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Sind Videos von ausgedrückten Pickeln die neuen Pornos?

Videos von geplatzten Eiterherden und Ohrenschmalzentfernungen erfreuen sich bei YouTube einer großen Beliebtheit. Aber was steckt hinter diesem Phänomen und warum können wir damit nicht mehr aufhören?
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Deine Finger sind wirklich vielfältig einsetzbar—zum Beispiel kannst du damit Pickel ausdrücken. Alternativ kannst du auch deine Fingernägel, speziell dafür gedachte Werkzeuge, Skalpelle, Scheren oder alle anderen deiner Meinung nach passenden Hilfsmittel einsetzen, um überschüssigen Dreck aus deinem Körper zu bekommen.

Wir alle tun es. Egal ob es nun das schnelle Ausdrücken eines Mitessers auf der Nase, ein langes, dünnes und vor allem eingewachsenes Haar in deiner Bikinizone oder ein fast platzender Eiterpickel ist—irgendetwas gibt es an unserem Körper immer zu tun. Allerdings findet diese Pflege nicht immer nur vor dem eigenen Badezimmerspiegel statt. Inzwischen gibt es auf YouTube Millionen Videos, in denen man sieht, wie Pickel, Zysten oder Mitesser ausgedrückt werden. Diese Videos werden auch millionenfach angeschaut—dieses Exemplar mit dem Titel „Best Pimple Pop Ever" hat zum Beispiel schon über 22 Millionen Klicks angesammelt (wenn du in den letzten sieben Tagen etwas gegessen hast oder es bald wieder etwas essen willst, dann solltest du den Link lieber nicht anklicken). Das sind eine Menge Eiter-Junkies.

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Allerdings toben sich hier nicht nur Amateure aus (auch wenn das Bild einer ganzen Familie, die gespannt und angeekelt dabei zusieht, wie die Mutter jahrzehntealten Talg aus Vaters Rücken befördert, wirklich ein Genuss ist). Es gibt auch eine ganze Arzt-Community, die das Ausdrücken filmen. Dr. Vikrim Yadav sollte jedem Extraktionsfan schon ein geläufiger Name sein. Der indische Dermatologe ist in Fachkreisen auch als „The King of Blackheads" bekannt und kann 168 Millionen (!) YouTube-Views vorweisen. Seine Videos bestehen zum Großteil aus den Nahaufnahmen vom Ausdrücken schwarzer Mitesser auf den Nasen alter Inder. Sein beliebtestes Video „Black & White Heads on Nose Part 3" wurde schon 18 Millionen mal angesehen. Der Mann ist ein Star.

Allerdings sind nicht alle der neuen YouTube-Berühmtheiten Eiterkönige wie Dr. Yadav. Es gibt auch Leute wie Nick Chitty, ein freundlich aussehender, schnurrbärtiger Audiologe aus England. Zusammen mit einer Kamera führt er einen „zuverlässigen Komedonenquetscher"—auch als Ohrkürette bekannt—ins Ohr seiner Patienten ein und sagt dem dort festsitzenden Ohrenschmalz den Kampf an. Dich schüttelt es beim Lesen dieser Beschreibung vielleicht, aber 3,5 Millionen Klicks lassen den Eindruck entstehen, dass ziemlich viele Menschen die Ohrenschmalzentfernung ziemlich sexy finden. Eineinhalb Millionen dieser Klicks entfallen auf sein Meisterwerk „Ear wax removal Unbelievable what comes out". Darin benutzt er das kleine Metallinstrument, um einen unglaublich großen, bernsteinfarbenen Klumpen aus dem Ohr eines alten Mannes zu holen. Chitty macht das Ganze jedoch auch nicht mehr nur für sich selbst—seine Schar an Fans verlangt nach regelmäßigen Updates.

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„Ich muss immer neue Videos liefern, sonst bekomme ich patzige Nachrichten von Leuten, die mehr wollen", erzählt er mir. „Mir wird gesagt, dass ich nicht schnell genug nachkomme."

Wenn sich das für dich jetzt wie das Verhalten eines Typen mit heruntergelassener Hose beim Anschauen einer Live-Webcam-Show anhört, dann liegt das wohl daran, dass es irgendwie so ist. „Manchmal haben die Video-Anfragen einen sexuellen Touch", sagt Chitty feierlich. Die Besessenheit einiger Zuschauer überschreitet aber auch gewisse Grenzen. Der Audiologe erzählt mir von einer Frau, die ihm nachahmte. Dabei blieb die Spitze eines Wattestäbchens in ihrem Ohr stecken. Wie hat sie reagiert? Natürlich nahm sie die zweistündige Fahrt auf sich und ließ Chitty den Fremdkörper entfernen.

Wir lieben es, an uns herumzudrücken und zu -quetschen. Unsere Körper sind—trotz des schlauen und komplexen Gehirns, das uns so brillant und leistungsfähig macht—doch nur Hüllen für verschiedene Organe. Unter (oder sogar auf) der Haut sind wir alle ekelhaft. Ich bin mir sicher, dass die prüdesten Menschen—also die, die beim Lesen dieses Artikels „Wie widerlich ist das denn?" rufen—auch die Menschen sind, die Stunden in gebückter Haltung verbringen, um ein hartnäckiges, eingewachsenes Schamhaar zu entfernen. Wir sind halt Affen. Wir pflegen gerne unsere Körper. Aber warum zum Teufel schaut so ein großer Teil der Bevölkerung mit Begeisterung dabei zu, wie andere Leute ekliges Zeug aus ihren Körpern drücken?

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Die Autorin Sali Hughes hat gerade das Buch Pretty Honest veröffentlicht, in dem sie Tacheles über nachvollziehbare Beauty-Probleme redet. Sie hat sich noch keines der besagten Videos angeschaut, versteht aber den Anreiz. „Das Ausdrücken von Pickeln ist sowohl für den Protagonisten als auch für die Zuschauer extrem befriedigend. Für mich ist es jetzt nicht überraschend, dass diese YouTube-Videos so oft angesehen werden. Ein richtig schönes Ausdrücken kommt im echten Leben einfach zu selten vor, um einen Junkie dauerhaft zufrieden zu stellen. Das Entfernen von kleinen Holzsplittern kann meiner Meinung nach einen ähnlichen Kick verursachen", sagt sie. „Extraktionen sind auch bei den Putzteufeln und Ordnungsfanatikern unter uns sehr beliebt. Dabei wird Bakterien der Garaus gemacht, Druck abgebaut, Unbehagen gestoppt und dann das ganze ekelhafte Zeug weggewischt, als wäre da nie etwas gewesen."

Hughes Vergleich von Eiterliebhabern mit Junkies trifft den Nagel auf den Kopf. Wenn du zu den Drückern und Quetschern gehörst, dann kann sich dein Verlangen nach der Säuberung deines Körpers zu einer regelrechten Sucht entwickeln, der du dich dann nicht mehr entziehen kannst. Dr. Frederick Toates, ein Professor für Biopsychologie an der Open University in England und Autor eines Buches über Zwangsneurosen, erklärt es so: „Noch ist es unklar, wieso man überhaupt mit dem Ausdrücken von Pickeln, dem Entfernen von Ohrenschmalz und so weiter anfängt. Forschungen haben jedoch ergeben, dass diese Art des aggressiven Verhaltens gegen sich selbst einen Endorphinschub auslöst. Diese Endorphine sind dann die Belohnung oder Bekräftigung."

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Was die von Chitty angesprochene sexuelle Komponente betrifft: Nun, Dr. Toates bestätigt, dass solche Handlungen „so spannungslösend wie ein Orgasmus wirken können."

Eiterwürmer, die aus geweiteten Poren herauskommen, das Herumdrücken an eingewachsenen Haaren oder überschüssiger Ohrenschmalz im Gehörgang—all das führt nicht nur zu einem Hormonrausch, sondern laut Dr. Toates auch zu einem Gefühl von Selbstbestätigung. „Damit wird das Grundbedürfnis nach Kontrolle und Leistungsfähigkeit angesprochen. Wenn wir diese Bedürfnisse nicht zufriedenstellend in der Außenwelt befriedigen können, dann kompensieren wir das durch komische Dinge wie Selbstverletzung oder auch nur dem Spielen mit unserem Haar."

Auch wenn das Ausdrücken von Pickeln oder das Zuschauen einem Orgasmus nahe kommen kann, ist damit oft auch ein Schuldgefühl verbunden. Fans von Videos wie „Huge Cyst Extraction" (davon gibt es ganze 32 Millionen) werden mit ihrer Vorliebe wohl kaum hausieren gehen.

Die Schuld, der Zwang zum und das Voyeuristische sind sowohl Faktoren beim Ausdrücken von Pickeln als auch beim Zuschauen. Forschungen im Bereich Glücksspiel (ein weiteres Zwangsverhalten, mit dem nur etwas mehr Geld gemacht wird) haben gezeigt, dass körperliche Handlungen wie das Bedienen einen einarmigen Banditen oder das Würfeln die Spieler in den so genannten Zwangskreislauf fallen lassen.

Der Spieler denkt so nicht nur, dass er mit wenig Aufwand viel erreicht (zum Beispiel Knopf drücken = Geld), die Aussicht auf das Ergebnis—verstärkt durch die Unberechenbarkeit—sorgt auch für einen Dopamin-Anstieg. Das eigentliche Resultat ist dann nur selten wirklich zufriedenstellend, verleitet aber trotzdem zum Weiterspielen. Genau von diesem „Kick" hat Hughes gesprochen. Deshalb verbringst du auch einen ganzen Abend damit, jede Pore deines Gesichts auszuquetschen und dabei zu hoffen, dass ein kleiner Pickel eine ausreichende Menge an weißer Körperflüssigkeit enthält.

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Die Zwangskreislauftheorie wurde auch schon auf Internetnutzer übertragen. Judith Donath, eine Medienwissenschaftlerin am MIT, sagt gegenüber dem Magazin Scientific American: „Diese Belohnungen wirken wie Energieschübe, die den Zwangsmotor weiter antreiben. Ein Beispiel hierfür ist die kurze Erregung, die ein Spieler verspürt, wenn eine neue Karte aufgedeckt wird. Dieser Effekt wird immer stärker und es wird immer schwieriger zu widerstehen."

Denk einfach an das letzte Mal, als du dich durch die 800 Facebook-Fotos eines Bekannten geklickt oder dich 20 Minuten lang durch Tinder gewischt hast. Dir war egal, welche Frisur oder wie wenig Tattoos er vor ein paar Jahren hatte. Der Reiz liegt darin, dass jeder Klick/Wischer ein neues Ergebnis bringt.

Die nachhaltigen Folgen des Ganzen sind jedoch schädlich. Das liegt nicht nur daran, dass es echt peinlich wird, wenn sich jemand deinen Browser-Verlauf ansieht, oder im Falle des Pickelausdrückens die schmerzhaften, halbrunden Abdrücke um die Mitesser bemerkt werden, aus denen nichts außer etwas jämmerlicher, klarer Flüssigkeit herauskam. Die Folgen sind schädlich, weil sich nichts wirklich ändert.

„Diese Gewohnheiten sind alles Arten, etwas erreichen, wenn man sonst keinen triftigen Grund hat, früh morgens aufzustehen", sagt Dr. Toates. Aua. „Die Videos und Verhaltensweisen unterstützen durch Stress ausgelöste Süchte. Wenn man im Leben keiner sinnvollen Aktivität nachgeht, dann wird das Ganze nur noch weiter verstärkt." Okay, ich hab schon verstanden. Ich sollte mal lange und angestrengt über mich selbst nachdenken.

Egal wie sehr du (oder ich) diese Videos auch liebst, im Grunde spiegeln sie nur deine Nutzlosigkeit wider. Kurzfristig sorgen sie vielleicht für etwas Freude und ein Hoch. Sie fördern aber womöglich auch das zwanghafteste alle Konsumverhalten. Und sie sind doch außerdem einfach nur ekelhaft, oder?