São Paulo brennt

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São Paulo brennt

Seit Anfang Juni sind die Straßen von Sao Paulo Schauplatz einiger harter Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten, die gegen die steigenden Kosten von öffentlichen Verkehrsmitteln protestieren. Wir haben Fotos und Videomaterial dazu.

Während des brasilianischen Nationalen Freifahrtstags 2012, einer Massendemonstration gegen die steigenden Fahrtkosten für öffentliche Verkehrsmittel, warnte die Bewegung für Freifahrten (MPL) bereits, dass sie São Paulo zum kompletten Stillstand bringen würde, wenn die Preise weiterhin steigen. Tja, der Ticketpreis stieg am 1. Juni dieses Jahres um 0,20 brasilianische Real (0,07 Euro), also rief die MPL wie versprochen zum Protest auf. Seit der ersten Demo am 6. Juni wurden die Straßen von São Paulo immer wieder zum Austragungsort chaotischer Clashes von Polizei und Studenten. Allein in der Woche danach folgten drei weitere Märsche.

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Wir gingen zur ersten Demo vor der Stadthalle um 16:30 am Donnerstag, den 6. Juni. Die Sonne ging gerade unter, als sich die Demonstranten versammelten. „Tanz, [Bürgermeister Fernando] Haddad, tanz in den Boden. Wir sind das Volk, das sich gegen die steigenden Buspreise versammelt hat“, war einer der ersten Rufchöre der Menge. Der Beat von selbstgemachten Farbeimer-Trommeln folgte. Der Bürgermeister wurde in fast allen Songs angegriffen. Einer sagte: „Haddad, du Arschloch, senk den Ticketpreis.“ Ein Mädchen mit Megafon rief: „Goiania, Natal und Rio de Janeiro haben heute die Straßen übernommen. Und jetzt machen wir einen Spaziergang in die Innenstadt.“ Als die Menge erst mal eine kritische Masse erreichte, marschierte der Protestzug der MPL durch das Stadtzentrum, schreiend und skandierend, und zog immer mehr Sympathisanten an.

Ich war schon bei vielen Demos, aber ich habe noch nie etwas so Dichtes und Furchtloses gesehen. Selbst bei anderen Protestaktionen in São Paulo waren nicht so viele Anarcho-Punks in der Menge wie dieses Mal. Es gab einen gewaltigen schwarzen Block. Als wir zum Büro des Bürgermeisters kamen, schrie die Menge: „Haddad, du Hurensohn, die Ticketpreise sind verrückt.“ Auf dem weiteren Weg bekamen einige Geschäfte und Wände das „A“-Emblem der Anarchisten verpasst.

Als wir zur Prestes Maia Avenue kamen, dachte ich, wir wären auf dem Weg zur U-Bahnstation Anhangabaú. Stattdessen begannen die Leute, auf die 23 de Maio Avenue zu laufen. Hier wurde die Sache langsam schmutzig. Der Verkehr, der aus dem Tunnel kam, brach (klarerweise) zusammen. Zwei Spuren der Autobahn wurden von Demonstranten übernommen. Mit Flaggen und Bannern der MPL in den Händen brachte der Protestzug die Stadt um 18:40 Uhr tatsächlich zum Stillstand. Dann tauchte die Polizei auf, die zuvor nur stiller Beobachter gewesen war. Ich sah Spezialeinheiten, die die normale Polizei schützten.

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Um 18:53 Uhr explodierten die ersten Bomben. Als nächstes kam die Militärpolizei und während einige überlegten zu fliehen und andere „Lasst uns verdammt noch mal hier bleiben“ schrien, entstanden die ersten Feuerbarrikaden auf der Autobahn. Gummigeschosse flogen in unsere Richtung. Die Straße sah aus wie in einem Kriegsfilm. Leer, düster, vereinnahmt von Feuer und Nebel. Eine alte Putzfrau wurde von einem Stück Glas im Auge getroffen. Die U-Bahn schloss an diesem Tag um 21:04 Uhr (normalerweise hat sie bis Mitternacht geöffnet). Ein Mädchen erzählte, sie wäre von der Polizei Nigger genannt worden. Ein Typ hatte ein blutendes Gesicht und ich schaffte es irgendwie, mitten im Chaos dieses Video aufzunehmen:

Laut Polizeiangaben nahmen 2.000 Menschen an der Demonstration teil, 15 wurden verhaftet. Auch wenn die Mainstream-Medien diesmal spezifisch die MPL erwähnten und nicht nur von „randalierenden Studenten“ sprachen, wurde der eigentliche Kampf doch als Vandalismus von einigen Punks abgetan. Ich denke, die Auseinandersetzung kann einerseits durch die massive Präsenz von Anarcho-Punks erklärt werden; andererseits könnte auch die Polizeireaktion auf die Blockade der 23 de Maio damit zu tun haben. Oder vielleicht beides.

Der zweite Protest fand am nächsten Tag, also Freitag, den 7. Juni, statt und fiel etwas milder aus, weil die Spezialeinheiten mit ihren unmenschlichen Methoden schneller einschritten. Sobald die Demonstranten einen der wichtigeren und chaotischeren Highways, den Pinheiros, einnahmen, wurden Tränengasbomben ohne jede Gnade auf die Meute losgelassen. Wieder einmal stand die Stadt still. Geschwächt durch die Polizeigewalt löste sich der Protestzug langsam auf. Am zweiten Tag schätzte die Polizei die Teilnehmerzahl auf 5.000, im Gegensatz zu ganzen 15.000 am dritten Tag.

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Der dritte Protest der Woche fand an der Paulista-Allee statt. Nachdem die Demonstranten alle mehr als genug Gas geschnüffelt hatten, verteilten einige von ihnen Masken. Während sich die Menge formierte, verhandelte ein MPL-Mitglied die Route des Protests mit Colonel Marcelo Pignatari, der an diesem Tag für die Sicherheit zuständig war. Er versicherte der MPL und der Menge, dass die Spezialeinheiten an den vereinbarten Punkten nicht auf sie warten würden und alles bestens wäre, wenn sich die Demonstranten nur anständig verhalten würden.

Der Zug ging über die Consolação-Straße, wo die Leute schrien und skandierten und Menschen am Gehsteig aufriefen, mitzuziehen. Die Polizei stand allerdings schon mit Waffen bereit und formte ein menschliches Schild gegen die Masse. Weitere Straßen wurden von Demonstranten eingenommen und laut MPL stieg die Teilnehmerzahl auf 20.000. Es begann zu regnen und der Chor sang: „Kommt in den Regen und kämpft gegen den Anstieg.“ Im Stadtzentrum angekommen, wurden zwei Busse mit Steinen beworfen und angezündet. Da ich bereits den dritten Tag in Folge dabei war, verwunderte es mich, wie lang es dauerte, bis die Polizei in Aktion trat. Und dann bingo: Bomben und noch mehr Bomben am Himmel, die auf jeden abzielten, der ihnen im Weg stand. 20 Personen wurden verhaftet, darunter Studenten und Journalisten. Die Polizei verkündete, sie würde die Vandalen jetzt auch im Netz suchen.

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Am Donnerstag vergangener Woche informierte uns die Staatsanwaltschaft, dass sie beim Bürgermeister und Gouverneur anregen würden, die Ticketpreise für öffentliche Verkehrsmittel wieder auf den ursprünglichen Preis von 3 brasilianischen Real (0,34 Euro) zu senken: zumindest für eine Dauer von 45 Tagen, um die Proteste der MPL abflauen zu lassen. Die letzte Demo war ein Protest, aber laut MPL würde die nächste eine Feier werden, wenn die Preise tatsächlich zu ihrem Wert von vor den Unruhen zurückkehren würden. Diese Feier wurde inzwischen von massenhaft Polizei und nicht viel weniger Gewalt begleitet. Ich habe via Social Media gelesen, dass die Polizei jeden Verdächtigen in U-Bahnstationen durchsucht und die Straßen rund um die Stadthalle stark bewacht. Also den Ort, wo alles begann, als ich hier ankam.

Hier ist ein Video von den Demonstrationen am Donnerstag: