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Die echten Wahlsieger in der Türkei: Verschwörungstheorien

Die Kommunalwahlen in der Türkei haben die Risse in der türkischen Gesellschaft sichtbarer denn je gemacht. Die Opposition vermutet massiven Wahlbetrug, die Erdoğan-Anhänger eine internationale Verschwörung.

Kurz nachdem bekannt wurde, dass die Regierung Erdoğan bei der Kommunalwahl 46 Prozent eingestrichen und damit ihre Macht zementiert hat, haben die ersten Oppositionsgruppen angefangen, die Echtheit der Auszählungen in ernsthaften Zweifel zu ziehen.

Während sich Regierung und Opposition also über die Ergebnisse streiten, scheint sich fast jeder in der Türkei in einer Sache einig zu sein: Die politische Situation hier ist so verrückt geworden, dass nur noch Verschwörungstheorien die täglichen Enthüllungen erklären können.

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„Dieser Wahlkampf hat das Land endgültig wahnsinnig gemacht“, sagte der 23-jährige Tayfur Erdem, während er sich die Wahlergebnisse in einem Istanbuler Internetcafé ansah. Bei seinem Twitter-Account auf dem Handy trudelten im Sekundentakt neue Wahlbetrugsanschuldigungen ein. „Obwohl, vergiss den Wahlkampf. Wo soll man anfangen? Schau dir nur mal diese Nachricht über Syrien an …“ sagte Tayfur, und dann legte er los.

Nur zwei Tage vor der Wahl tauchte eine Aufnahme einer Diskussion auf, die angeblich zwischen dem Außenminister, dem Chef des Geheimdienstes und einem türkischen General stattfand und ziemlich schockierend ist. „Ich schicke vier Männer aus Syrien los, wenn es sein muss. Ich erfinde einfach einen Angriffsgrund, indem ich einen Raketenangriff auf die Türkei befehle“, hört man jemanden in der Aufnahme sagen, der wie der Geheimdienstchef Hakan Fidan klingt.

Fidan schlägt vor, dass eine Truppe türkischer Soldaten sich als al-Qaida-Mitglieder ausgeben und einen Angriff auf türkischen Boden simulieren könnte, vermutlich um kurz vor der Wahl nationalistische Stimmen zu fangen. „Überleg mal, mit diesem irren Tape haben die Wahlen hier angefangen“, sagte Tayfur. Die Regierung hat erklärt, die Bänder seien manipuliert, die Unterhaltung aber weitestgehend echt, und hat die Veröffentlichung als „Kriegserklärung“ gegen den türkischen Staat verurteilt.

Kurz nach ihrer Veröffentlichung wurde YouTube gesperrt. „Das Verrückte ist, dass die meisten Türken es nie gehört haben“, sagte Emre Uslu, ein bekannter Journalist. „Aber wie kann jemand, der es gehört hat, der Regierung danach je wieder trauen? Es ist eine völlig absurde Verschwörungstheorie, die sich plötzlich als wahr entpuppt. Man fragt sich, was sonst über diese Regierung wahr sein könnte.“

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Die Aufnahme, in der die Minister anscheinend die Lieferung von 2.000 LKW-Ladungen Waffen an Islamisten diskutieren, hätte eine normale Regierung wahrscheinlich zu Fall gebracht. Aber Erdoğans Regierung ist nicht normal. Am Sonntag ging sie als Sieger hervor, trotz der Aufnahme, einer Welle von Korruptionsvorwürfen und der rücksichtslosen Unterdrückung der Proteste gegen seine Regierung.

Die Wahlergebnisse haben massive Proteste bei der Opposition ausgelöst. Während der Wahl gab es in 40 türkischen Städten Stromausfälle, insgesamt sind 1.200 Beeinflussungen von Wahlurnen gemeldet worden. „Wir glauben, dass es bis zu 25.000 unechte Stimmen für die Regierung gab“, sagt Akyberk Yagiz, der das unabhängige Wahlbeobachtungsinstitut Ankara Votes leitet. „Und das nur in dieser Stadt. Wir haben vorher ausgefüllte Stimmzettel und auf den Müll geworfene, verbrannte Wahlurnen gefunden.“

Ein von AKP-Unterstützern angezündeter CHP-Minivan

Die Wahl in Ankara wurde von dem AKP-Kandidaten Melih Gökcek mit einem Vorsprung von weniger als einem Prozent gewonnen. Während die Ergebnisse noch eintrudelten, erklärte Gökceks Herausforderer Mansur Yavas sich auf einer Pressekonferenz bereits zum Sieger, nur um kurz darauf zu hören, wie Gökcek den Sieg für sich beanspruchte. Für noch mehr Verwirrung sorgte, dass die staatliche Nachrichtenagentur für Gökcek einen Erdrutschsieg meldete, während eine Oppositions-Agentur Yavas in Führung vermeldete. „Glaubt eigentlich irgendjemand an die Ergebnisse, die gerade von der Anatolia Nachrichtenagentur verbreitet werden?“ fragte ein Moderator auf CNN Türk, zusammen mit Tausenden, die den „Erdrutschsieg“ der Agentur auf Twitter bezweifelten.

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„Bevor jeder Wahlurne zur offiziellen Zählung geschickt wurde, durften Freiwilligen-Organisationen wie unsere die Ergebnisse unabhängig aufnehmen“, erklärt Yagiz. „Die Ergebnisse der Regierung werden für jede Urne online gestellt, und wenn wir die mit unsere Zahlen vergleichen, sehen wir Zehntausende Stimmen, die auf der Regierungsseite hinzugefügt wurden.“

Bilder von verbrannten Wahlzetteln kursierten auf Twitter

Die ganze Nacht lang schliefen Demosntranten neben Urnen, von denen sie behaupten, sie seien falsch ausgezählt worden. „Viele Urnen wurden verbrannt, deshalb passen wir auf die hier auf, bis wir mit eigenen Augen sehen, wie sie ausgezählt werden“, sagte Huseyin Keles. „Wenn sie nicht gezählt werden, ist es amtlich—die Demokratie in der Türkei ist tot.“

Die türkische Wahlbehörde hat am Sonntagabend sowohl in Ankara als auch in Istanbul die Regierungspartei zum Sieger erklärt, obwohl Yavas eine Neuauszählung der Stimmen in Ankara verlangt hat. Das wird am Dienstag geschehen.

„Korruptionsvorwürfe, Repressionen gegen Journalisten, und jetzt das. Wir verlieren in dieser Wahl jedes Restvertrauen in Regierungsinstitutionen“, sagte die 34-jährige Lehrerin Ayla Mercan. Der Wahlbeobachter Yagiz stimmte dem zu. „Das ist keine nordkoreanische Wahl, aber es gab genug Betrug, dass ein großer Teil des Landes die Ergebnisse von Schlüsselrennen wie Ankara und Istanbul hinterfragt“, sagte er. „Es verursacht tiefere Spaltungen in der Türkei, es bringt Leute dazu, ihren Glauben an die Institutionen zu verlieren und sich an Verschwörungstheorien zu orientieren.“

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Freiwillige Unterstützer von Yavas zählen Stimmen aus

Die Lehrerin Mercan mutmaßte, dass viele Türken auf die Straße zurückkehren würden, wenn die Regierung die Vorwürfe von Wahlbetrug in Ankara nicht ernst nimmt. „Wir bewegen uns auf eine Gesellschaft zu, in der niemand der Regierung oder der anderen Hälfte traut. Ich spüre echten Hass, echte Wut.“

Aber während Regierungsgegner sich über die Wahl ärgern, haben Erdoğans Unterstützer ihre eigenen Theorien darüber, wie das Land manipuliert wird. Die Flut von kompromittierende Aufnahmen, die dem Premierminister seit Ende letzten Jahres das Leben schwer machen, müssen das Werk von ausländischen Mächten gewesen sein, die die Türkei zerstören wollen, behauptet Erdoğan. Seine Unterstützer haben ein internationales Bündnis aus Juden, europäischen Staaten und anderen schattenhaften ausländischen Organisationen dafür verantwortlich gemacht. „Es ist absurd, unglaublich. Sie trauen niemandem außer Erdoğan“, sagt Mercan. „Das einzige Problem ist, wir fühlen uns so vom Staat belogen, und wir vertrauen einfach niemandem mehr. Ich mache mir Sorgen um die Zukunft unseres Landes.“

Folgt Noah auf Twitter: @nblaser18