FYI.

This story is over 5 years old.

Stuff

Ich habe einen Geldschein, wegen dem sich ganz China in die Hosen scheißt

Dieser 10-Yuan-Schein ist im Grunde absolut wertlos, weil ihn kein Chinese annehmen will, aber trotzdem ist er wahrscheinlich der wertvollste Gegenstand, den ich besitze.

Ich habe einen ganz besonderen chinesischen Geldschein. Er ist nur zehn Yuan (ca. 1,2 Euro) wert, aber wahrscheinlich ist er der wertvollste Gegenstand, den ich besitze. Auf der Vorderseite des Scheins sieht man Mao Zedong, den ehemaligen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei. Gerüchten zufolge soll er jede Nacht mit einer anderen jungen Bauerntochter verbracht haben, weil er der Auffassung war, dass Sex mit Jungfrauen der Schlüssel zu ewiger Jugend sei. Das ist aber nicht der Grund, warum diese Banknote so besonders ist. Es ist die Tatsache, dass es in China—einem Land, in dem es um nichts anderes als Geld, Geld und nochmal Geld geht—niemanden gibt, der sie annehmen will. Der Schein ist praktisch wertlos. Und jetzt weiß ich auch, warum.

Anzeige

Bei meinem letzten Besuch in China saß ich mit ein paar Journalisten und chinesischen Fixern in einem Fake-Pizza Hut im größten Einkaufszentrum von Shanghai und aß eine ekelhafte Pizza. Als es an der Zeit war zu gehen, holten wir unser Bargeld heraus. Amy, eine chinesische Studentin, die uns herumführte, nahm die Scheine und brachte sie der Kellnerin. Kurz darauf kam sie jedoch mit einem der Scheine zurück und stammelte, dass das Restaurant ihn nicht annehmen würde—es sei nämlich ein „schlechter Schein“. Ich fragte nach dem Grund, den sie mir aber nicht mitteilen wollte. „Später, später“, sagte sie. Als sie die schlechte Banknote zurück auf den Tisch legte, schnappte ich sie mir.

Auf den ersten Blick war es ein gewöhnlicher 10-Yuan-Schein. Auf der Vorderseite war Mao nebst einer kleinen Rose und dem offiziellen Logo der Kommunistischen Partei abgedruckt, auf der Rückseite befand sich eine chinesische Gebirgslandschaft mit Flüssen. Bei näherem Hinsehen konnte man jedoch Einprägungen entdecken—Amy zeigte sie mir ein paar Tage nach dem Vorfall. Es waren chinesische Zeichen, die nicht auf den Schein gehören. „Das ist gegen die Kommunistische Partei“, sagte sie. „Auf dem Schein steht, dass du die Partei verlassen musst, um frei sein zu können.“

In China ist es gefährlich, gegen die Kommunistische Partei zu protestieren—besonders, wenn damit die öffentliche Ordnung gestört wird. In China ist die öffentliche Ordnung ein ziemlich weit gefasster Begriff. Nimm zum Beispiel Weibo, die chinesische Version von Twitter. Wenn die Kommunistische Partei deinen Post unangemessen findet und er mehr als fünfhundert Mal auf Weibo geretweetet wird, landest du für mehrere Jahre im Knast. Jedwede Proteste werden unterdrückt und schwer bestraft. Und trotzdem hielt ich diese Banknote in den Händen, die mir empfahl, aus der Partei auszutreten. Wie war das möglich? In China war auf diese Frage keine Antwort zu finden. Es gab niemanden, der mit mir über den Schein sprechen wollte. Je mehr Leute es ablehnten, mir meine Fragen zu beantworten, desto dringlicher wollte ich das Geheimnis um den seltsamen Schein lüften.

Anzeige

Nach meinem Besuch in China reiste ich in die Niederlande. Auch wenn ich endlich außerhalb der Reichweite der Kommunistischen Partei war, hatte ich keine Ahnung, wo ich mit meiner Wahrheitssuche anfangen sollte. Als Erstes ging ich mitsamt Schein in den Chinatown Amsterdams, um eingewanderte Chinesen um Hilfe zu bitten. Ich hoffte, dass sie ihr Wissen mit mir teilen oder mich zumindest in die richtige Richtung weisen würden.

An einem regnerischen Tag ging ich, nachdem ich zehnmal feige daran vorbeigelaufen war, in eine chinesische Akupunkturpraxis. Hinter dem Schalter stand ein Mann von etwa 40 Jahren, der einen weißen Mantel trug. Ich erzählte ihm die Geschichte von der Banknote. Der Mann nahm den Schein entgegen und untersuchte die Vorder- und Rückseite. Dann starrte er mich an und warf mir den Schein ins Gesicht. „Das ist nicht gut“, sagte er. „Das ist eine schlechte Bewegung gegen die Kommunistische Partei. Das ist Falun Gong. Das ist überhaupt nicht gut.“ Das war alles, was aus ihm rauszuholen war. Bevor die Sache zu unangenehm wurde, bedankte ich mich und lief aus dem Laden.

Um sicherzustellen, dass mir der Akupunkteur keinen Blödsinn erzählt hatte, ging ich ins nächste chinesische Restaurant. Dort begrüßte mich ein chinesischer Mann mittleren Alters. Er nahm seine Lesebrille ab und begutachtete die Banknote eine Weile. Dann sah er mich an und sagte: „Das ist nichts. Es gibt einfach Regeln. Die Regeln der Kommunistischen Partei. Die muss man in China einfach befolgen.“ Er gab mir den Schein zurück und fing an, mir ausführlich von seinen Urlauben in China zu erzählen, und davon, dass er über Weihnachten nicht viele Kunden hatte. Wer oder was Falun Gong auch immer war—darüber zu sprechen, war ihm sichtlich unangenehm.

Anzeige

Letztlich fand ich jemanden, der bereit war, offen über mein seltsames Zahlungsmittel zu sprechen. Der Sinologe Stefan Landsberger von der Universität Leiden übersetzte die Inschrift auf dem Schein folgendermaßen:

Wie viele Propheten haben gewarnt

Die Menschheit kennt große Verderbnisse

Ziehe dich aus den Rängen und Ebenen der Kommunistischen Partei Chinas zurück

Und warte darauf, dass das Große Gesetz den Frieden bewahrt.

Das „Große Gesetz“ ist ein anderer Name für die „Fa“, den theoretischen Teil des Falun Gong. 1993 wurde die Bewegung als spirituelle Disziplin in China eingeführt. 1999 gab es Zehntausende Chinesen, die Falun Gong praktizierten. Die Bewegung wurde so beliebt, dass die Machthaber es mit der Angst bekamen. Seitdem unterdrückt die Kommunistische Partei die Bewegung mit allen Mitteln—auch wenn die Millionen Anhänger behaupten, keine politische Macht, sondern nur Anerkennung zu wollen. Menschenrechtsgruppen bezeugen, dass die Kommunistische Partei dafür verantwortlich ist, dass Tausende Falun-Gong-Anhänger ins Gefängnis gesteckt und hingerichtet wurden. Weitere Tausende wurden Beobachtern zufolge in Arbeitslager geschickt, wo sie gezwungen wurden, der spirituellen Bewegung abzuschwören. Viele dieser Menschen wurden physisch und psychisch gefoltert. Zur gleichen Zeit hatte die chinesische Regierung im Radio, im Fernsehen und in den Printmedien eine Propagandakampagne in Gang gesetzt, um die Bewegung zu verunglimpfen.

Seit 2006 schwelen Gerüchte, dass auf dem chinesischen Organmarkt mit Organen von Falun-Gong-Anhängern gehandelt würde. Bis heute wird alles, was mit der Bewegung zu tun hat, zensiert. Chinesische Botschaftler scheinen daran gewöhnt zu sein, Falun-Gong-Änhänger in China und im Ausland zu unterdrücken. Das erklärt vielleicht auch die Reaktion der beiden Männer im Chinatown von Amsterdam.

Der Geldschein, den ich abgegriffen habe, wurde 2005 gedruckt. Das heißt, er konnte bis zu neun Jahre lang zirkulieren, ohne dass die Kommunistische Partei etwas davon mitbekam. Die jüngsten Scheine mit antikommunistischen Botschaften wurden 2011 gedruckt. Ich frage mich, ob in China noch immer geheime Orte existieren, an denen jemand Protestsprüche zu Mao, einer Rose und chinesischen Bergen druckt.