild darauf, dieses Stipendium in Serbien zu bekommen. Leider sei Österreich dieses Jahr mit einem bildenden Künstler an der Reihe.

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„Was heißt hier leider“, hatte ich gesagt, „darum geht es ja, ich will da hin.“

***

Am zweiten Tag wurden wir vom lokalen Radiosender zu einem Interview eingeladen. Ein Mitarbeiter des Senders holte uns ab, führte uns durch Stiegenhäuser und leere Säle, und ich schwöre, wir verließen das Hotel nicht. Dann waren wir in der Radiostation, in der die jungen Mitarbeiterinnen Kochsendungen ansahen, in denen alles Mögliche in Rouladenform zubereitet wurde. Während Michajlo die auf Serbisch gestellten Fragen auf Serbisch beantwortete, wartete ich vor der Kabine und sah mir an, wie am Bildschirm tonlos Nahrungsmittel eingerollt und in den Backofen geschoben wurden, immer wieder. Während Nikola auf Serbisch gestellte Fragen auf Kroatisch beantwortete, lernte ich einiges über die Anrichtetechniken, die der slawischen Rouladenköchin zur Verfügung stehen. Ich kam zu der Erkenntnis, dass alleine die Beschaffenheit der Roulade an sich das Anrichten und Dekorieren zu diesem einfachen und anscheinend unglaublich erfüllenden Kocherlebnis werden lässt.

Anschließend ging Michajlo mit mir in die Kabine, um mir vorher zu erklären, welche Fragen mir gleich zu meinem Schaffen gestellt werden würden. Ich hörte nur mit einem Ohr zu, weil ich über die Gemeinsamkeiten von Rouladen und Strudeln nachdachte und ob denn jetzt der klassische Mohnstrudel nicht doch eher eine Roulade wäre, sodass ich nachher, bei den natürlich auf Serbisch gestellten Fragen nur zur Hälfte wusste, was ich nun eigentlich beantwortete. Man bedankte sich bei mir, ich bedankte mich für die Einladung, und damit war das öffentliche Interesse an meiner Person einstweilen befriedigt.

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Jetzt stehe also ich auf dem Lehmboden, in dem vor vielleicht nicht ganz 750.000 Jahren ein Mammut eingesunken ist und weder vor noch zurück konnte. Aus diesem Lehm wurden die Ziegel und Dachschindeln für alle Häuser in dieser Umgebung gebrannt und aus eben diesem Lehm soll ich (noch immer) eine große und zwei kleine Skulpturen formen, die das Feuer überleben, das wird von mir erwartet.

Ich stelle mir vor, dass es diese lehmige Erde ist und nicht der Rost in den Leitungen, der das Wasser in meinem Badezimmer färbt.

***

Nachdem ich am dritten Tag in einem Büro minimalen Ausmaßes am hinteren Ende der Eingangshalle ein gelbes Netzwerkkabel entdeckt hatte, versuchte ich, das Internet zu benutzen. Zu meiner Überraschung gab es eine Verbindung zur Welt außerhalb Kikindas, ja sogar außerhalb Serbiens. Natürlich wollte ich das die Welt auch auf der Stelle wissen lassen und ging auf die Startseite von Facebook. Facebook hingegen war der Meinung, ich sei auf keinen Fall ich selbst, da ich woanders war als sonst.

Anscheinend war ihnen der Ort, an dem ich mich befand, nicht bekannt. Mir wurde die Möglichkeit angeboten, einen vierstufigen Sicherheitscheck zu durchlaufen, um meine Identität zu beweisen und Facebook außerdem zu verraten, wo genau in Serbien zu befinden ich mir denn einbildete. Ich lehnte dankend ab und fuhr mit dem Lift bis aufs Dach, um im neuen Buch von Grisham zu lesen. (Der Lift im Hotel zeigt zwei Stockwerke zu hoch an. Fährt man über das fünfte von sieben Stockwerken hinaus, so gibt es keine Anzeige mehr.) Wir haben es zu unserer Gewohnheit gemacht, nach dem Frühstück jeden Tag in eines der Cafés in unserer Straße zu gehen. Das Mittagessen nehmen wir wieder im Speisesaal ein: Dort drängen wir uns an einem kleinen Tisch in der Ecke zusammen und starren beim Kauen an die sich langsam auflösenden Wandteppiche in einem einheitlichen Graugrün, die dort hängen wie getrocknete Fischernetze, in denen sich immer nur Wasserpflanzen haben fangen lassen.

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Jede Mahlzeit zu Mittag endet mit einem Stück Kuchen, das auf einem Dessertteller unter einem Hügel aus chemischer Schlagsahne begraben serviert wird. Ein Drittel davon riecht nach Weihnachten.

Nach dem Mittagessen sitzen wir in einem der Cafés in unserer Straße, ein Stück weiter in Richtung Hauptplatz. Wir bestellen Rakia zum Mokka und werfen mit Münzen nach den bettelnden Kindern, die sich davon Eistüten kaufen oder Popcorn in bunten Kartons. Manchmal kaufen wir uns auch Eis in einer der kleinen Eisdielen, wo die Kugeln seltsam riesig und geschmacklos sind.

Die späten Nachmittage verbringen wir in einem der Caféhäuser, die sich abends in Bars verwandeln. Wir bestellen mehr Rakia als Kaffee—und Wasser, wegen der Hitze. Wir warten auf das Abendessen, bei dem die spröde Oberfläche der Wandteppiche im Licht der wenigen Glühbirnen noch stärker auffallen wird. Die drei Gänge am Abend liegen mir im Magen, jedes Mal beschließe ich, gleich einen Kaffee zu trinken, für die Verdauung, und einen Rakia, ebenfalls für die Verdauung. Dann ist die Nacht nicht mehr weit.

Jeder von uns dreien hatte eine ihm zugedachte Aufgabe zu erledigen: Nikola hatte eine Fotoserie von mindestens 21 Fotografien abzugeben, Michajlo einen Text mit ungefähr 23.000 Zeichen und ich musste 1 große und 2 kleine Figuren formen, die im Terra verbleiben sollten.

Jeder von uns dreien hat eine ihm zugedachte Aufgabe zu erledigen.

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Nach kurzer Zeit schon kannten wir die Leute im ersten, zweiten und dritten Kaffeehaus auf der linken Seite der Straße zum Hauptplatz. Wir hoben die Tässchen zum Gruß, wenn sie sich setzten. Am Zeitungsstand am Hauptplatz kaufte täglich einer von uns drei verschiedene Tageszeitungen, die wir auf dem kleinen Tischchen ausbreiteten. Die Ecken fixierten wir mit den Rakia-Gläsern. Michajlo und Nikola lasen, ich sah mir die Bilder an und versuchte, die kyrillischen Buchstaben zu erkennen. Einmal fand ich unsere Bilder in der Lokalzeitung und Michajlo erklärt mir, dass es ein Artikel über unser Aufenthaltsstipendium und unsere Arbeit hier war. Ich fragte mich, wie jemand einen Artikel über meine Arbeit hier schreiben konnte, wenn ich noch gar nichts produziert hatte.

***

In dem Raum ohne näher deklarierte Verwendung vor dem Eingang zum Speisessaal, dort, wo man in das verwaiste Diskodeck hinabsehen kann, stehen zwei braune Ledersofas an der einen Wand und an der gegenüberliegenden, in der Mitte zwischen den Eingängen zu den Damen- und Herrentoiletten, zwei wuchtige Massagesessel in Schwarz und Silber, von denen aber bloß einer funktioniert, weil es in diesem Raum nur eine Steckdose gibt. Dort sitzen wir immer vor dem Abendessen, Michajlo und ich, er im funktionierenden Massagesessel, ich in der Unplugged-Version, und sprechen noch einmal über die Dinge, über die wir schon tagsüber gesprochen haben. Dabei schüttelt es Michajlo die Brust. Wenn der Sessel mit den Kompressionen der Wadenmuskulatur beginnt, verzieht es ihm das Gesicht. Nur die Manschetten über den Unterarmen zu schließen, das traut er sich nicht.

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„Da hast du deine Geschichte:“, habe ich an einem dieser Abende zu Michajlo gesagt, „Ein englischer Journalist, der über das Steppenmammut berichten möchte, steigt in diesem Hotel ab. Eines Tages kann er nicht schlafen und verwendet spätnachts noch den Massagesessel. Er schafft es sogar, sich selbst die Unterarmmanschetten anzulegen, doch schon nach kurzer Zeit kommt ihm etwas seltsam vor und er möchte sie wieder lösen. Es gelingt ihm nicht. Der Sessel umschlingt ihn stärker, drückt immer fester zu. Am Morgen ist er tot. Klassischer Hotelhorror.“

Ich ließ ihm meine linke Hand auf die Schulter fallen.

„So, Herr Schriftsteller, mach etwas daraus.“ Michajlo hatte die Augen halb geschlossen. „Ich weiß etwas viel Besseres: Der Sessel erwachtzum Leben und steht auf, sodass der Journalist in ihm feststeckt wie in einem Kampfanzug. Dann ziehen sie los und zerstören sämtliche Popcornmaschinen der Stadt.“

„Und womit kämpft dein Supertransformer, mit Massagestäben?“

Michajlo wurde von ihm in den Rücken boxenden Plastikkugeln am Lachen gehindert.

„Attack of the Killer Massage Chair!”, rief er aus und reckte die linke Faust in die Luft.

„Der Rest ist Schweigen“, sagte ich darauf und lehnte mich in die Polster zurück.

***

Im wilden Garten rund um das Gebäude des Terra stehen die Skulpturen aller Künstlerinnen, die vor mir hier waren, und verwittern in der Sonne. Ich gehe hin und streiche mit den Fingerkuppen über den trockenen Lehm. Die Leute hier, die jahrelang mit dem gelben Wasser duschen, müssen irgendwann einmal die Farbe dieser Figuren bekommen, ein schmutziges Orange ohne Leuchten, wie wenn sie selbst aus Eisen wären, das an ihrer Oberfläche langsam oxidiert.

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Nach der ersten Woche unseres Aufenthaltes nahmen wir uns vor, unseren Nachmittag im Kaffeehaus mit einem Spaziergang rund um das große Betonbecken mit trübgrünem Wasser zu unterbrechen, an dem jeden Tag genau ein erfolgloser Fischer saß. Am siebten Tag sahen wir einen Mann in diesem Wasser schwimmen, da gingen wir nicht mehr hin.

Wenn wir im Café sitzen, wandert fast täglich ein Mann mit Bart und Mantel an uns vorbei, er predigt vor unsichtbaren Jüngern. Läuft ihm eines der bettelnden Kinder aus Versehen vor die Füße, hebt er seine Stimme und predigt noch lauter.

„Der heilige Sava ist nicht so wahnsinnig, wie er aussieht“, hat Michajlo mir anfangs einmal erklärt.

„Ja?“

„Er wohnt in einem kleinen Haus außerhalb der Stadt, das nicht an das Abwassersystem angebunden ist. Darum hat er eine Senkgrube, die alle fünf bis sechs Jahre geleert werden muss. Das letzte Mal kam er nach Kikinda und verlangte, dass jemand käme, um die Grube zu leeren, aber niemand wollte. Ihr werdet noch kommen, hat er ihnen versprochen. Die Leute haben nur gelacht.“

Ich rührte in meinem Kaffee, während Michajlo erzählte, und realisierte im gleichen Moment, was für ein Fehler das war.

„Sava ist wieder nach Hause gegangen. Nach ein paar Tagen hat er einen Abschiedsbrief geschrieben, ihn neben die Senkgrube gelegt, seine Schuhe danebengestellt und hat die Polizei gerufen. Im Brief stand, er hätte sich umgebracht, wäre in die Grube gesprungen. Die Feuerwehr musste kommen und die Senkgrube leer pumpen. Aber sie haben keine Leiche gefunden, weil Sava sich nämlich im Obergeschoss versteckt hatte.“

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„Schreib doch das auf.“ „Jeder in Serbien kennt die Geschichte.“ „Dann schreib sie halt anders auf. Schreib, dassein paar der von ihm so belogenen Leute so wütend wurden, dass sie ihn noch in der gleichen Nacht, allesamt betrunken, in eine andere Senkgrube geworfen haben.“

„Ich weiß nicht …“

„Und du kannst schreiben, dass es jetzt im Abwassersystem spukt und alle kleinen Kinder in Kikinda Angst davor haben, die Spülung zu ziehen.“ „Aber es geht doch gerade darum, dass eine Senkgrube keinen Kanalanschluss hat. Außerdem lebt er noch.“

„War nur ein Vorschlag.“

Als ich aus meiner Tasse trank, blieb der aufgewirbelte Kaffeesud zwischen meinen Vorderzähnen hängen.

***

Am Ende der zweiten Woche in Kikinda wählten wir das nahegelegene Museum zum Ziel unseres täglichen Rundganges. In der Kühle des Vorführraumes saßen wir aufrecht auf den gepolsterten Stühlen und hielten den Atem an, wenn auf der Leinwand ein abstrakt-animiertes Mammut im Sumpf einsank und von seiner Herde zurückgelassen wurde: Mit zum Abschied erhobenen Rüsseln drehte sich die Herde um und zog weiter, Kika blieb zurück und wartete.

***

Auf meinem Arbeitsplatz im Terra stehen mehrere zerbrochene Miniaturelefanten. Ein Steppenmammut ist, außer in Lebensgröße, schwer als Mammut zu erkennen, da es kein Fell hat. Ich tippe gegen eine der Figuren und ein Stoßzahn bricht ab. Die deutsche Künstlerin ficht einen telekinetischen Kampf mit ihrem Lehmklumpen aus.

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Da unser Stipendium expliziten Kulturaustausch vorsah und wir diesen nicht auf unseren Personenkreis beschränken wollten, erkundigte sich Michajlo bei unseren Kaffeehausbekanntschaften nach dem Angebot an Abendunterhaltung in Kikinda. Der Auskunft folgend begingen wir unser zweiwöchiges Jubiläum am Wochenende in einer kleinen Bar in einem niedrigen Haus am Rand der Stadt, in dem drei Roma mit einem billigen Keyboard ein Konzert gaben und wir ein Drittel der Zuhörerschaft stellten. Die Wirtin ließ sich von Nikola im Kreis drehen, und als mir schon lange vom Trinken übel war, drehte sie sich noch immer. Gegen Morgengrauen gingen wir die drei Straßen zurück in die Ortsmitte, wobei ich barfuß lief und mich von Michajlo auf jeden Glassplitter am Boden hinweisen ließ. Im Innenhof unseres Stammcafés sang die nachblondierte Wirtin mit zu tiefem Ausschnitt anscheinend anzügliche Lieder, um vom illegalen Glücksspiel im Raum dahinter abzulenken. Nikola ging, um einen Teil seines Stipendiengeldes zu setzen, über das Ergebnis erteilte er später nie Auskunft. Ich saß in einem Korbsessel, hatte meine nackten Füße auf einem anderen abgelegt und lauschte Michajlo, der mir erzählte, dass die Gypsies, die in anderen Ländern gearbeitet hatten, nun alle mit Geld wieder hierher zurückkamen und in billigen Gegenden riesige Häuser bauten, von denen manche weithin sichtbare Mercedes-Sterne an Stelle von Wetterhähnen hätten.

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„Und auf ihren Balkonen, da stellen sie ganze Pferdewagen als Dekoration auf.“ Er machte mit den Armen ausholende Bewegungen.

***

Nach der dritten Woche im Hotel entschied ich mich, die vertrockneten Pflanzen, die auf jedem Stockwerk im Treppenhaus in quadratischen Töpfen standen, zu gießen. Nach einigen Tagen habe ich das wieder aufgegeben. Es waren zu viele.

Später begann ich, die geborstenen Lehmelefanten mit in das Hotel zu nehmen. Ich versteckte sie in den Liften, in den Blumentöpfen, am Dach, im unbenutzten Schwimmbad, im leeren Friseursalon, hinter den Massagesesseln und unter den Tischen im Speisesaal. Ich beobachtete Michajlo, wie er bedächtig die Flure abschritt und Fotos von meinen missglückten Figürchen machte: den Elefanten ohne Stoßzähne, den Elefanten ohne Rüssel, den Elefanten mit geknickten Beinen und den Elefanten mit abgebrochenen Ohren. Und ich dachte bei mir, dass wir das bei der Größe des Hotels noch lange so weitermachen könnten, ohne jemals alle möglichen Fotografien erhalten zu haben.

Beim Kürbisfest sahen wir zum ersten Mal, wie das Mammutskelett aus dem Hof des Museums geschoben wurde. Natürlich nicht die paar originalen Knochen aus der Glasvitrine, sondern das lebensgroße Replikat, welches das ganze Jahr über auf einem Metallrahmen mit Rädern im Kies im Freien steht, weil es zu groß für die Räume des Museumsgebäudes ist.

Nikola legte den Kopf schief und bekam seinen Kamerablick. Michajlo legte den Kopf schief und wirkte nachdenklich. Ich hielt meinen Kopf gerade, weil ich nicht einsehe, was an einer schiefen Perspektive besser sein soll, und bewunderte, wie das Mammut auf den Hauptplatz gerollt wurde, mitten zwischen die Kürbisse.

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Später, zu einer Zeit, als der wenige Kürbiskuchen von den nicht viel zahlreicheren Touristen längst aufgegessen war und Michajlo mit Nikola über den möglichen Geschmack von Kürbis-Rakia stritt, betrachtete ich immer noch das aufgeschichtete Gemüse. „Schreib doch“, unterbrach ich Nikola, „schreib doch so eine surrealistische Horrorgeschichte über … ein Kürbisfest in einer einsamen Kleinstadt, bei dem man abgehackte Köpfe in den aufgestapelten Kürbissen findet, so auf Stephen King, das kommt immer gut an.“

„Kein Rakia mehr für dich“, sagte Michajlo und nahm mir die Schnapsflasche aus der Hand.

„Ha, du machst dir sicher eine Notiz zu meiner Idee! Sicher! Und wenn du sie schreibst, dann will ich, jawohl, das will ich, merk dir das, wenn du sie aufschreibst, dann will ich, dass du allen sagst, dass es meine Idee war, nein, du sollst das dazuschreiben, am besten ganz oben.“

„Selbstverständlich.“

„Und wenn du damit viel Geld verdienst, mit irgendsoeinem Literaturgewinnspiel, was weiß ich, dann will ich was davon haben. Verdammt.“

„Das ist dein gutes Recht.“ „Gib mir die Flasche wieder.“ „Die was?“ „Den Rakia!“

„Bitte sehr.“ „Danke.“ Michajlo starrte in den Himmel. Leise wiederholte ich, was ich an diesem

Nachmittag auf dem T-Shirt eines anderen Kaffeehausinsassen gelesen hatte: „Rakia—connecting people.“ Und kicherte ein bisschen vor mich hin.

Gegen Ende des geplanten Aufenthaltes von drei Monaten wurde verordnet, dass wir einen Abschlussabend zu veranstalten hätten. Nikola ließ von seinen selbst uns unbekannten Bildern nur zwei einzelne Abzüge machen, die jedoch in einem sehr großen Format. Michajlo wählte einen szenischen Text, den er noch in Beograd verfasst hatte, für seine Lesung aus. Ich gruppierte die am wenigsten sichtbar kaputten Mammutfiguren auf einem Tisch in der Mitte des Raumes zu einer Herde. Nikola begann schon vor der Ausstellung, Rotwein aus einer Flasche zu trinken statt Rakia, wie er Michajlo mitteilte, um nüchtern zu bleiben. Erst knapp vor Beginn fixierte er seine beiden Bilder mit Stecknadeln an der Wand, eines links und eines rechts von den aufgestellten Sesselreihen. Die Bilder waren verschwommen, wie in Bewegung aufgenommen. Auf dem einen glaubte ich, mich zu erkennen, konzentriert einen Lehmklumpen anstarrend.

Es kamen gut fünfzig Leute, um Michajlos nicht ganz fünfzehnminütiger Lesung zuzuhören, dabei zu lachen, dann höflich einmal meine Lehmherde zu umrunden und zum Schluss kurz vor jedem von Nikolas Bildern zu verweilen. Zwei junge Mädchen warfen mir neugierige Blicke zu, sprachen mich aber nicht an, sie hatten runde Wangen.

***

Mittlerweile würde ich am liebsten durch die Straßen laufen und jeden, dem ich begegne, am Hemd packen, ihm eindringlich in das Gesicht starren und erklären, dass ich so gerne ein lebensechtes Steppenmammut formen würde, einen zu groß geratenen Elefanten mit traurigem Blick, ein Mammut aus dem Lehm, in dem es einst versank, dass aber der Brennofen nicht groß genug wäre, da könne man nichts machen, nein, wirklich, schade, es wäre einfach nicht möglich. Wäre ich am Ende, würde ich meine Koffer packen und diese Stadt verlassen, um nie wieder zurückzukehren, weil man von hier nicht fortkommt, das ist mir jetzt klar.

***

Wenn Lehmskulpturen lange im Freien stehen, bekommen sie mit der Zeit eine graue Patina. Ich denke an heute Abend. Da sind wir also, noch immer: Michajlo, Nikola und ich. Michajlo, weil er noch keine seiner Geschichten zu Papier gebracht und der lokalen Literaturzeitschrift zur Veröffentlichung übergeben hat. Ich, weil ich die Risse in meinen Figuren und die geborstenen Skulpturen nicht als Kunst, die von den Narben des Krieges erzählt, durchbringen konnte. Und Nikola, mit unzähligen Fotografien, die er niemandem zeigt.

***

„Schreib doch“, werde ich Michajlo heute raten, „einen Text über drei Künstler, die für immer nachts in einer serbischen Kleinstadt ein unechtes Mammutskelett vor sich herschieben, weil eine ungewisse Erwartung sie handlungsunfähig macht.“ Und er wird lachen.

„Nikola, du sollst lenken“, sage ich jede Nacht zu ihm, jedes Mal sagt er darauf „da, da“, kneift dabei die Augen zusammen, so als suche er die Gegend nach guten Motiven ab, und führt uns im Zickzack durch Kikinda, bis wir nicht mehr können, bis der Hahn kräht, bis wir im Chor singen: „The ships, the ships are coming in, the great ideas are wearing thin /There is nothing left to do.“