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Geständnisse eines Taliban

Jilani war Taliban-Kämpfer und hat die Seiten gewechselt. Seit er einmal in einem deutschen Militärkrankenhaus behandelt wurde, hat er eingesehen, dass die Ausländer nicht nur töten wollen. Er hat uns seine Geschichte erzählt und ist fast vom Stuhl...

„Hätte ich dich vor ein paar Jahren getroffen, hätte ich dich umgebracht. Töten war die erste Option, weil wir Ausländer gehasst haben. Wir hätten eine Kalaschnikow genommen und dich abgeknallt. Das hätte uns ziemlich glücklich gemacht, Ausländer zu töten.“

Mullah Jilani spricht von der Vergangenheit—und dafür sind wir alle ziemlich dankbar. Obwohl ich momentan der einzige Ausländer hier bin, versichert er uns, dass auch unser Kollege Matin, ein afghanischer Journalist, nicht verschont geblieben wäre.

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„Weil du mit ihm arbeitest“, sagt Jilani zu Matin, „du wärst umgebracht worden. Du bist genauso.“

Die Unterhaltung mit diesem früheren, reformierten, geläuterten—was auch immer das passende Adjektiv ist—Taliban-Kämpfer findet in dem Haus des lokalen Taliban-Jägers statt, einem Warlord namens Nabi Gechi (mit dem wir auch mal Schwimmen waren, aber das ist eine andere Geschichte).

Wir sind Nabis Gäste, genau so wie Ex-Taliban Jilani. Es ist schon bemerkenswert, dass er jetzt hier ist, wenn man bedenkt, dass Jilani Nabi Gechi und mich vor zwei Jahren noch töten wollte.

Er wollte Nabi töten und hat ihn mit mehr als 200 seiner Taliban-Kameraden aufsuchen wollen. Aber laut Jilani (und bestätigt von den Dorfältesten) führte Gechi ein Flankenmanöver durch, das die meisten der Taliban in eine der Marktbarracken des Dorfes drängte. Indem er seine Lieblingswaffe nutzte, einen auf einem Gewehr befestigten Granatenwerfer, tötete er Jilanis Taliban-Offizier.

„Danach“, sagt Jilani, „brachen wir die Mission ab und flüchteten aus dem Dorf.“

Er hat noch ein zweites Mal versucht, den Warlord zu töten, wurde aber wieder zurückgeschlagen. Daraufhin arrangierte Mullah Jilani ein Treffen zwischen den beiden.

„Ich sagte ihm, ich will ihn nicht mehr bekämpfen. Das nützt keinem von uns“, erzählt Jilani. Dann wechselte er die Seiten und begann, mit Gechi gegen die Taliban zu kämpfen. Er erzählte mir, dass er nie richtig von den Taliban überzeugt war, aber aus Angst mitmachte.

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Seine Angst vor Gechi war scheinbar größer. Nach dem Essen schauen wir uns ein Video vom letzten Angriff des Warlords gegen die Taliban an. Man sieht, wie die Leichen der Taliban auf einem Pick-up-Truck gestapelt werden.

„Ja, ich habe den richtigen Weg gewählt“, sagt mir Jilani, als ich ihn nach dem Video frage. „Ich hätte nicht eine dieser Leichen sein wollen.“

Aber es war nicht nur der Respekt vor Gechis militärischen Fähigkeiten, der ihn dazu gebracht hat, die Taliban zu verlassen. Er sagt, er hatte auch eine Art Erleuchtung.

Als er Nierensteine bekam, erzählt er, hatte er so große Schmerzen, dass er in ein deutsches Militärkrankenhaus ging, das Teil des Provincial Reconstruction Team (PRT) der NATO in der Region war.

Jilani sagt, die Leute dort behandelten ihn mit so viel Freundlichkeit, dass er das, was die Taliban ihm über die Ausländer erzählt hatten, als Propaganda erkannte.

„Es stellte sich heraus, dass das gute Menschen waren, die mir wirklich halfen und das alles umsonst. Sie waren nicht nur in Afghanistan, um Menschen zu töten, sondern um ihnen zu helfen. Ich muss vorher blind gewesen sein.“

Matin und ich sind uns darüber einig, dass es fast unmöglich ist, einzuschätzen, wie aufrichtig Jilanis Wandlung ist. Aber aus irgendeinem Grund hat er Gechis Vertrauen erworben. Sehr wahrscheinlich würde er hier ansonsten nicht lange überstehen.

Er fängt an, uns über die Organisation der Taliban zu erzählen, ihrer Herrschaft in Pakistan und die Angst vor den nächtlichen Überfallen der Spezialkräfte der NATO. Er berichtet auch von der örtlichen Militärstruktur und wie sie immer in der Lage waren, medizinische Hilfe in der Mitte von feindlichem Gebiet zu bekommen. Manche Geschichten erzählte er uns in Anwesenheit von Gechi, andere nur uns alleine.

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Seine Geschichte und die faszinierenden Details darüber, wie die Taliban operieren, sind schwer greifbar. Teilweise ist er aufrichtig und entspannt, dann aber auch ausweichend und nervös. Aber was er uns erzählt, scheint ihm selber wenig zu helfen. Obwohl er natürlich versuchen könnte, jeden in Hörweite zu überzeugen, dass er nun im Team Gechi spielt. Das hat er uns erzählt:

Pakistan

„Die Taliban stammen ursprünglich aus Pakistan und kamen hierher, um unser Land zu zerstören. Das ist jedem klar“, sagt Jilani.

„Am Anfang dachte ich, der Dschihad würde gegen internationale Truppen geführt werden. Aber dann habe ich herausgefunden, dass wir für pakistanische Interessen kämpfen. Wir bekamen Befehle aus Pakistan.“

„Die meisten Anführer sind nicht religiös, sondern wollen nur nach Afghanistan kommen, um Bauern während der Erntezeit zu besteuern und das Geld zurück nach zu Pakistan bringen. Es gibt keinen Dschihad.“

„Unsere Anführer lebten in Pakistan in schönen Häusern und gaben eine Menge Geld für sich selbst, gutes Essen und gute Kleidung aus. Aber uns forderten sie auf, an der Front zu kämpfen“, sagt Jilani.

„Sie gaben uns 500 pakistanische Rupien (knapp vier Euro) in der Woche. Damit kann nicht mal einen Tag überleben“, erzählt er. „Es war eine ziemlich harte Zeit, als ich zusammen mit den Taliban unterwegs war. Am Tag kämpften wir und in der Nacht mussten wir vorsichtig sein, weil wir Angst vor den Nachtoperationen der NATO (der NATO-Spezialkräfte) hatten. Wir änderten unsere Positionen mehrere Male in der Nacht.“

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Nächtliche Überfälle der NATO-Spezialeinsatzkräfte

„Wenn die Spezialeinsatzkräfte die Anführer der Taliban im Visir hatten, war das sehr effektiv. Die Nachteinsätze konzentrieren sich direkt auf die Führungsriege der Taliban. Sie lebten in ständiger Angst, dass die Helikopter kommen.“

„Ohne die Nachteinsätze“, sagt Jilani, „waren die Taliban innerhalb von 24 Stunden wieder in vollem Einsatz.“

Militärische Organisation der Taliban-Einheiten

„Zu Beginn eines Einsatzes beteten wir, und dann teilte uns der Offizier in kleine Gruppen von zehn Mann ein, die man Delgai nannte. In jedem Delgai gab es einen Kämpfer mit einer RPG und einen mit einem PK-Maschinengewehr. Der Rest wurde mit Kalaschnikows ausgerüstet. Außerdem hatte jedes Delgai einen Anführer.“

„In jedem Distrikt gibt es ein oder zwei größere Einheiten mit 200 bis 300 Mann, die man ein Mahaz nennt. Ein Mahaz hat zwei Anführer, den Distriktgouverneur und den Distriktoberbefehlshaber“, sagt Jilani.

„Wir nutzten zwei verschiedene Arten von Angriff. Entweder umzingelten wir unseren Gegner oder wir lockten sie in einen Hinterhalt und griffen dann mit dem Raketenwerfer und der PK an.“

„Ich hatte nie wirklichen Kontakt zu den Leuten, die die Sprengfallen bauten. Sie trugen Tarnkleidung, manchmal die gleiche wie die ANA (Afghanische Nationale Armee). Diese Leute waren immer von uns getrennt und auch keine Afghanen. Es waren entweder Usbeken, Tschetschenen oder Leute von al-Quaida. Ich habe auch nie einen Selbstmordattentäter gesehen, glaube aber, dass das die gleichen Männer waren. Ich habe gehört, wie unsere Anführer über sie geredet haben.“

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Medizinische Versorgung für verwundete Taliban

„Wir hatten überall Kontakt zu Ärzten und wenn jemand von uns verwundet wurde, riefen wir sie an und sie kamen mit den nötigen Medikamenten. Manchmal kamen die Ärzte sogar in Autos der afghanischen Nationalpolizei.“

Nach dem Essen nutzte Matin seinen Computer, um mit einem Kollegen zu skypen, während Jilani zuschaute. Er war erstaunt von der Technologie, aber auch etwas vorsichtig. Vielleicht ein Anzeichen dafür, dass sein Wandel real war—oder er zumindest wollte, dass er real ist.

„Dafür braucht man Bildung“, sagt Jilani über das Skypen. „All die gebildeten, jungen Leute sind gut für unser Land. Ich bin eine ungebildete Person, also warum sollte ich dich töten?“

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Kevin Sites ist einer der Journalisten, die am besten in den Wirren des Krieges gedeihen. Als Yahoos! erster Kriegsberichterstatter zwischen 2005 und 2006 wurde er in diesem Jahr berühmt, nachdem er über mehrere größere Konflikte berichtet hatte. Er ist bekannt für seine multimedialen, selbständigen Ein-Mann-Reportagen, die die „Backpacker-Bewegung“ einleiteten. Kevin reist momentan durch Afghanistan und berichtet über das chaotische Land und die Kämpfe, während sich internationale Kräfte, wie Deutschland und die Vereinigten Staaten, allmählich zurückziehen.