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I’m Not Okay: Erinnerungen an das Leben als Emo

Geglättetes Haar, Snakebite-Piercings und Hetero-Jungs, die sich küssen—welch eine Zeit zu pubertieren.

Der Autor in seiner Emo-Blütezeit

Ich stehe der fast durchgehenden Ehrerbietung, die Jugendkulturen entgegengebracht wird, etwas misstrauisch gegenüber. Heutzutage liegt das vielleicht daran, dass ich selbst noch nicht so lange „erwachsen" bin, aber auch schon damals ging mir das Zeug am Arsch vorbei. Ich fand es zumindest definitiv nicht besonders oder wichtig. Und doch sitze ich nun hier und schreibe einen langen Artikel darüber, warum Emo-Musik, das „Scene"-Dasein und dieser ganze Kram immer noch das Thema ist, mit dem ich mich am besten auskenne—auch wenn es keinen großen Einfluss auf mein heutiges Ich hat, so ähnlich wie die alten Crust-Punks am Bahnhof kaum noch was mit Punk zu tun haben.

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Es ist mein Fachgebiet, mein Stück vom Trivial-Pursuit-Kuchen. Ich habe so gut wie enzyklopädisches Wissen zu furchtbarem Scene-Metal-Screamo, ob underground oder mainstream. Ich will etwas davon mit dir teilen. Komm mit mir auf eine Reise in ein Land des Guyliner, Haar über dem einen Auge, Clip-in-Ponys, Nietengürtel, sozialen Emo-Netzwerken, Selbstverletzung und die aufgesetzte Homoerotik, die es in jeder Szene gibt, in der sich viele hübsche junge Männer tummeln.

Wie viele Puristen des Genres dir sagen werden, ist oder war Emo nicht das Klischee, das man meist zu sehen kriegt. Hunderttausend Typen in dickgerahmten Brillen und Holzfällerhemden würden dir etwas darüber vorlamentieren, dass das Genre zum Trend für idiotische Teens erklärt worden ist und dich auf die OGs der Szene verweisen: Sunny Day Real Estate, Dashboard Confessional, Jawbreaker, und so weiter. Das war vor der Jahrtausendwende, als die Romantik der provinziellen Langeweile dem Alternative Rock als wichtige Verkaufsstrategie diente. Die unglamourösen Ursprünge wurden schnell durch kitschigeres Material abgelöst. Die emotionalen Inhalte der Musik vermischten sich mit dem beliebten Pop-Punk-Sound der frühen 2000er, wie Blink 182, Sum 41 & Co., und erschufen eine völlig neue Generation alternativen Trübsals.

Mein Interesse war das Ergebnis meiner intensiven Internetnutzung. Mit 13 hatte ich meine erste E-Mail-Adresse, und zwar bei Hotmail. Ich legte mir den MSN Messenger zu und fing an, wahllos Menschen aus Internetforen wie IMDB zu adden, einfach so zum Spaß. Da das genau zu einer Zeit war, als es gerade Internet-Pädophilen-Mordskandale gegeben hatte, wären meine Eltern sicher entsetzt gewesen, wenn sie es mitbekommen hätten. Im selben Jahr bekam ich zum Geburtstag ein Schlagzeug, was mir zusammen mit meinem jugendlichen Desinteresse an allem, was mir keinen Spaß machte, und meiner neu entdeckten Internet-Obsession den Weg zu bescheuertem Aussehen und ebenso bescheuerter Musik ziemlich klar vorzeichnete.

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NOISEY: Was wurde aus ehemaligen Emos?

Ich sage zwar bescheuerte Musik dazu, aber ich habe sie geliebt. Bis heute bin ich der Ansicht, dass es keine drei Singles gibt, die in Folge veröffentlicht wurden und besser sind als „I'm Not Okay", „Helena" und „Ghost of You" vom zweiten Album von My Chemical Romance, Three Cheers for Sweet Revenge (2004). An einem nostalgischen Tag haue ich auch immer noch ein paar der großen Hits rein. Aber zum Großteil war das Zeug einfach Müll. Die Texte waren besonders grottig. Das beliebteste Beispiel für diesen übertriebenen Weltschmerz ist der große Hawthorne-Heights-Hit „Ohio Is For Lovers" von 2004, der den berühmten Refrain „So cut my wrists and black my eyes / So I can fall asleep tonight" enthält—und noch vieles mehr, was ein widerwilliger Junge auf dem Weg zur Schule an die Fensterscheibe der S-Bahn murmeln könnte.

Selbstmord und Selbstverletzung spielten für den Stil eine wichtige Rolle. Das Video zu „Roses for the Dead" von Funeral for a Friend (2006) zeigt einen gemobbten Teenager, der am Ende von einem Parkhaus springt. Unsere Teenagerzeit ist ja meist nicht gerade eine Phase der Erleuchtung, und unter den Vertretern meiner Altersgruppe wurde selbstverletzendes Verhalten mit eiskaltem Spott quittiert. Natürlich ging es dabei darum, Aufmerksamkeit zu bekommen, so wie jegliches Verhalten in dem Alter. Aber wenn man jung ist, dann hat man keine Ahnung von den tiefgreifenderen Schrecken des Lebens. Eine erfahrenere Person würde parallele Kratzer auf den Armen eines Mädchens sehen und sich Sorgen machen. Gemeine Teenager sehen dasselbe und fragen sich, wie sie ihr noch mehr zufügen können.

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Vielleicht klingt das ein wenig dramatisch, aber diese ganze Szene steckt knietief im Drama. Sie ist besessen von Tragik und verbotener Liebe. Ein großer Moment für alle Emo-Girls weltweit, die gerade ihre Sexualität für sich entdeckten, war der Kuss, den sich die beiden damaligen Könige des unkonventionellen Sex-Appeals, Bert McCracken von The Used und Gerard Way von My Chemical Romance, auf der Bühne teilten. Es gab im Grunde einige Parallelen zu Indie: die Fake-Homosexualität, die Lokalitäten, die langweilige, überzogene Poesie. Doch während sich die Götter der Indie-Szene anzogen wie Reisebürokaufleute, schlechte Zähne und noch schlechtere Haut und Süchte nach allen möglichen lebensgefährlichen Betäubungsmitteln hatten, waren die Koryphäen des Emo mit teuren Haarschnitten, frischer Babyhaut, Make-up und Plugs ausgestattet.

Man könnte behaupten, dass Emos und Scenesters die Ersten waren, die den berühmten MySpace-Winkel einsetzten—eine wissenschaftlich fundierte Selfie-Methode, die Hässlichkeit eliminiert. Je weniger man vom Gesicht sieht (ohne es ganz aus dem Bild auszuschließen), desto besser. Das gehört alles zur Identität, zu diesem Look. Du musst dein Gesicht mit geglättetem, gefärbtem Haar bedecken, das Betrachterauge mit dem Aufblitzen eines Snakebite-Piercings ablenken und die Kamera falsch herum hochhalten, sodass du mehr von deiner Kopfhaut zur Schau stellst als von deinem Gesicht. Hier sehen wir den unsicheren Narzissmus der Jugend, der sich weit über diese extrem narzisstische Szene hinaus erstreckt.

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Wenn wir Emo hinter uns lassen, gibt es da noch seinen prolligen Cousin, „Scene". Wenn Emo der nachdenkliche, launische Sonnenuntergang der provinziellen Teenage Angst war, dann ist Scene der vorlaute, zickige, sexualisierte Bastard des Hair Metal. Insgesamt eine sehr kalifornische Angelegenheit, aus der auch die Karriere von Sonny Moore a.k.a. Skrillex mit seiner Band From First To Last sowie die Metalcore-Band Bring Me the Horizon entsprungen sind. Und hier wird es schnell zuckrig süß, wenn auch ein wenig reifer. Bei Scene geht es mehr um Party, Trinken, sexuelle Begegnungen. Es ist etwas rauer und tougher. Künstler wie Alexisonfire, Silverstein, Underoath und viele mehr haben das für ihren wütend-traurigen Screamo sehr effektiv genutzt. Aber die hatten noch nicht den Dreck. OK, sie hatten Dreck, aber das war mehr „Hardcore-Dreck" wie Schlamm und Schweiß, und nicht die Art von hüftenkreisendem, jagger-artigem Dreck, den die meisten dick geschminkten, von Kerrang! gefeierten Bands so boten. Das blieb den kalifornischen Mötley-Crüe-Nachfahren überlassen und überlebt bis heute in Form von Bands wie Escape the Fate, blessthefall, Pierce the Veil, Black Veil Brides und anderen Veil-basierten Kapellen.

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Da, wo ich herkomme, war das schon immer ein Trost für Provinzler. Diese Szene war für Kids, die auf Friedhöfen abhingen, aus Dosen tranken und sich über seltsame Dinge unterhielten. Es war nichts, worauf man stolz war. Es war keine Bewegung, die die Welt verändert hat. Es war nichts als eine kosmetische Ausrede, eine Übung in Eitelkeit für Leute, die mit der damaligen „Lamestream"-Musik nichts anfangen konnten.

Irgendwann ist es an der Zeit, erwachsen zu werden und sich anderweitig umzusehen. Moshen sollte man ab dem 21. Lebensjahr vielleicht den anderen überlassen. Man kann auch kein Ecstasy nehmen und sich dann As I Lay Dying reinziehen. Man muss in neue Gefilde aufbrechen. Aber die Szene war ein guter Ort, um ein paar trübselige Jahre zu verbringen, mit verzerrten Gitarren und einem Mann, der weniger wiegt als mein Gürtel und der schreiend erzählt, wie sein Herz in eine Urne verwandelt wird.