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Die Drogenmafia ist das eigentliche Problem des Kosovo

Nato und Europa haben auf ganzer Linie versagt, Sicherheit und Gerechtigkeit zu gewährleisten. Mit welcher Brutalität die organisierte Kriminalität und die Mafia nun das Land regieren, erfahrt ihr hier.

Blick über Nord-Mitrovica

Vergangenen Mittwoch wurde ein gewählter Regierungsbeamter vor seinem Haus in Kosovska Mitrovica, einer Stadt im Norden Kosovos, niedergeschossen. Der Todesfall—bei dem das Label „Mord“ fast schon verzweifelt gemieden wird—ist der letzte einer Reihe ziemlich unangenehmer Vorfälle im Kosovo.

Der Kosovo wird schon länger von internen Problemen geplagt. Auch wenn das Land 2008 unabhängig wurde, steht der Zustand politischer Stabilität noch aus. Das Land, in dem das organisierte Verbrechen grassiert, ist ein Zentrum des Menschen- und des Heroinhandels. Das benachbarte Serbien weigert sich beständig, die Souveränität des Kosovo anzuerkennen, und nach wie vor leidet das Land unter Spannungen zwischen der kosovo-albanischen Bevölkerungsgruppe und jenen, die sich noch immer als Serben identifizieren.

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Besonders deutlich wird dies in der Stadt Mitrovica, die durch den Fluss Ibar in zwei Hälften geteilt ist. Im Süden des Flusses lebt die albanische, im Norden die serbische Mehrheit. 2010 legte der Internationale Gerichtshof (IGH) fest, dass Mitrovica den politischen Bestimmungen von Pristina unterliegt, der Hauptstadt des Kosovo mit einer vorwiegend albanischen Bevölkerung. Im Süden, wo aus albanischen Moscheen viermal täglich der Ruf des Muezzin erklingt, ist das kein Problem. Im Norden, wo die Geldautomaten trotz eines IGH-Urteils ausschließlich serbische Dinar ausgeben, allerdings schon.

In den vergangenen 14 Jahren hatten sich die Vorsteher der vier serbisch geprägten Gemeinden im Nordkosovo geweigert, die in Pristina ansässige Regierung anzuerkennen, und begnügten sich damit, das Schicksal ihrer Gemeinden in die Hände der Machthaber in Belgrad zu legen. Kein Wunder also, dass internationale Kommentatoren in Aufruhr gerieten, als diese Vorsitzenden im April 2013 eine Vereinbarung unterschrieben, die es den Bewohnern der vier Gemeinden erlaubte, sich an den Regionalwahlen im Kosovo zu beteiligen, die letztes Jahr am 3. November stattfanden.

Glatt liefen die Wahlen nicht ab. Fast vier Monate bevor sie stattfanden, entschied die Übergangsverwaltung des Nordens, dass sie gegen serbisches Gesetz verstoßen. Dieses Urteil wurde jedoch sowohl von der Regierung in Belgrad, als auch von der in Pristina zurückgewiesen. Als der Wahltag näherrückte, wurden die Kandidaten von militanten Mitgliedern einer Wahlboykott-Bewegung bedroht, angegriffen und getötet. Die serbischen Nationalisten vertreten ebenfalls die Meinung, dass die Wahlen gegen internationales Recht verstoßen. Sie gingen jedoch noch einen Schritt weiter und betrachten politische Partizipation als Verrat.

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Natürlich läuft nicht jeder Angehörige der Boykott-Brigade herum und tötet. Gemäßigtere Mitglieder waren damit beschäftigt, die Wahlplakate der Kandidaten abzureißen, die die Vereinigung befürworteten, und riesige Plakatwände aufzustellen, auf denen stand: „Die Teilnahme an den separatistischen Wahlen führt zum Untergang Serbiens!

Ein „Boykott“-Schild in Kosovska Mitrovica

Am Nachmittag des Wahltags waren Videos auf YouTube erschienen, in denen serbische Nationalisten Wahlurnen in Nord-Mitrovica demolieren. Die Wahlbeteiligung in den nördlichen Gemeinden lag bei nur 22 Prozent. Dennoch wurden die Wahlen von Befürwortern der Vereinigung auf beiden Seiten des Ibar als Erfolg wahrgenommen, wenn auch nur deshalb, weil sie überhaupt stattfanden. In den folgenden Monaten kehrte eine gewisse Ruhe in Nord-Mitrovica ein. Zwar gab es nach wie vor Spannungen, doch die politischen Schießereien und nächtlichen Bombardierungen, die im Vorfeld der Wahl ganze Wohnungen zerstört hatten, waren zunächst vorbei.

Zumindest bis zum 7. Januar, dem serbisch-orthodoxen Weihnachtsfeiertag, an dem es im Zentrum von Nord-Mitrovica zu einer Explosion kam, die wahrscheinlich durch eine Handgranate verursacht wurde. Mehrere Geschäfte und Autos wurden beschädigt, doch verletzt wurde niemand. Vier Tage später stieg der designierte Bürgermeister von Nord-Mitrovica, Krstimir Pantic, auf ein Podium, um sich öffentlich zu weigern, einen Amtseid abzulegen. Vor einer Gruppe Journalisten, die sich in der Erwartung versammelt hatten, ein historisches Ereignis mitzuerleben—ein erstes handfestes Anzeichen dafür, dass die serbischen Gemeinden bereit waren, mit dem Rest des Landes zu kooperieren—fiel Pantic ein, dass er durch einen Amtseid die Legitimität der Republik Kosovo anerkennen würde. Und das wäre, wie er sagte, ein Verstoß gegen die serbische Verfassung.

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Der ethnische Serbe Dimitrije Janicijevic—der Bürgermeisterkandidat für Nord-Mitrovica, der sich für eine Vereinigung ausgesprochen hatte und Mittwochabend vor seinem Haus niedergeschossen worden war—starb noch in der selben Nacht im Krankenhaus mit zehn Pistolenkugeln, die in seinem Oberkörper steckten. Samstag erklärte sich seine Mitkandidatin Adrijana Hodzic dazu bereit, sich mit mir in der Nähe der Zentrale der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Mitrovica zu treffen. Janicijevics Beerdigung hatte am Tag zuvor stattgefunden und überschattete unser Gespräch.

Hodzic erzählte mir, dass Janicijevics Mord, den sie als „traurig und verwirrend“ beschrieb, die serbische Gemeinde in Mitrovica wie ein Schock getroffen hat, und sie sich nun um ihre eigene Sicherheit, aber auch um die ihrer Familie sorge. Ich fragte sie, ob sie eine Verbindung zwischen den Bombardierungen am orthodoxen Weihnachtstag, Pantics Weigerung, sein Amt anzutreten, und den tödlichen Schüssen am Mittwochabend sehe. Ich wollte wissen, ob diese Ereignisse etwas mit den serbischen Nationalisten zu tun haben könnten, die gegen die Vereinigung der Stadt sind.

Sie zögerte jedoch, von einer klaren Verbindung zu sprechen, und wollte keine Spekulationen über ein mögliches Motiv anzustellen. Was auch immer die Absichten von Janicijevics Mördern waren, könne man die Aktionen nur als politisch motiviert verstehen, sagte sie. Einer Wählerschaft, die bereits damit klarkommen muss, dass vor den Wahllokalen nationalistische Schlägertypen herumlungern und dass Kandidaten mit Autobomben und Angriffen bedroht werden, würde damit noch mehr Angst eingeflößt werden.

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Ein Poster von Adem Jashari in Süd-Mitrovica. Unter albanischen Kosovaren gilt Jashari als Held. Er wurde zusammen mit seiner Familie von einem serbischen Mordkommando getötet, bei dem Helikopter und Artillerie eingesetzt wurden.

Im Laufe unseres Gesprächs verleitete Hodzics Beurteilung der Boykott-Bewegung dennoch dazu, die Ereignisse der letzten Wochen miteinander in Verbindung zu setzen. Sie sagte, dass das Lager, das gegen eine Vereinigung ist, sich in zwei Gruppen spaltet: Zum einen gibt es Leute, die nur eine Veränderung des Status quo fürchten, zum anderen aber auch Personen, die aktiv davon profitieren, dass die Spannungen aufrecht erhalten werden. Die Teilung des Kosovo verhindert es mit beinahe absoluter Sicherheit, dass in den nördlichen Gemeinden Gesetze herrschen. Von einer Teilung profitieren also besonders diejenigen, die illegale Geschäfte betreiben.

Ein ausländischer, in Pristina lebender Berater namens Samuel erzählte mir letztes Jahr, dass die Gesetzlosigkeit im Norden der Grund dafür ist, dass ein Großteil des in Westeuropa verkauften Heroins jahrelang von albanischen Gangs kontrolliert wurde. Die Ironie der Sache besteht ihm zufolge darin, dass trotz der nationalistischen Rhetorik, mit der dieses Gangsterparadies aufrecht erhalten wird, organisierte Kriminelle aus Serbien, Albanien und Russland ein gemeinsames Interesse daran haben, dass der nördliche Teil des Kosovo unbeherrscht bleibt. Ihre Anti-Vereinigungs-Propaganda ist nicht unbedingt pro-serbisch. Die politischen Turbulenzen werden vor allem deshalb befördert, damit sich keine funktionierende Regierung in ihre Geschäfte einmischen kann. Es besteht ein genereller Konsens darüber, dass die serbische und die albanische Mafia eine Art Deal eingegangen sind. Ein Witz besagt, dass die einvernehmlichsten Gespräche des Landes zwischen den Vertretern der Mafia-Clans stattfinden.

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Auf der Terrasse eines Cafés gegenüber des Ardi Shita, dem Luxushotel von Pristina, legte mir der Generalsekretär des American Chamber of Commerce in Kosovo seine Analyse der Situation dar. Auch er hält das organisierte Verbrechen für das größte Hindernis für eine Vereinigung. Die Bewohner von Nord-Mitrovica hätten „seit 15 Jahren unbewusst im Dienste des organisierten Verbrechens“ gestanden, doch dies werde nun endlich besser. Nirgends zeige sich das deutlicher als am Beispiel des Mitrovica North Administrative Office (MNAO), das von Adrijana Hodzic geleitet wird. Es wurde im Mai 2012 gegründet, um in Nord-Mitrovica grundlegende öffentliche Dienste anzubieten, mit denen weder die Regierung in Belgrad noch die in Pristina dienen kann. Bei politischen Fragen hält sich das MNAO jedoch absichtlich zurück.

Das MNAO ist äußerst beliebt, auch wenn Hodzic, ihre Angestellten und deren Auftraggeber von Anfang Einschüchterungen zum Opfer fielen. Auf einen von Hodzics Stellvertretern wurde—vor den Augen seiner Kollegen—zweimal geschossen. Dass diese offenkundig unparteiliche Institution solch einen gewaltsamen Widerstand erfährt, zeigt, welche Angst die Schläger wirklich antreibt: die Angst vor einer effektiven Verwaltung und einer Herrschaft des Gesetzes, deren Abwesenheit die Voraussetzung dafür ist, dass das organisierte Verbrechen floriert.

Graffiti in Süd-Mitrovica

Hodzic zufolge sind die Bürger von Nord-Mitrovica von der internationalen Gemeinschaft betrogen worden. Letzten November haben sie ihre Sicherheit dafür aufs Spiel gesetzt, an Wahlen teilnehmen zu können, die der Stadt seit dem Krieg erstmals Stabilität bringen sollten. Die letzten zwei Wochen haben jedoch gezeigt, dass diese Hoffnung zu hoch gegriffen war.

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Hodzic sagt, dass die beiden Organisationen—die Nato-Truppe KFOR und die Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Mission EULEX—, die damit beauftragt waren, Sicherheit und Gerechtigkeit in der Stadt zu gewährleisten, ihren Teil der Abmachung nicht eingehalten haben. Mit unzureichenden Gesetzen und Anweisungen konnten die politisch oder anders motivierten Morde und die Gewalt im Norden kaum verfolgt werden. „Die Gefahr ist“, erzählte mir Hodzic, „dass, wenn wir nach dieser Hinrichtung [des gewählten Regierungsbeamten] zu keinem Ergebnis kommen, wenn wir den Mörder nicht kriegen, dass dann jeder Vorfall, der unbestraft bleibt, den nächsten herausfordert.“ Ihre Wortwahl war bedacht: „Jeder Angriff ist eine Art Hinrichtung; es ist wie ein klassischer sizilianischer Schlag.

Samuel hält die Art der Rekrutierung für eine der größten Schwachstellen der EULEX. Seiner Meinung nach wird die Mission vor allem mit unkündbaren Eurokraten besetzt, die für Brüssel zu inkompetent sind. Dadurch kommt eine Gruppe voller verbitterter, fauler, älterer Männer zustande, die (in einigen Fällen bis zu zehn Jahre) in einem von ihnen verhassten Land stecken, weil es in Europa keinen anderen Ort mehr gibt, in dem sie monatlich die 10.000 Euro verdienen, die sie Gerüchten zufolge für ihren Dienst bezahlt bekommen. Angeblich findet man sie oft in den Irish Pubs der Hauptstadt vor, wo sie über die Einheimischen klagen und darüber jammern, wie sehr sie ihre Frauen vermissen. Wie hoch ihr Gehalt auch sein mag—„dafür, dass sie keine Ermittlungen anstellen und keine Schuldigen nennen und bestrafen, sind die internationalen Sicherheitskräfte zu gut bezahlt“, sagte Adrijana Hodzic.

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Dennoch gab es in den letzten Monaten ein paar Verbesserungen hinsichtlich der Sicherheitsbestimmungen in Mitrovica. Letztes Jahr war die kosovarische Polizei für den Süden der Stadt verantwortlich, die Brücken der Stadt wurden von einer Handvoll italienischer Carabinieri bewacht, und der Norden war zum Großteil sich selbst überlassen.

Als die Gewalt bei der Wahl am 3. November in Nord-Mitrovica eskalierte, bat die EULEX die KFOR darum, einzugreifen und die Lage zu sichern. Nun wird die Neue Brücke über den Ibar durchgängig von einem gepanzerten Truppentransporter und bis zu zwei Dutzend portugiesischen Soldaten mit Automatikwaffen bewacht. Portugiesische KFOR-Jeeps und ein weiterer Transportpanzer patrouillieren regelmäßig auf beiden Seiten der Stadt.

Jegliche Ausweitung der Sicherheit muss für diese fragile Stadt von Vorteil sein, besonders vor dem Hintergrund der Spannungen, die in Folge der Zusage Belgrads aufkamen, die vier nördlichen Gemeinden in das Justizsystem des Kosovo einzubeziehen. Dennoch erscheint die starke Militärpräsenz auf der Brücke wie ein Alibi. Die Zeiten der Zusammenstöße zwischen ethnischen Serben aus dem Norden und Albanern aus dem Süden sind längst vorbei. Worauf diese Machtdemonstration reagiert, sind fast ausschließlich gewaltsame Spannungen innerhalb der serbischen Hälfte der Stadt.

KFOR-Truppe auf ihrem Transportpanzer

Die Sinnlosigkeit ihres Auftrags wird schon in dem Verhalten der Brückenwächter sichtbar. Sie verbringen ihre Tage damit, sich zu langweilen, zu frieren, zu rauchen, sich gegenseitig zu fotografieren und sich Kaffee aus dem nächsten italienischen Restaurant zu holen. Eines Abends waren sie so gelangweilt, dass sie mich und die Fotografin, die mich begleitete, auf das Dach ihres Transportpanzers einluden. Es schien, als hätten sie seit Langem nicht mehr solchen Spaß gehabt. Nicht einmal der befehlshabende Offizier konnte die Energie aufbringen, sich darüber aufzuregen, dass zwei betrunkene Mittzwanzigjährige auf dem Dach seiner Militärausrüstung herumalbern.

Was also wird als nächstes passieren? Pantics Weigerung, das Bürgermeisterbüro zu betreten, wird die Wähler, denen in den letzten drei Monaten die Lust am Wählen vergangen ist, noch einmal in die Wahlkabinen zwingen.

Die nächste Frage ist: Wer wird mutig genug sein, sich nach der Gewalt der letzten zwei Wochen (die vielleicht noch gar nicht vorbei ist) zur Wahl stellen zu lassen? Adrijana Hodzic wird es nicht tun, doch sie wird sich weiterhin für den Fortschritt in dieser unruhigen Stadt einsetzen. „Was mich dazu motiviert, mich in diesem gefährlichen Prozess zu engagieren, sind meine Kinder“, sagte sie.

Ardi Shita arbeitete in den letzten zwei Jahren als Lektor am International Business College auf beiden Seiten des Flusses. Er vermutet, dass Oliver Ivanovic nächsten Monat das Amt des Bürgermeisters übernimmt. Ivanovic ist ein umstrittener Politiker, dessen Karriere 1999 damit begann, dass er den damaligen serbischen „Brückenwächtern“ Karate beibrachte. Auch wenn Ivanovic keine ideale Besetzung ist—besser als Pantic und dessen politische Angeberei ist er Shita zufolge allemal.

Ivanovic wurde allerdings Montagmorgen von der EULEX verhaftet, was seine Hoffnungen auf das Amt des Bürgermeisters zunichte machen könnte. Die Sicherheitsagentur verweigert eine Stellungnahme, aber die albanischsprachige Presse spekuliert, dass Ivanovic zu den unaufgeklärten Morde an elf Albanern nach dem Krieg von 1999 verhört wird. Wenn sich der Verdacht, dass Ivanovic daran beteiligt war, als richtig erweisen sollte, und er verurteilt wird, steht die Zukunft der Stadt erneut in den Sternen.

Darüber hinaus gibt es Anzeichen, die auf Spannungen im Süden des Ibar hindeuten. Seit ein paar Wochen wird eine ungewöhnliche Diskussion über Religion geführt, bei der prominente Muslime und Christen rhetorische Schüsse aufeinander abfeuern. In diesem Kontext wurde vor ein paar Wochen in Süd-Mitrovica eine albanischen Mutter-Teresa-Büste vom Sockel gestürzt.

Mitrovica befindet sich an einem gefährlichen Punkt, an dem dringend etwas getan werden muss. Oder in den deutlichen Worten Shitas ausgedrückt: „Bis jemand mit einer Lösung kommt, werden Menschen sterben.“