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One of Many Possible Art Issues

Marina Abramovic

Wir besuchten Marina Abramovic in Upstate New York.

Interview: Jesse Pearson / Porträts: Richard Kern

Als wir Marina Abramović diesen Sommer zu Hause in Upstate New York besuchten, erholte sie sich gerade noch von ihrer MoMA-Retrospektive „The Artist Is Present“. Marina hatte vom 14. März bis zum 31. Mai während der Öffnungszeiten im Museum gesessen und Besucher eingeladen, sich ihr so lange sie wollten oder konnten gegenüberzusetzen und auf eine wortlose Kommunikation einzulassen. Manche Leute hielten es mehrere Stunden durch, andere nur Minuten. Manche weinten, andere nicht. Ein paar Leute versuchten, sie aus dem Konzept zu bringen und wurden prompt aus den Räumen geführt. Viele Leute warteten in der sehr langen Schlange, ohne die Gewissheit, Marina am Ende tatsächlich gegenübersitzen zu können. Sie selbst ließ die lange und seltsame Parade von Fans, Feinden und Neugierigen scheinbar unbeteiligt wortlos über sich ergehen—ohne eine Regung zu zeigen. Während der Zeit, die ich dort war und das Ganze beobachtete, wirkte sie manchmal freundlich und einladend, dann wieder komplett ausdruckslos und abwesend. Wenn man sie lange genug von der Seite beobachtete, sah sie aus, als wäre sie aus Wachs. Es hatte etwas Gespenstisches.

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Ausdauer und eine geschärfte Wahrnehmung sind vielleicht die zwei wichtigsten Aspekte von Marinas Schaffen, das 1971 mit der Arbeit Metronom begann. In anderen frühen Arbeiten schnitt sie sich mit Messern, legte sich in ein brennendes Pentagramm, setzte sich vor ein Publikum und nahm psychoaktive Drogen ein, die für Schizophrene und Katatoniker bestimmt waren; schrie, bis sie ihre Stimme verlor (das dauerte drei Stunden) und tanzte nackt mit einem Sack über dem Kopf, bis sie zusammenbrach (das dauerte acht Stunden). In ihrer berühmt-berüchtigten Arbeit Rhythm 0 von 1974 legte sie in einer Galerie auf einem Tisch 72 willkürlich gewählte Objekte aus, die die Besucher dann verwenden konnten, um damit mit ihr von acht Uhr abends bis zwei Uhr morgens zu machen, was sie wollten. Am Ende der Performance war sie halbnackt, weinte, hatte einen Rosmarinzweig auf der Schulter und Rosenblätter auf ihren Brustwarzen. Die Leute hoben sie auf, trugen sie herum, zogen sie an und aus und behandelten sie wie eine Puppe.

1976 begann Marina mit ihrem damaligen Freund, dem Künstler Ulay, zu kollaborieren. Eine tiefere, intensivere und vertrauensvollere Zusammenarbeit zwischen zwei Künstlern hat es wohl nie gegeben. Sie hatten während ihrer oft nackten Performances buchstäblich die Sicherheit und geistige Gesundheit des anderen in der Hand, während sie schrien, ineinander rannten, Pfeile aufeinander richteten, Spiegel zerschlugen und von Pferden auseinandergezogen wurden, und weitere Dinge dieser Art …

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Es war nervenaufreibend und nicht die Art Beziehung, die man ewig durchhält. 1988 beendeten sie ihre letzte Kollaboration, in der sie von den entgegengesetzten Enden der Chinesischen Mauer 2.500 km aufeinander zuliefen, bis sie sich trafen.

Marinas eigene Arbeiten nach 1995 beschäftigen sich expliziter mit ihrer Herkunft vom Balkan. Ihre Eltern waren beide Kriegshelden Jugoslawiens. In The Hero (2001) stellte Marina die Kriegsmedaillen und andere Erinnerungsstücke ihres Vaters aus. In Balkan Baroque (1997) putzte sie 1.500 blutige Kuhknochen mit einer Bürste und sang dabei die jugoslawischen Volkslieder, die sie als Kind gelernt hatte. In Balkan Erotic Epic (2005) stellen Horden von Darstellern stereotype Landbewohner dar, die sich in eine sexuelle Rage steigern, bis die Frauen sich ihre Brüste reiben und die Männer im wörtlichen Sinne Löcher im Boden ficken.

2005 führte Marina die heiß diskutierten „sieben einfachen Stücke“ (im Original: Seven Easy Pieces) auf, in denen sie klassische Performancearbeiten von Bruce Naumann, Vito Acconci, Valie Export, Gina Pane und Joseph Beuys und ihre—selbst für ihre Verhältnisse—extreme Arbeit von 1975, The Lips of Thomas, neu aufführte. Diese Ausstellung scheint den Funken entfacht zu haben, der schließlich zu der Entstehung der MoMA-Retrospektive führte, in deren Rahmen The Artist is Present entstand. Außer Marinas Starr-Marathon präsentierte das MoMA Videos, Fotos und Objekte früherer Arbeiten und ließ eine Gruppe junger Performer Marinas Arbeiten (mit und ohne Ulay) nachstellen. Marinas Coverversionen und Neufassungen älterer Arbeiten mit anderen Performern sind etwas so in der Kunstwelt noch nie Dagewesenes. Während Puristen sie für problematisch halten, sind junge Fans, die noch nicht lebten, als sie im Original aufgeführt wurden, dankbar, sie so sehen zu können.

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Als wir in Marinas sternförmigem Landhaus ankamen, saß dort ein buddhistischer Mönch auf dem Sofa und checkte auf einem Laptop seine Mails. Ein junger Mann kochte in der Küche etwas Indisches, während uns Marina als freundliche Gastgeberin herzlich willkommen hieß. Wir redeten eine Weile, aßen etwas, redeten noch ein bisschen weiter und gingen dann nackt in dem bitterkalten Bach hinter ihrem Haus baden. Marina und Richard Kern rissen sich binnen Sekunden die Kleider vom Leib. Als ich zögerte, sagte Marina streng: „Komm schon, du bist hier bei Abramović.“ Dem hatte ich nichts entgegenzusetzen.

Richard Kern: Wo sollen wir anfangen? Äh, [zu Jesse] willst du wirklich, dass ich anfange? 

Marina Abramović: Fang einfach an. Mach schon. Leg los.

Richard: OK, OK. Wie bist du aus Jugoslawien rausgekommen?

Marina: Es gab keinen politischen Grund. Ich habe mich in einen deutschen Künstler verliebt, der in Amsterdam lebte. Ich war eingeladen worden, dort bei einem Fernsehprogramm namens Body Art aufzutreten. Ich war die einzige Osteuropäerin, die man gefragt hatte, und einfach die Tatsache, dass ich daher an meinem Geburtstag in Amsterdam war … Meine Großmutter sagte immer: „Was an deinem Geburtstag passiert, ist wichtig.“ Also fuhr ich da hin und an meinem Geburtstag traf ich Ulay. Das stellte sich als das wichtigste Ereignis meines Lebens heraus, denn wir verbrachten 13 Jahre miteinander. Ich beschloss, Jugoslawien zu verlassen—aus Liebe.

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Richard: Aber brauchtest du nicht eine Erlaubnis, um das Land zu verlassen? 

Marina: Nein. Heute ist es viel schwieriger. Damals konnte man ganz einfach ein Visum beantragen. Man konnte problemlos reisen. Das war zu Titos Zeit. Wir hatten komplette Freiheit, das Einzige, was wir nicht hatten, war Geld, um zu reisen. Erst mit Milosˇević wurde es unmöglich zu reisen.

Jesse Pearson: Tito war im Vergleich zu Milosˇević ein Engel.

Ich konnte rein und raus, wie ich wollte. Und nicht nur ich—alle konnten das.

Richard: Ich habe den Eindruck, dass die Performancekunst in den frühen 70ern als Bewegung breitere Anerkennung und gleichzeitig einen Aufschwung erlebte. Das war der Moment, wo es richtig losging. Es war der Zeitpunkt, wo ich an der Kunsthochschule war, und wo du, Chris Burden und Vito Acconci anfingen—

Marina: Radikale Sachen zu machen.

Jesse: Ja, radikalere Sachen. Bekamst du in Jugoslawien die Arbeiten dieser Leute mit? War die jugoslawische Kunstszene damals international angebunden? 

Marina: Zunächst gab es überhaupt keine internationale Anbindung. Als ich mit den Performances anfing, war es für mich, als wäre ich die erste Frau auf dem Mond oder so etwas. Alle dachten, ich wäre verrückt geworden. Meine Familie wollte mich in die Klapsmühle stecken. Mein Kunstprofessor sagte mir, dass ich das Feld der Kunst komplett verlassen hätte und das, was ich mache, totale Scheiße sei. Ich war komplett allein. Ich hatte dennoch immer das Gefühl, dass es das war, was ich machen wollte. Aber ich hatte keine Referenzen. Die kamen erst sehr viel später. Erst Ende 1975 verstand ich, dass es da draußen eine Art Familie für mich gab. Die Informationen, die wir in Jugoslawien bekamen, mussten viele unterschiedliche Kanäle passieren, und kamen so komplett verzerrt bei uns an. Was bei uns ankam, war eine Art Märchen, obwohl die Wahrheit in Wirklichkeit viel einfacher war. Wie Chris Burden, z. B. seine Arbeit Trans-Fixed, wo er sich mit Nägeln auf einem Volkswagen kreuzigen lässt. Wir hörten, dass er durch Los Angeles fuhr und von der Polizei angehalten wurde und es ein Riesending war. Die Geschichte nahm wahnsinnige Ausmaße an. Viel später, als ich die Arbeit selbst nachstellen wollte, gab er mir zwar keine Erlaubnis, aber er erzählte mir, wie es wirklich abgelaufen war. Es waren einfach drei Leute in einer Garage. Sie jagten ihm Nägel durch die Hände und schoben dann das Auto aus der Garage, machten ein Foto und schoben es wieder hinein. Das war’s. Also gab es eine Menge Missverständnisse und diese Art stille Post. Wir wussten nicht wirklich, was da lief.

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Jesse: Es ist interessant, dass die Geschichten, die durch diese stille Post bei euch ankamen, die Arbeiten noch extremer klingen ließen, als sie wirklich waren. 

Marina: Genau. Und dann kommst du dahin und siehst sie und denkst: „Das war alles?“ Wir kriegten in Jugoslawien unsere Lehrbücher ja aus Russland, und diese russischen Bücher waren aus diesem unglaublich billigen Papier und die Fotos waren alle mit Talk bestäubt. Also hatten sie einen starken Geruch. Ich erinnere mich an ein Buch über die Impressionisten und die Fotos waren alle extrem bunt. Als ich die Impressionisten dann schließlich in Paris sah, kamen sie mir einfach nur grau vor. Etwas stimmte damit nicht. Es war ein komplettes Missverständnis. In den russischen Büchern sah die Kunst völlig anders aus, glänzend und voller Farben und so weiter. Es entsprach nicht der Realität, aber es war die Art, wie wir die Sachen wahrnahmen.

Richard: In der MoMA-Ausstellung fiel mir auf, dass die Messerarbeit—Rhythm 10, glaube ich—nur in Form eines völlig zerkratzten Fotos dokumentiert ist. War dir die Bedeutung der Dokumentation von Anfang an klar? 

Marina: Es gab frühe Arbeiten, die nicht dokumentiert wurden. Als wir mit den konzeptionellen und performativen Arbeiten anfingen, war es unsere Idee, dass diese Dinge überhaupt nicht dokumentiert werden sollten—dass Performance etwas Einzigartiges ist und ausschließlich in der Erinnerung zurückbleiben soll. Ich war dann die Erste, die anfing zu dokumentieren, aber viele meiner Kollegen taten es nicht. Meine Mutter war Kunsthistorikerin und Direktorin des Museums der Revolution in Belgrad. Sie war völlig besessen. Sie dokumentierte alles. Und das hat sich wohl genetisch auf mich übertragen. Ich habe jeden einzelnen Brief, den ich bekommen habe, aufgehoben. Ich habe jedes noch so kleine Stück Papier aufbewahrt und tue das auch heute noch. Was die Kratzer auf dem Foto betrifft—ich lebte in einem Auto. Ich war nirgendwo. Ich war Nomadin. Also wurde das Ding zerkratzt.

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Ich mochte es so. Ich war in den 70er-Jahren am College und sie brachten uns sofort bei, alles zu dokumentieren. Zu dem Punkt musste also schon alles dokumentarisch festgehalten werden.

In meinem Fall war das nicht so. Zu meiner Zeit nicht.

Jesse: Ich habe irgendwo gelesen, dass deine Mutter, als du klein warst, eine sehr reglementierende, strenge Art hatte und Listen mit Wörtern machte, die du lernen musstest, oder mit Dingen, die du essen solltest. Hat das auf dein Leben als Erwachsene abgefärbt? 

Marina: Glücklicherweise ja. Ich habe es so gehasst und ich fand es alles scheiße, aber je älter ich werde … Ich mein, seht mich doch an—alles ist durchorganisiert. Es ist schrecklich, wirklich. [lacht] Ich mag Leere und komplette Ordnung. Ich glaube, ich bin inzwischen schlimmer als sie.

Jesse: Also ist es dir in Fleisch und Blut übergegangen? 

Marina: Es steckt tief. Es ist der Wahnsinn—dieser unglaubliche Wille und die Kontrolle, egal was kommt. Und die Idee, die dahintersteckt, ist die Aufopferung für die Sache. Ich habe nie im Leben eine Performance abgesagt oder abgebrochen. Nie. Wenn ich ins Krankenhaus musste oder etwas passierte, auf das ich keinen Einfluss hatte, ja, aber sonst nie.

Jesse: Die Leute werden ja oft genau wie ihre Eltern, auch wenn sie als Kinder sehr rebellisch waren.

Marina: Ja, es ist schrecklich—absolut schrecklich. Und dazu kommt noch, dass diese Legende und die Vorstellung von der Aufopferung—da meine Eltern beide Nationalhelden waren—für mich extrem wichtig waren. Dass das Leben sonst vergeudet ist. Dass man eine Lebensaufgabe braucht. Jetzt ist mein Institut diese Aufgabe, das hier in Hudson entstehen wird. Das Einzige, das man der Welt hinterlassen kann, ist eine gute Idee—nicht irgendwelcher materieller Scheiß—und er [zeigt auf den Mönch im Nebenzimmer] ist sicher ein gutes Beispiel dafür.

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Jesse: Rinpoche?

Marina: Ja, er ist toll. Meine Beziehung zu ihm besteht seit 25 Jahren.

Richard: Bei Body Art war die ursprüngliche Idee, dass sie nur in dem Moment existiert, in dem sie passiert. Aber über die Jahre mussten die Leute irgendwann Geld verdienen und haben ihre Kunst verkauft. 

Marina: Ich habe meine Kunst nie verkauft.

Jesse: Deine Kunst nicht, aber Fotos davon. 

Marina: Ja.

Jesse: Hat das Bewusstsein, dass du Fotos deiner Arbeiten machen und sie verkaufen wirst, den Stil deiner Dokumentation verändert—also dazu geführt, dass du visuell schönere Fotos machst? 

Marina: Nein, nein. Das sind zwei verschiedene Sachen. Ich habe dafür sehr genaue Regeln. Wenn ich Performances mache, sind die Bilder, die von diesen Performances entstehen, fast ausschließlich zur Dokumentation bestimmt, außer in wenigen Fällen. Nehmen wir z. B. die Seven Easy Pieces, wo ich sieben verschiedene Performances nachgestellt habe—zwei von mir und den Rest von anderen Künstlern. Ich habe nie Fotos von Performancestücken gemacht oder verkauft, die nicht meine sind. Das wäre unethisch. Also existieren die Fotos dieser Arbeiten nur als Dokumentation. Aber es gab Fotos, die ich wirklich machen wollte und für die ich auch sehr genaue Anweisungen gegeben habe. [blättert durch ein Buch mit ihren Arbeiten] Das hier war für die Neuaufführung von Lips of Thomas.

Jesse: Ja, das ist eine harte Arbeit. Du isst Honig und trinkst Wein und dann schneidest du dir mit einer Rasierklinge einen fünfzackigen Stern in den Bauch und geißelst dich, um dich dann auf ein Kreuz aus Eis zu legen, während eine Heizung über deinem Bauch den Stern am Bluten hält. 

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Marina: Ein Foto wurde während der exakt letzten Minute der siebenstündigen Performance gemacht. Und das war mir wichtig. Alles andere, die Fotos während des Prozesses, sehe ich als Dokumentation an. Aber das existiert als Fotoarbeit. Dann habe ich andere Bilder, die ich extra in einem Studio inszeniere.

Richard: OK. 

Marina: Ich inszeniere sie, weil es mir um die fotografische Arbeit geht. Dabei verbringe ich meist lange Zeiträume in bestimmten Positionen. Ich mache dann tatsächlich eine Art Performance speziell für den Fotografen. Ich versetze mich in einen bestimmten geistigen Zustand.

Jesse: Und diese für den Fotografen inszenierten Fotos sind die, die du verkaufst?

Marina: Ja.

Jesse: Aber kommst du, wenn du das nur für diesen Zweck machst, trotzdem in denselben mentalen Zustand und machst die Performance sozusagen für sie? 

Marina: Ja, genau.

Jesse: Aber du achtest sehr viel mehr auf die Beleuchtung und es ist theatralischer. Ich bin nur neugierig, weil das ja immer das Dilemma der Performancekunst ist. Ist es nur reine Kunst, wenn es keinen finanziellen Aspekt hat?

Marina: Ich bin nicht nur Performancekünstlerin. Ich bin Künstlerin. Das ist sehr wichtig. Ich bin keine Feministin und ich bin keine feministische Künstlerin—ich hasse so was. Ich bin keine Body-Art-Künstlerin oder Performancekünstlerin. Meine Funktion ist, Künstlerin zu sein. Als Künstlerin bin ich frei—und das ist ein wunderbares Gefühl—jegliche Mittel zu benutzen.

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Jesse: Du kannst tun, was du willst. 

Marina: Die Performance ist ein Mittel. Die Videoinstallation ist ein Mittel. Es sind alles Mittel, um bestimmte Dinge zu sagen, und ich nehme immer das Mittel, das ich für einen bestimmten Zweck brauche.

Jesse: Wie lange hat es in deiner Beziehung mit Ulay gedauert, bis eure zwei Künstleregos aneinandergerieten?

Marina: Überhaupt nicht lange, weil der Sex so gut war.

Jesse: OK. [lacht] Moment, ich meine nicht, wie lange es dauerte, bis ihr zusammenkamt, sondern bis ihr aneinandergeraten seid. 

Marina: Das passierte sofort, weil wir einander so sehr wollten.

Jesse: Ich meine aber einen Clash eurer Egos. Habt ihr viel gestritten? 

Marina: Nein, überhaupt nicht.

Jesse: Nicht, bis der Sex schlecht wurde. 

Marina: [lacht] Genau. Das war nach zwölf Jahren.

Jesse: Aber am Anfang …

MArina: Es war unglaublich. Am Anfang gab es diese ungeheure sexuelle Anziehung. Wir gingen schlafen und verließen den Raum dann zehn Tage lang nicht, oder so etwas. Wir wurden beide am gleichen Tag geboren und lernten uns an unserem Geburtstag kennen. Es gab viele komische Dinge, die passierten. Bevor wir uns trafen, suchten beide von uns in unseren Leben, aus verschiedenen Gründen, nach etwas Neuem. Ich konnte die Performances, die ich bis dahin gemacht hatte, nicht mehr machen, weil ich mich umgebracht hätte. Ich machte zu viele Extreme durch. Ulay trug, als ich ihn kennenlernte, sein halbes Gesicht als Frau—mit Make-up und welligem Haar—und die andere Hälfte mit kurzen Haaren und Bart. Er recherchierte diese transsexuellen Fragen über Mann, Frau, Transvestit. Sehr kompliziert. Aber als er mich traf, verschwand die Frauenhälfte von ihm.

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Jesse: Weil du das dann warst. 

Marina: Ja, das war ich dann. Und dann war da die Möglichkeit, dass wir das Männliche und das Weibliche verbinden könnten, und etwas mit diesem dritten Element schaffen könnten, das weder seine Arbeit noch meine Arbeit war. Und wir waren so wild darauf, diese neue Arbeit zu schaffen. Es war uns egal, wessen Idee es war. Es war sofort wirklich großartig. Ich war diejenige, die die Einladung nach Venedig bekam und wir fingen sofort an zu proben. „Wie sollen wir es machen? Was wird es werden? Lass uns zusammenarbeiten.“ Aber nachdem wir uns trennten, war es die Hölle. Die Hölle kam danach.

Jesse: Wie lief das ab?

Marina: Nachdem wir uns trennten, packte er unser komplettes Material ein und nahm es mit. Ich hatte zwölf Jahre lang keinen Zugang dazu. Und ich drehte durch. Wir redeten sieben Jahre nicht miteinander. Dann nahmen wir uns einen Anwalt. Ulay wollte seine Sachen verkaufen, weil ihn unsere Kollaboration nicht mehr interessierte, weil er einfach Geld haben wollte, weil er eine neue Frau hatte … egal. Also machten wir diesen Vertrag mit dem Rechtsanwalt und ich musste einen Haufen Geld zusammenkriegen. Ich fand einen Sammler, der mir das Geld unverzinst lieh, aber ich musste ihm im Gegenzug Arbeiten überlassen und ihn sieben Jahre lang abbezahlen. Ich bezahlte jeden Monat, um diese …

Jesse: Um einen Teil deiner Vergangenheit zurückzukaufen, ja. 

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Marina: Genau. Also wollte er Cash und er hat Cash gekriegt. Aber der Vertrag war für mich sehr hart, weil er bei allem, was wir gemeinsam gemacht haben, 20 Prozent von jedem Verkauf bekommt. Und ich kann nicht ohne eine Galerie verkaufen. Also kriegt die Galerie 50 Prozent und ich kriege 50 Prozent. Und davon kriegt er 20 und ich 30.

Jesse: Aber du konntest die Rechte daran zurückkaufen? 

Marina: Durch die zehn Prozent mehr, die ich kriege, habe ich die Kontrolle. Und ich habe lange nichts verkauft, weil ich wollte, dass Zeit vergeht. Ich habe erst jetzt begonnen, die Sachen zu verkaufen, weil der Preis jetzt stimmt. Ich habe bis vor Kurzem nur gearbeitet, gearbeitet und gearbeitet. Und jetzt habe ich vor gerade erst sechs oder sieben Monaten die erste Arbeit aus unserem Portfolio verkauft. Ich habe die Kontrolle über alles, und wenn etwas verkauft wird, bekommt er 20 Prozent.

Jesse: Wir reden hier von Sachen, die er hatte, und die du dann zurückbekommen hast.

Marina: Ja, ja. Ich habe sie vor 15 oder 20 Jahren gekauft. Es war ein Albtraum und jetzt ist es alles sehr klar. Ich habe im Moment große Probleme mit ihm, denn wisst ihr, was er gerade macht? Er nimmt Fotos von Arbeiten, auf die er keine Rechte hat, und schreibt seinen Namen drauf. Ich habe in allen Büchern—das kann man auch über die Jahre nachverfolgen—immer beide Namen erwähnt, weil das eine historische Tatsache ist. Ich habe das alles so satt, weil ich es wirklich nicht fair finde. Das ist der Grund, warum ich mich um diese Sachen kümmere. Ich muss es schon aus historischen Gründen tun. Denn er präsentiert diese ganze Ära so, als wäre es nur um Ulay gegangen.

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[An diesem Punkt steht Richard auf, um seine Kamera einzurichten, während Marina und Jesse sich weiter unterhalten.]

Jesse: Du redest viel über Energiefelder. 

Marina: Es geht vor allem um Emotionen. Heute sind so viele Arbeiten Illustrationen von Theorien. Du musst eine Menge Theorie kennen, um zu verstehen, was eine Arbeit bedeutet. Aber es gibt auch Arbeiten, die keine Theorie brauchen, weil sie einen emotional bewegen. Und später will man dann vielleicht mehr darüber wissen und fängt an zu lesen und sich die Theorien anzusehen. Aber ich denke, dass diese Arbeit wirklich mit Emotionen zu tun hat. Bei The Artist is Present hatten sogar Leute, die nichts über Performance wussten, die einfach auf einem Wochenendausflug mit ihren Kindern ins Museum kamen, etwas davon, denn es gab eine emotionale Wirkung. Die Energie hat auf einem emotionalen Niveau funktioniert. Ich kann die Energie selbst nicht erklären, aber ich kann erklären, dass sie auf verschiedene Weise bestimmte Emotionen hervorrief, wie weinen, lieben, da zu sein, und über sich selbst auf eine Weise nachzudenken, auf die man noch nie über sich nachgedacht hat.

Jesse: Also ist Energie für dich eine Art Lebenskraft. 

Marina: Aber du kannst auch darüber sprechen, wie die Wiederholung ein und derselben Aktivität, die man immer und immer wieder macht, eine unglaubliche Kraft entwickelt. Dasselbe immer aufs Neue zu wiederholen, schafft in dem Viereck mit den vier Lampen eine Art besonderer Zone. Und in dieser Zone herrscht, wenn du sie betrittst, eine andere Energie. Deshalb kamen die Leute für fünf Minuten und konnten 40 Minuten später nicht glauben, dass wirklich 40 Minuten vergangen waren. Der Raum wurde durch die Wiederholung mit dieser Art Energie aufgeladen.

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Jesse: Ist das auch das, was du in Hudson, New York, machst?

Ja, ihr müsst euch auf dem Rückweg unbedingt das Gebäude in Hudson ansehen. Es liegt auf dem Rückweg nach New York auf eurer Strecke. Es ist so ein riesiges Gebäude mit Säulen.

Jesse: Ich glaube, ich weiß, von welchem Gebäude du redest. Wann wird es eröffnet und was wird dort passieren? 

2012. Bis dahin muss ich genug Geld zusammenbekommen, um es zu renovieren und schlichter zu machen. Ich möchte mit Video, Musik, Theater, Tanz, Performance und Kino anfangen, aber nur mit Auftragsarbeiten von jungen Künstlern oder von bekannten Künstlern, die noch nie eine Performance gemacht haben, es sich aber vorstellen können—wobei die minimale Dauer sechs Stunden ist. Alles muss eine lange Aufführungsdauer haben; es ist eine Institution für lange, so genannte Durational-Performance-Arbeiten. Ich hatte eigentlich vor, Stühle zu bauen, die man zu Betten umbauen kann, damit man zehn Stunden durchhält. Wenn man schlafen will, gibt es eine Decke. In der einen Lehne ist ein kaltes Getränk und in der anderen eine heiße Mahlzeit. Also muss man den Stuhl nie verlassen.

Jesse: Wie ein vorgefertigtes Leben. 

Du bist die ganze Zeit in der Arbeit, sogar wenn du schläfst. Das ist es, was ich damit erreichen wollte. Das hier ist eine sehr wichtige Gegend, weil das Bard College, das MASS MoCa und das Dia Beacon hier sind. Und außerdem kann sich die Columbia University eine Zusammenarbeit vorstellen. Wir haben schon so viel Interesse generiert, also ist es der richtige Moment, um das weiterzuentwickeln.

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Jesse: Dieser Teil des Hudson Valley ist eine Art Epizentrum des Kunstlebens außerhalb New Yorks. Ich habe mich wahnsinnig gefreut, als ich den Katalog der MoMA-Ausstellung las und sah, dass du einen Text von Alexandra David-Néel mit reingenommen hast. Ich liebe sie. Ich finde sie toll. 

Ich auch, sie und Madame Blavatsky mag ich am meisten. Ich liebe es, wie Blavatsky zu den Kerzen geht, um nach der Wahrheit zu suchen.

Jesse: Das ist echt gut. Und die Fotos von Alexandra David-Néel in ihrer vollen viktorianischen Forscherkluft. Wie bist du auf sie gestoßen? 

Ich habe mich von Anfang an, noch vor dem tibetischen Buddhismus, für Philosophie interessiert. Also las ich viel über Madame Blavatskys automatisches Schreiben. Sie war Deutsch-Russin, lebte in London und war mit David-Néel befreundet.

Jesse: Hast du dich mit ihr identifiziert? Hat sie dich inspiriert? 

Ja, das hat sie. Das hat sie wirklich. Ich lasse mich nicht von anderen Künstlern inspirieren, weil andere Künstler ihre Inspiration ja selbst schon aus etwas beziehen, und es daher sozusagen eine Inspiration aus zweiter Hand wäre. Sachen aus zweiter Hand interessieren mich nicht.

Jesse: Schon vorgekaute Sachen. 

Reisen und die Natur sind wichtige Inspirationsquellen für mich. Alles, was mit, wie ich sie nenne, „Krafträumen“ zu tun hat: Wasserfälle, Erdbeben oder Vulkane und andere unglaubliche, geballte Energien. Arizona, mit seinen Kakteen, ist einfach ein mystischer Ort.

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Jesse: Da herrschen große Kräfte. 

Unglaubliche Kräfte. Du musst dich an einem solchen Energieort einfach nur aufhalten und schon fängst du an, einfach zu sein und deine eigenen Erfahrungen zu machen. Ich liebe diese Sachen, wie z. B. dass Felsen ein eigenes Gedächtnis haben. Also gehst du in eine Landschaft und hast eine Vision. Und jemand anderes geht in diese Landschaft und hat dieselbe Vision, weil die Idee in der Landschaft selbst steckt.

Jesse: Es steckt im Felsen. 

Ich habe ein Jahr lang mit den Aborigines in der australischen Wüste gelebt. Und dort habe ich eine Menge Dinge gesehen; ich habe die unglaublichsten Dinge erlebt. Sie haben einen zusätzlichen Wahrnehmungssinn. Sie können auf Ektoplasma laufen, ohne den Boden zu berühren. Ich bin bei den Stämmen gewesen. Ein ganzes Jahr ist eine lange Zeit. Das hat mein Leben verändert. Es hat mein Leben komplett verändert. Die Aborigines sind Menschen, die schon mit dieser Fähigkeit geboren werden. Wir müssen die Technik üben, um an diesen Punkt zu kommen, aber die Aborigines müssen das nicht. Sie müssen überhaupt nichts tun.

Jesse: Und was ist mit uns?

Oh, wir sind absolut erbärmlich. Wir sind Krüppel, weil die Technologie uns von dieser Art Wahrnehmung abgeschnitten hat.

Jesse: Wir haben die Technologie zu einer Krücke gemacht. 

Sie sagen über uns: „Die armen Weißen, sie haben nicht mal ihren eigenen Traum.“ Denn sie haben ihren eigenen Traum; sie sind mit der Natur verbunden. Alles ist mit allem verbunden. Durch unseren urbanen Lebensstil, weil wir die Böden mit Beton und Parkett zukleistern, wissen wir nicht mehr, wo die genetischen Linien verlaufen. Wir können die Energie des Planeten nicht mehr anzapfen.

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Jesse: Es scheint aber so, als gelänge dir das ein Stück weit in deinen Arbeiten. 

Meine Arbeit verändert mich, weil ich mir meine Ziele dabei so hochstecke, fast unerreichbar hoch, und ich gehe dann durch sie hindurch und das verändert mich. In meinem eigenen Leben gehe ich immer den einfachsten Weg, wie alle anderen auch. Aber damit kommt man nirgendwo hin.

Jesse: Sind die Gefahr und der Schmerz in deiner Arbeit Mittel, um die Gegenwart zu verstärken? 

Nein, es geht eher darum, die physischen Grenzen des Körpers zu verstehen. Es hat mich sehr interessiert zu sehen, wo diese Grenzen liegen. In den Anfangsphasen dieser Performancearbeiten ging ich oft in Krankenhäuser, um mir Operationen anzusehen. Das Hirn, die Hüfte—ich sah mir das drei oder vier Stunden lang an. Sie benutzen Sägen und Drähte, sie benutzen alles und testen so die körperlichen Grenzen aus. Und zu einem späteren Zeitpunkt in meinem Leben begann ich mich durch diese Performances sehr für mentale Grenzen zu interessieren, was, glaube ich, sehr viel schwieriger ist. Alle sagen immer: „Oh, sie macht keine so schwierigen Arbeiten mehr.“ Aber das stimmt nicht. Die anderen waren kurz, ich konnte ein Stück in ein, zwei Stunden machen, und mich dann sechs Monate lang ausruhen.

Jesse: Ja, und außerdem ist körperlicher Schmerz auch leichter festzu­machen. Psychische Schmerzen sind abstrakter und schwerer zu konfrontieren, oder? 

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Ja, absolut. Weil man es in gewissem Sinne mit einem Material zu tun hat, das man nicht wirklich kennt.

Jesse: Du hast gesagt, dass du um 1989 herum das Bedürfnis nach Veränderung hattest, nach Lachen, Genuss und Glamour. 

Ja, ja. Habt ihr meinen neuen Riccardo Tisci gesehen?

Jesse: Nein. 

Er hat dieses Dinner für mich veranstaltet. Habt ihr die Kleider gesehen und all die Sachen?

Jesse: Oh, du meinst die Feier? Die Finissage der MoMA-Ausstellung? Ja. Du siehst sehr glamourös aus. 

Gott, er hat echte Haute Couture für mich gemacht. Ich sah noch nie so toll aus.

Jesse: Wie fühlst du dich, wenn du so etwas anhast? 

Ich liebe es. Weißt du, die meisten Künstler wollen sich der Öffentlichkeit auf eine bestimmte Weise präsentieren. Als wären sie schüchtern. Nach dieser Arbeit mit der Chinesischen Mauer, die ich mit Ulay machte—

Jesse: Nur für die, die das nicht wissen—das war deine letzte Arbeit mit Ulay. Ihr habt beide an unterschiedlichen Enden der Chinesischen Mauer angefangen und seid aufeinander zugelaufen, bis ihr euch traft. 

Genau. Ich hatte den Eindruck, dass man mich wahrscheinlich immer als sehr skeptisch und taff darstellte. Ich hatte das so satt, weil ich ja auch eine andere Seite habe. Ich liebe schlechte Witze. Ich kann die schmutzigsten Witze erzählen. Ich liebe es, endlos Pralinen zu essen. Ich liebe Glamour.

Jesse: In deiner Arbeit wirkst du tatsächlich eher asketisch. 

Es gehört alles zusammen. Und ich denke, dass die Leute mich wegen dieser menschlichen Seite viel besser verstehen können. Denn jeder birgt ja Widersprüche in sich. Aber die Leute schämen sich, sie zu zeigen.

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Jesse: Ich denke, dass Künstler, die gerne als Leute aus der Arbeiterklasse gesehen werden wollen, sich einfach ein wenig dafür schämen, mit Kunst Karriere zu machen. Lass uns ein wenig über The Artist is Present sprechen. Wie hast du dich gefühlt, als es zu Ende war? 

Hast du das Ende gesehen?

Jesse: Ja. 

Es war unglaublich.

Jesse: Der Applaus dauerte 15 Minuten. 

Sechzehn, hat man mir gesagt. Und sie haben nur aufgehört, weil sie lachen mussten. Dann tauchte mein Exmann auf und küsste mich. Und ich machte nur [schnappt nach Luft]. Er hat mich vor zwei Jahren verlassen und ich liebe ihn immer noch. Also war dieses Ende sehr emotional für mich.

Jesse: Was ging in dir vor, wenn jemand, der dir gegenübersaß, anfing zu weinen? 

Manchmal weinte ich mit ihnen, weil du diese bedingungslose Liebe für sie entwickelst, was einem komplett Fremden gegenüber wirklich unglaublich ist—bei Leuten, die du noch nie zuvor gesehen hast. Einmal sah ich diesen riesigen Mann. Er war ein Biker oder so etwas. Er setzte sich auf den Stuhl und war extrem wütend. Zehn Minuten später weinte er. Aber ich rede hier nicht von ein bisschen Weinen; ihm liefen die Tränen in Strömen übers Gesicht. Er war einfach unglaublich. Ich musste weinen. Ich meine, es gab einfach sofort diese Reaktion. Ich weine übrigens sowieso sehr viel, weil es in New York so viel Leid und Einsamkeit gibt. Es ist unbegreiflich.

Jesse: Ja, es gibt in New York viele innerlich gequälte Menschen. 

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Und die Leute sind es nicht gewöhnt, einander in die Augen zu schauen. Es ist unglaublich, wie einfach dieses Konzept war.

Jesse: Fremden in die Augen zu schauen wird normalerweise als eine Art Herausforderung angesehen. Wie im Tierreich, wenn sich z. B. zwei Hunde anzustarren beginnen. 

Wenn ich durch muslimische, arabische Länder reise, habe ich mir angewöhnt, Blickkontakt mit Männern zu vermeiden. Denn wenn er dich nett anblickt, gehörst du ihm. In dem Moment, wo er deinen Blick erhascht, setzt ein Konzept von Eigentum ein, was wirklich unvorstellbar ist.

Jesse: Dann gibt es noch diese Wettkämpfe, wo es darum geht, wer dem anderen länger in die Augen schauen kann. 

So ist es nur am Anfang. Nach einer Weile sitzt du einfach da und beginnst einen gedanklichen Prozess und bald siehst du mir gar nicht mehr wirklich in die Augen. Du schaust in Wirklichkeit … du kannst in dich selbst hineinschauen. Es ist etwas ganz anderes. Ich schaffe die Bühne und ein paar Regeln. Und alles andere, was dann passiert, hängt von dir ab. Es löst all diese Gefühle aus und Gefühle sind überwältigend. Und während der letzten Woche der Ausstellung warteten die Leute wirklich stundenlang. Das Museum schloss um halb fünf und diejenigen, die den ganzen Tag dort blieben, aber nicht an die Reihe kamen, gingen einfach raus an die Ecke und warteten bis zum nächsten Tag, was wirklich verrückt ist.

Jesse: Das ist unglaublich. 

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Aber das Warten ist natürlich auch ein Teil des Prozesses.

Jesse: Ja, so kam es mir vor, als ich dort war. Eine Frau saß bei dir. Sie trug dieselben Sachen wie du, nur, dass sie schwarz waren und nicht weiß. Sie trug auch die Haare wie du. Ich fand das ein bisschen dämlich. Und dann blieb sie stundenlang bei dir. Ich dachte, ich wäre sicher sehr wütend, wenn ich hinter ihr warten würde. Aber dann wurde mir klar, dass das natürlich dazugehört. 

Irgendwann gibst du auf. Und dann passiert etwas anderes und es spielt keine Rolle mehr, ob du in dem Stuhl sitzt, oder nicht. Ich habe mich durch diese Ausstellung in so vieler Hinsicht verändert. Ich bin wirklich ein anderer Mensch geworden. So viele Dinge ärgern mich einfach nicht mehr. Ich verspüre keine Wut mehr. Es ist unglaublich.

Jesse: Denkst du, dass das so bleiben wird? 

Ich hoffe schon.

Jesse: Kannst du dich an diese Frau erinnern?

Oh ja. Sie trug das gleiche Kleid wie ich, nur in schwarz, und ich trug weiß. So entstand ein seltsames Bild, wie in diesem Bergman-Film, Das siebente Siegel.

Jesse: Wo Max von Sydow mit dem Teufel Schach spielt, ja. 

Ja, er spielt Schach mit seinem eigenen Tod. Und so wirkte das auf mich. Und dann dachte ich über Mozart nach. Vor seinem Tod war er sehr krank und hatte hohes Fieber und keinen Pfennig Geld. Und dann tauchte dieser seltsame Mann auf, ganz in schwarz. Und gab ihm diesen Umschlag mit einer Menge Geld darin und sagte: „Mein Meister hat mich geschickt, um dich zu beauftragen, ein Requiem zu schreiben.“ Also schreibt er dieses Requiem und wundert sich, warum dieser Meister nie auftaucht, oder sich nach dem Fortgang der Arbeit erkundigt, und er hat auch immer noch die ganze Zeit Fieber. Und am Ende hat er das Requiem bekanntermaßen ja nicht fertig gekriegt. Also fing er an zu halluzinieren, dass dieses Requiem für seinen eigenen Tod wäre und dass der Meister, der es bestellt hat, der Tod selbst war. Also dachte ich eine ganze Weile darüber nach, während ich da saß. Vielleicht hat mich mein eigener Tod besucht. Aber darüber denke ich oft nach. Denn in der amerikanischen Kultur haben alle so eine Angst vor dem Sterben. Und alles, was etwas mit dem Sterben zu tun hat, wird versteckt. Du musst ewig jung sein, du darfst nicht altern, all diese Sachen. Aber für mich muss der Tod ein Teil des täglichen Lebens sein, denn nur, wenn man versteht, dass er einen jederzeit ereilen kann, kann man das Leben genießen.

Jesse: Das ist etwas, das ich dich fragen wollte. Ich habe mich gefragt, ob der Gedanke der Sterblichkeit etwas damit zu tun hat, dass du in deinen Arbeiten so viel über Zeit nachdenkst. 

Oh, darum geht es in so vielen Arbeiten. Ich denke immer darüber nach, dass du in der Arbeit von jedem Künstler sehen kannst, wie er sterben wird. Es ist wirklich seltsam.

Jesse: Wie meinst du das?

So viele Künstler sterben auf dem Klo. Aber dann ziehen die Leute sie wieder an und sagen, dass sie in ihrem Atelier gestorben sind. Es ist verblüffend. Ich habe es sogar recherchiert—wie viele Künstler auf dem Klo gestorben sind.

Jesse: Sag mal ein paar Namen. 

Oh, es gibt einen Haufen Namen. Ich habe sie irgendwo aufgeschrieben. Aber wir belassen es einfach dabei. Lass uns nicht die Bedeutung dieser Künstler schmälern.

Jesse: Die Leute werden es selbst recherchieren müssen. 

Wenn ich über meinen eigenen Tod nachdenke, ist das Wichtigste für mich, bei vollem Bewusstsein zu sterben. Im Bewusstsein glücklich zu sein, nichts zu bereuen, über nichts wütend zu sein. Das ist unglaublich wichtig. Die Sufis sagen, dass „das Leben ein Traum ist und der Tod das Erwachen“, also würde ich gerne so glücklich wie möglich aufwachen. Aber weißt du, eine meiner Großmütter ist 103 Jahre alt geworden. Und ihre Mutter 116.

Jesse: Dann hast du noch eine Weile. 

Ich werde im November 64! Das ist ein ernsthaftes Alter. Aber ich fühle mich überhaupt nicht so.