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DIE GLUTEUS MAXIMUS ISSUE

Die Kirche der Gottlosen

Was wäre, wenn es eine Kirche für Menschen gäbe, die nicht an Gott glauben? Seit vergangenem Jahr gibt es mitten im Bible-Belt die erste atheistische Kirche. Wir haben einen Kein-Gottesdienst besucht.

Sanderson Jones, der atheistische Prediger, der in den nächsten zwei Jahren Hunderte von Sunday Assemblys auf der ganzen Welt verbreiten möchte, steht an der Spitze einer Bewegung von gottlosen Gemeinden. Alle fotos von Devin Yalkin

Am 7. November 2013 bekam Nashville, Tennessee, seine erste atheistische Kirche. Im Zentrum des Bible Belt gibt es Hunderte von christlichen Gemeinden, aber die Sunday Assembly war so ungewöhnlich, dass sie mehrere lokale Fernsehteams anlockte. Atheisten bekomme man selten vor die Kamera, sagte mir einer der Reporter—die Einwohner von Nashville halten ihren Unglauben lieber geheim, um sich keine Moralpredigten von den unzähligen erbarmungslosen Evangelikalen der Region einzuhandeln.

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Die Andacht beginnt wie jeder gewöhnliche Gottesdienst: mit einem mitreißenden und leicht zu singenden Lied. Doch statt „Abide With Me“ oder „Michael Row the Boat Ashore“ geht es hier mit „Get Together“ von den Youngbloods los, gespielt von einer Band, die extra für diesen Anlass zusammengestellt wurde. Danach folgt „Folsom Prison Blues“. Die Anwesenden klatschen mit—etwas zögerlich und nicht ganz im Takt. Dann springt der Prediger auf die Bühne: groß, bärtig und langhaarig—als wäre Jesus Christus in Gestalt eines Ferienlagerbetreuers wiedergekehrt. Er heißt Sanderson Jones, und er freut sich unglaublich auf diese Veranstaltung.

„Ich hoffe, ihr seid bereit für eine gute Stunde voller reiner Lebensfreude!“, ruft er grinsend den etwa 100 jubelnden Seelen zu, die vor ihm versammelt sind. „Wir sollten wohl erst mal erklären, was die Sunday Assembly ist, wie das hier zustande gekommen ist, und was als Nächstes passiert.“

Sanderson erzählt ihnen, dass sie alle Teil einer „gottlosen Gemeinde“ seien, deren Ziel es sei, „allen zu helfen, aus ihrem einen Leben so viel wie möglich zu machen“. Dann macht er Platz für einen örtlichen Organisator, der ein Gedicht vorliest. Es folgt ein Sexualwissenschaftler, der einigen Anwesenden offenbar etwas unangenehm ist, danach eine schwungvolle Interpretation von „Hey Jude“ zum Mitsingen. Dann kommt die Kollekte und schließlich folgt ein kurzes, besinnliches Schweigen, das an ein Gebet erinnert. Am Ende marschieren viele Teilnehmer einträchtig in eine Bar am Ende der Straße. In feindlicher Umgebung tauschen die versammelten Atheisten und Agnostiker Gedanken über ihren Unglauben aus und schmieden Pläne für die nächste Versammlung im kommenden Monat. Damit eine neue Kirche gedeihen kann, muss sie als Gemeinde funktionieren—als Familie, als Mikrokosmos der gesamten Welt.

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Szenarien wie dieses möchten Sanderson und seine Partnerin Pippa Evans überall auf der Welt entstehen lassen. Sie haben die Sunday Assembly erst vor einem Jahr ins Leben gerufen, aber schon jetzt haben sie Pläne, daraus eine weltumspannende säkulare Religion zu machen.

Sanderson und Pippa haben ihre Geschichte in so vielen Interviews, Crowdfunding-Videos, Predigten und Gesprächen erzählt, dass sie mittlerweile geschmeidig und glatt wirkt. Im Jahr 2011 waren die beiden Stand-up-Comedians unterwegs nach Bath, als sie über eine Idee ins Gespräch kamen, die ihnen unabhängig voneinander in den Köpfen herumspukte: Was wäre, wenn es eine Kirche für Menschen gäbe, die nicht an Gott glauben? Während der Autofahrt kamen sie zu der Überzeugung, dass die Welt eine solche Institution brauchte, und dass sie diejenigen waren, die sie gründen mussten.

Sie überlegten und diskutierten, und im letzten Januar hielten sie ihre erste Versammlung in einer ehemaligen Londoner Kirche ab. Ihre Idee, so erklärten sie später Journalisten, war „eine Mischung aus atheistischer Kirche, begeisternder Show und 100 Prozent Lebensfreude“. Sie solle „das Beste der Kirche“ enthalten, nur ohne Religion. Zu ihrer Überraschung erschienen 200 Menschen und hörten sich ihre Predigt über das Leben im Allgemeinen an. Zur zweiten Versammlung, einen Monat später, kamen schon 300 Leute—nun wussten sie, dass sie einen Fuß in der Tür hatten. Schon bald fanden Sunday Assemblys überall in Großbritannien, in New York und in Melbourne statt. Sie alle standen unter dem Leitsatz: „Live better, help often, wonder more.“

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Im Oktober, neun Monate nach der ersten Versammlung, begann die Sunday Assembly mit einem ehrgeizigen Expansionsprojekt: Via Crowd-Funding sollten 500.000 Pfund (gut 600.000 Euro) für die Einrichtung einer Website zur Gründung weiterer Versammlungen eingespielt werden. Gemeinsam mit Pippa wollte Sanderson quer durch Europa, Australien und die USA reisen und in 40 Tagen Versammlungen in 35 Städten abhalten.

Ungefähr zur gleichen Zeit fragten sich Journalisten, ob die Sunday Assembly vielleicht die am schnellsten wachsende Religion der Welt sei. Dutzende von Medien, vom Guardian über den Economist bis zum Sydney Morning Herald, brachten Berichte über einen seltsamen, aber scheinbar erfolgreichen gottlosen Glauben, den zwei Stand-up-Comedians begründet hatten. Dabei war es durchaus hilfreich, dass Sanderson ein begnadeter Redner ist, der mit druckreifen Zweizeilern nur so um sich wirft. Er ist groß, schlaksig, verfügt über die unermüdliche Energie eines Golden

Retrievers, und er ist einer jener seltenen Charaktere, die mit ernstem Gesicht von der überwältigenden Großartigkeit des Lebens erzählen können und dabei glaubwürdig sind.
In einer Schlagzeile der New Republic wurde er als „Hipster-Jesus“ bezeichnet, doch die damit unterstellte Trendverliebtheit passt nicht zu seinem Charakter. Er ist schonungslos optimis­tisch und spricht nie sarkastisch oder höhnisch über religiöse Fundamentalisten. Er flucht nicht mal auf der Bühne—in einer Versammlung in Washington sagte er einmal: „Das einzige Wort mit ‚f‘, das wir benutzen, heißt ‚fun‘.“

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Ich lernte Sanderson letzten Sommer kennen, als er in New York war, um die erste Assembly in den USA zu gründen. Die erste Versammlung fand an einem heißen Juni-Nachmittag in einer Bar in Manhattan statt. Es wurde eine feuchtfröhliche Stehparty mit vielleicht 100 Neugierigen, die sich in einem kleinen Hinterzimmer gegenseitig auf die Füße traten. Wir sangen gemeinsam und lauschten Sanderson, der nicht gegen Gott oder die Religionen predigte, sondern dafür, das Wunder des Lebens zu würdigen. „Der Atheismus ist das Sprungbrett“, rief er. „Das Leben ist der Swimmingpool.“

Das Ganze kam mir vor wie ein unterhaltsamer Jux. Eine Comedy-Performance, die eine tolerante, positive Form des Unglaubens propagieren sollte. Doch im Herbst, als Sanderson mich per E-Mail darüber informierte, dass Pippa und er auf Tour gehen würden, um Dutzende neuer Versammlungen zu gründen und eine halbe Million Pfund zu sammeln, da ließ ich alles stehen und liegen und fuhr mit.

„Wir werden Tausenden von Städten und Dörfern und Millionen von Menschen zu Gemeinschaftserlebnissen verhelfen, ohne dass dazu eine Religion nötig ist“, sagte er zu mir. Richtig gelesen: Millionen. Sanderson und Pippa glauben, es sei für Atheisten an der Zeit, Farbe zu bekennen. Ihre Mission sei es, den Ungläubigen dabei zu helfen, Gemeinden zu gründen und sich gegenseitig zu unterstützen, wie es auch religiöse Gruppen tun. Und sie finden, das ließe sich am besten bewerkstelligen, indem man total nett ist.

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Pippa Evans, Mitbegründerin der Sunday Assembly, hält während einer Versammlung im großen Konzertsaal der New York Society for Ethical Culture kurz inne.

Auf der Sunday-Assembly-Tour durch Amerika fragte Sanderson die versammelten Atheisten immer wieder, wer von ihnen schon einmal über eine Kirche ohne Gott nachgedacht habe. Logischerweise streckten viele ihre Hände in die Höhe. Die Grundidee der gottlosen Gemeinden—so werden Gruppen wie die Sunday Assembly auch genannt—ist relativ einfach: In einer Kirche geht es nicht nur um den Gottesdienst, sondern auch um die Gemeinschaft auf der Basis gemeinsamer Werte. US-Studien haben in den letzten Jahren gezeigt, dass Kirchgänger glücklicher, optimistischer und gesünder sind als der Durchschnitt der Bevölkerung. Wer Mitglied einer Gemeinde ist, hat öfter Gelegenheit, mit Menschen zu sprechen und neue Freunde zu treffen, den Partner fürs Leben zu finden oder geschäftliche Kontakte zu knüpfen.

Der Erste, der ein atheistisches Gemeindeleben ernsthaft in Erwägung zog, war möglicherweise der exzentrische französische Soziologe Auguste Comte. Mitte des 19. Jahrhunderts gründete er eine Kirche ohne Gott: die religion de l’humanité. Seiner Vorstellung nach sollte sie die katholische Kirche nachahmen: Er träumte von zahlreichen Priestern, von Andachten zur Förderung des Altruismus und von der Kanonisierung solcher Persönlichkeiten wie Aristoteles, Shakespeare und des Apostel Paulus. Comte starb, bevor seine Ideen ernst genommen, geschweige denn in die Tat umgesetzt wurden, doch heute existieren „Tempel der Humanität“ in Frankreich und Brasilien.

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Im 20. Jahrhundert öffneten sich die progressiven Teile des Christentums und des Judentums immer mehr gegenüber den Nichtgläubigen. Die humanistischen Unitarier, die die liberalste Strömung des Protestantismus bilden, halten zum Beispiel oft nicht theistische Messen ab und nehmen sowohl Atheisten als auch Agnostiker auf. Auch das humanistische Judentum, das um 1963 von Rabbi Sherwin Wine begründet wurde, lässt auf ähnliche Weise religiöse Traditionen mit einer Offenheit für die Gottlosigkeit verschmelzen.

Die Ethische Bewegung war ebenfalls erfolgreich beim Aufbau säkularer Gemeinden. Gegründet wurde sie 1876 in New York von Felix Adler, der zunächst eine Ausbildung zum Rabbi machte und sich dann vom Glauben lossagte. Die Ethische Bewegung hielt Messen ab, kümmerte sich um die Schulbildung der Kinder in der Gemeinde und leistete wohltätige Arbeit. Nebenbei verbreitete sie die humanistische Botschaft von Vernunft, sozialer Gerechtigkeit und einer Moral, die nicht von göttlicher Autorität abhing. Seit Herbst 2013 hat die New Yorker Sunday Assembly ihre monatlichen Versammlungen in den vierten Stock des Hauptquartiers der Ethical Culture Society verlegt. (Eine christliche Kirche hat den großen Konzertsaal im Erdgeschoss gemietet.)

Auch wenn einige gottlose Gemeinden schon seit Langem bestehen und Hunderte von Mitgliedern haben, ist es bisher keiner Institution gelungen, Gemeinden in dem Umfang zu gründen, von dem einige Atheisten seit Jahrzehnten träumen.

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James Croft, ein humanistischer Redner, der sich zum Ethical Culture Leader ausbilden lässt (so heißt das Gegenstück zum Priester), ärgert sich vor allem, wenn er säkulare Versammlungen besucht, die in der Nähe christlicher Gotteshäuser abgehalten werden. „Die Kirchen vermitteln eine Botschaft, die viel weniger überzeugend und moralisch weniger fundiert ist als die Botschaft des Humanismus“, sagt Croft. „Und dennoch gehen da Hunderte von Menschen hin, während ich vor 15 Leuten rede.“

Eine oft zitierte Studie der Universität Berkeley aus dem Jahre 2012 ergab, dass 20 Prozent der erwachsenen Amerikaner sich mit keiner Religion identifizieren—1990 waren es nur acht Prozent. In den letzten Jahren sind eine Reihe von gottlosen Gemeinden entstanden, die diese Statistik lebendig werden lassen. Da gibt es zum Beispiel die 2012 gegründete Houston Oasis und seit dem vergangenen Jahr die Community Mission Chapel in Louisiana—beide wurden von ehemaligen christlichen Geistlichen gegründet, die den Glauben an Gott verloren haben und dennoch den Gemeinschaftssinn fördern möchten. Harvard, die erste Universität der Welt mit einem humanistischen Geistlichen, ist ein fruchtbarer Nährboden für gottlose Gemeinden—im letzten Monat hat die Humanist Community in Harvard ein neues Gemeindezentrum namens Humanist Hub eröffnet, in dem Atheisten, Agnostiker und alle anderen Interessierten willkommen sind. „Eine humanistische Gemeinde zu gründen, ist kein abwegiger Gedanke“, schrieb Greg Epstein, der Gründer der Organisation, 2010 in seinem Buch Good Without God. „Wenn Atheisten und Humanisten jemals mehr sein wollen als eine unterdrückte Minderheit, dann ist das eine notwendige Reaktion auf eines unserer schmerzlichsten und fundamentalsten menschlichen Bedürfnisse.“

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Das Problem, vor dem Leute wie Greg und James stehen, ist vor allem das des Marketings. „Der Humanismus bietet einfach die beste ethische Botschaft“, sagt James. „Deshalb bin ich immer wieder erstaunt, dass wir keine Ahnung haben, wie wir sie verkaufen sollen.“

Die New Yorker Gemeinde bei einem Kennenlern- spiel namens „Dutch Clapping“.

Sandersons Lebenslauf macht ihn zu einem hervorragenden atheistischen Evangelisten. Ehe ihm die Comedy-Karriere die Aufgabe seines Brotberufs erlaubte, verkaufte er Anzeigenseiten im Economist, und vor der Sunday Assembly hatte er seine größten Auftritte mit einem Programm namens Comedy Sale. Sanderson verkaufte die Karten für die Vorstellungen auf der Straße, prägte sich schnell die Namen der Ticketkäufer ein, recherchierte sie online und machte sich auf der Bühne über sie lustig. Zwar machen die meisten Komiker in ihrer Karriere eine Phase durch, in der sie Flyer verteilen müssen, um Publikum heranzuholen, vor dem sie auftreten können—Pippa zufolge war Sanderson aber der vielleicht einzige Comedian, dem das Flyerverteilen tatsächlich Spaß machte.

Die wichtigste Vermarktungsstrategie der Sunday Assembly besteht womöglich darin, nichts zu sagen, was potenzielle Konvertiten verärgern könnte. Pippa war bis zum Alter von 17 Jahren praktizierende Christin, und sie will die Gruppe von einer zu religiösen Sprache abbringen. Auch Begriffe wie „Atheismus“, „ethisch“, „rational“, „humanistisch“ oder „säkular“ werden gemieden, um nicht mit Organisationen in Verbindung gebracht zu werden, die diese Schlagwörter benutzen. „Wir brauchen mehr normale Menschen“, sagt Sanderson.

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Im Gegensatz zu manchen Hardcore-Atheisten, die jedes Mal widersprechen, wenn jemand „Gott segne dich“ sagt, sind Sanderson und Pippa entwaffnend gutherzig und tolerant. Ich habe gesehen, wie sie durch Midtown Manhattan schlenderten und Süßigkeiten kauften, die sie später an jeden verteilten, der ihnen über den Weg lief.

Nach ein paar Tagen mit Pippa und Sanderson glaube ich, dass ihre Ernsthaftigkeit echt ist. Aber sie ist auch hilfreich beim Missionieren. Wenn die Mitglieder einer Kirche zufrieden, ausgeglichen und stressfrei wirken, ist es umso leichter, neue Konvertiten einzufangen.

Oder wie Sanderson es ausdrückt: „Im Moment bin ich die beste Werbung für das Produkt.“ Und passenderweise ist er auch noch der Pressesprecher. Pippa arrangiert und leitet die musikalischen Darbietungen und legt das Fundament für den Ausbau der internationalen Organisation, aber Sanderson ist das Gesicht der Sunday Assembly, und er ist derjenige, der die meisten Interviews gibt. Pippa ist mit dieser Arbeitsteilung vollkommen zufrieden, was ich leicht nachvollziehen kann—als ich mit ihnen durch die medienlastigen Städte New York, Boston und Washington tourte, war Sanderson hauptsächlich damit beschäftigt, neugierigen Journalisten immer wieder dieselben abgehangenen Anekdoten zu erzählen.

Zum Beispiel wiederholte er ständig seinen Spruch, die Sunday Assembly sei wie die Nougat-Umhüllung der Kirche ohne den klebrigen Gotteskern in der Mitte. Gerne gab er auch zum Besten, Pippa und er seien wie Sand, die örtlichen Organisatoren seien die Austern und die daraus entstehenden Versammlungen die Perlen. Und er sprach viel über seinen gemeinsamen Auftritt mit einem Pfarrer in einer britischen Radiosendung. Sanderson meinte, eine gottbezogene Kirche sei für Atheisten wie ein Schuh mit einem Steinchen drin. „Da wirft man ja auch nicht den Schuh weg“, sagt er zu dem Geistlichen, „sondern man schüttelt den Stein raus!“ „Sehr schön, Sanderson“, entgegnete der Pfarrer. „Sie haben gerade Ihr erstes Gleichnis erzählt!“

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Sanderson vor den Teilnehmern der New Yorker Sunday Assembly. Seine Predigten handeln meistens von positiven Themen wie Dankbarkeit, Nachdenklichkeit und der Schönheit des Lebens.

Es ist noch nicht lange her, da wäre das öffentliche Bekenntnis zum Unglauben in Amerika gefährlich gewesen. Selbst im 20. Jahrhundert wurden Atheisten diskriminiert und gehasst, vor allem von den Rechtskonservativen. In den 50ern warfen antikommunistische Kreuzritter wie Joseph McCarthy den Atheisten indirekt vor, sie würden Amerika verraten.

Dass man auf Boshaftigkeit mit Bosheit reagiert, ist nur allzu natürlich. Die prominentesten Atheisten der USA waren jahrzehntelang Antitheisten—militante Nichtgläubige, die ihr Leben lang die gläubigen Massen als Opfer von Gehirnwäsche brandmarkten. In den 1920er-Jahren machte Charles Lee Smith Schlagzeilen als Gründer der American Association for the Advancement of Atheism, nachdem er in Arkansas wegen Blasphemie verhaftet worden war, weil er antichristliche, die Evolution behandelnde Literatur verteilt hatte. In der jüngeren Vergangenheit haben Autoren des Neuen Atheismus wie Christopher Hitchens, Sam Harris und Richard Dawkins die Existenz Gottes öffentlich infrage gestellt.

Gelegentlich mündet der Antitheismus in Positionen und Stigmata, die dem Ruf des Atheismus insgesamt nachhaltig geschadet haben. Im vergangenen Jahr verglich Dawkins auf Twitter den Islam mit dem Nationalsozialismus und den Koran mit Mein Kampf. Damit löste er unter Bloggern eine hitzige Debatte darüber aus, ob die sogenannten rationalen neuen Atheisten die Grenze zum bigotten Islamhass überschritten hätten.

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Die Vorurteile gegenüber Atheisten werden nicht so bald verschwinden. 2012 ergab eine Umfrage, dass sich nur 54 Prozent der Amerikaner vorstellen können, einen Atheisten in ein öffentliches Amt zu wählen. Allerdings sind viele junge Nichtgläubige heute der Meinung, dass man die Religionen nicht ausmerzen müsse, sondern nur ihre humanitären und moralischen Aspekte von Gott trennen solle.

„Wir könnten uns viel von den evangelikalen Kirchen abkucken und dabei ihre Werte durch unsere ersetzen“, sagte mir James Croft. „Statt schwulenfeindlicher Hasstiraden und schwachsinniger Ansichten über die Rolle der Frau könnten wir die Würde aller Menschen propagieren. Ein Mindesteinkommen, Krankenversicherung für alle—so viele wunderbare Dinge.“

Die organisierten Atheisten verachten die homophobe, anti-atheistische Haltung von Megachurch-Pastor Rick Warren. Dennoch bewundern viele, was er geschaffen hat: Seine Saddleback Church, die 1980 in Lake Forest (Kalifornien) gegründet wurde, ist eine Gemeinde mit Zehntausenden von Mitgliedern und gilt als siebtgrößte Kirche der USA. Inzwischen hat sie ein Dutzend Tochtergemeinden; sie streamt Warrens Predigten im Internet, organisiert diverse wohltätige Maßnahmen, und sie bildet ihre künftigen Führungskräfte selbst aus.

Der Humanismus habe das Potenzial, genauso viele junge Menschen zu erreichen wie das Christentum, der Islam oder das Judentum, sagte mir Greg Epstein, der humanistische Geistliche aus Harvard. Er meint, die Religionen hätten einige Wettbewerbsvorteile: Sie müssten ihre Gebäude nicht mehr bauen, ihre Geistlichen nicht mehr ausbilden, sie müssten sich nicht jede Woche überlegen, was sie sagen sollen, und nicht erst eine wiedererkennbare Marke schaffen. „Wir müssen jetzt erst mal die Leute dazu bringen, dass sie in die neu gegründeten Institutionen investieren“, so Epstein.

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Die Umsetzung seiner Ziele wird Kompetenzen erfordern, die den Philosophen und Schriftstellern, die bisher den Atheismus öffentlich vertreten, eher fremd sind. Doch diejenigen, die jetzt an der Gründung von gottlosen Gemeinden arbeiten, glauben, sie stünden am Beginn eines großen Booms. Sie müssten nur anfangen zu bauen, dann würden die Gottlosen schon kommen.

Sanderson ermuntert die Anwesenden in New York, ein weltliches Lied mitzusingen. Meistens spielt die Band bekannte Vertreter dessen, was er „Power Cheese“ nennt, zum Beispiel „Eye of the Tiger“ oder „Hey Jude“.

Das Problem für Gruppen wie die Sunday Assembly ist nicht der Umgang mit der Kritik von religiösen Fundamentalisten. Es geht vielmehr darum, die Atheisten davon zu überzeugen, dass es sich lohnt, Mitglied einer Gemeinde zu sein. Manche Blogger, wie zum Beispiel Michael Luciano von PolicyMic.com, lehnen den Gedanken ab, dass so etwas wie eine religiöse Andacht irgendeinen Wert haben könnte. Luciano schreibt: „Für einen Atheisten beruht jeder Gottesdienst auf einer Unwahrheit—egal, welche Wohlfühlmethoden dabei zum Einsatz kommen.“

Und viele prominente atheistische Gruppen begegnen der Gründung von kirchenähnlichen Institutionen tatsächlich mit Misstrauen. Einer der Organisatoren, der im Center for Inquiry bei der Organisation der ersten Sunday Assembly in Washington half, sagte mir, das CFI bestehe überwiegend aus „säkularen Humanisten“—im Unterschied zu den „religiösen Humanisten“, die Gemeinden gründen.

Andere Kritiker meinen, die Sunday Assembly sei nicht atheistisch genug. Als in New York die November-Versammlung stattfand, spalteten sich einige Teilnehmer ab und gründeten The Godless Revival—eine „kompromisslos atheistische Varietéveranstaltung“, die in einer Bar in Manhattan stattfand.

„Was als komödiantische atheistische Kirche begonnen hat, will sich nun zur zentral gesteuerten humanistischen Religion entwickeln, mit Sanderson Jones und Pippa Evans an der Spitze“, schrieb Lee More, einer der Abtrünnigen, in einem Blogeintrag. Darin warf er den beiden auch vor, sich an ihrer New-Age-Religion „bereichern“ zu wollen.

Sanderson tut diese Art von Kritik gerne mit einem lässigen Witz ab: „Diese Leute meinen, die Art, wie ich nicht an Gott glaube, sei nicht die richtige Art, nicht an Gott zu glauben.“ Doch vielleicht haben seine Gegner nicht ganz unrecht. Wenn man die Religion aus der Kirche herausnimmt und den Antitheismus aus dem Atheismus—was bleibt dann noch übrig?

Die Theologie der Sunday Assembly ist ein Mischmasch aus Wohlfühlelementen des Humanismus und der Erkenntnis, wie schön doch das Leben ist. In Sandersons Ansprachen geht es um Themen wie Dankbarkeit, um die wunderbare Existenz—und um seine Mutter, die starb, als er zehn Jahre alt war. Zunächst sei er traurig gewesen. Doch allmählich habe er begriffen, dass es Glück gewesen sei, sie zu haben, solange sie lebte: „Ich war glücklich, dass sie mich volle zehn Jahre lang geliebt hat.“

Solche Predigten richten sich an eine möglichst breite Zielgruppe, aber manchem sind sie zu unernst—auch einigen Verbündeten. Als ich James Croft nach der Sunday Assembly frage, lobt er die die Organisation dafür, dass sie offener für Gefühlsäußerungen und Freude sei als die meisten anderen Versammlungen. Doch es müsse auch etwas geben, was über den Spaß hinausgehe. „Die Gemeinden sollten die Menschen dazu bringen, sich zu bessern und über ihre Lebensführung nachzudenken“, sagt er. „Dazu muss man ihnen ein unbehagliches Gefühl bereiten. Sie müssen quasi mit einem Splitter im Auge nach Hause gehen und darüber nachdenken, wie sie den wieder herausbekommen.“ In Massengottesdiensten und Ethical-Culture-Versammlungen sind Spaß und existenzielle Fragen genau ausbalanciert: Sanderson und Pippa müssen daran noch arbeiten.

Der Philosoph Alain de Botton, Autor des Buches Religion für Atheisten, übt noch schärfere Kritik. Er behauptet, die Sunday Assembly sei eine schamlose Kopie seiner eigenen Organisation School of Life, in der Therapie und Erwachsenenbildung mit weltlichen Predigten kombiniert werden. „Unserer Ansicht nach nutzen sie ungefragt die Kreativität anderer Leute aus“, schrieb er mir per E-Mail. „Wir glauben, dass unsere Predigten wertvollere Erfahrungen bieten als ihre: Bei uns sind Würde, intellektuelle Tiefe und echtes Gemeinschaftsgefühl auf eine Art vereint, die in ihren Ansprachen nur als schwaches Abziehbild aufscheint. Wir befürchten, dass ihre Methode diese gute Idee für alle Menschen ruinieren könnte.“

Diese Art von Pessimismus, bei dem angenommen wird, dass eine atheistische Kirche perfekt sein muss, weil sie sonst Gefahr läuft, potenzielle Konvertiten zu verprellen, ist ungewöhnlich für einen Befürworter atheistischer Gemeinden. Immerhin könnte man meinen: Wenn eine humanistische, atheistische oder agnos­tische Versammlung gut ist, dann sind zwei oder 2.000 noch besser. Die Frage ist nur, wie man solche Zahlen erreicht.

Sanderson und Pippa mögen zwar von Tausenden Tochtergemeinden träumen, aber bis jetzt haben sie vor allem Publicity erzeugt und nicht die Infrastruktur geschaffen, die die Leute auf ihre Sitze lockt. Die erste Versammlung in Los Angeles hatte über 400 Teilnehmer, und die Ursprungsgemeinde in London ist weiterhin erfolgreich—sie startet Wohltätigkeitsaktionen und hat sogar eine Sonntagsschule für Kinder und einen philosophischen Debattierclub. Die neu entstehenden US-Versammlungen sind aber kleiner. Im Dezember kamen in New York nur 50 bis 75 Teilnehmer. Und das ist noch die etablierteste der US-Gemeinden. Die Tournee brachte der Gruppe mediale Aufmerksamkeit und Hunderte E-Mails. Doch das Crowdfunding brachte weniger als 50.000 Euro ein.

In einem Blogeintrag vom 4. Dezember räumen Sanderson und Pippa ein, dass sie ihr Spendenziel nicht einmal annähernd erreichen werden. Aber sie nehmen es gelassen und verkünden, dass ein paar Programmierer angeboten hätten, ihnen die ersehnte Gemeindegründungs-Website zu erstellen. Mit den eingegangenen Spenden sollen die Gründer der Organisation unterstützt werden. Sanderson hat die Stand-up-Comedy an den Nagel gehängt und will sich jetzt nur noch um die Sunday Assembly kümmern, während Pippa ihre Comedy-Karriere fortsetzt und sich in ihrer Freizeit weiterhin am Projekt beteiligt.

Sanderson und Pippa haben mir ihre nächsten Schritte verraten: Sie wollen Großspender akquirieren, weitere Versammlungsleiter ausbilden und die Spenden durch Gemeinnützigkeit steuerabzugsfähig machen. Damit gründen sie praktisch aus dem Nichts eine internationale säkulare Organisation. Im Mai wird es in London eine internationale Sunday-Assembly-Konferenz geben, und für August ist eine Versammlung auf dem World Humanist Congress in Oxford vorgesehen. „Daraus machen wir die größte und schönste Show, die die verdammte Welt je gesehen hat. Mit Nebelmaschine, Licht- und Lasereffekten“, sagt Sanderson. Im September sollen dann die nächsten Versammlungen starten—und nicht nur eine Handvoll. Geplant sind 100 Gruppen, mehr oder weniger zeitgleich.

Im November wurden Sanderson und Pippa von Greg Epstein und James Croft für einen Podcast in Boston interviewt. Sie wurden gefragt, wie die Sunday Assemblys wohl in fünf Jahren aussehen würde. Die Comedians brachen schon in Gelächter aus, ehe Greg die Frage überhaupt zu Ende bringen konnte. Vor einem Jahr hatten sie mit einer einzigen weltlichen Versammlung begonnen, um zu sehen, was daraus wird. Jetzt planen sie die Gründung von Dutzenden Kirchen in der ganzen Welt. Eine nicht theistische Religion war früher nur ein philosophisches Gedankenexperiment. Heute gibt es konkurrierende gottlose Glaubensrichtungen. Wenn das Leben so voller wunderbarer Überraschungen ist, warum sollten Pippa und Sanderson dann ihren Blick so weit in die Zukunft richten?