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Sex

Keine Lesben mehr

Heterosexuelles Paar. Homosexuelles Paar. Transgender-Paar. Blah, blah, blah. Hier lieben sich zwei Menschen und sind aufrichtig glücklich.

Sadie sitzt mit übergeschlagenen Beinen in einem roten Kleid auf der Dachterrasse ihrer New Yorker Wohnung, nippt an ihrem Bier und diskutiert mit Marco, der sich gerade um den Grill kümmert, welche Kräuter und Gemüsesorten sie dieses Jahr pflanzen könnten. Sadie fragt in diesem gesungenen Tonfall, den Freundinnen manchmal anstimmen, um ihre Skepsis wie fürsorgliche Unterstützung klingen zu lassen:

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„Schatz, haben wir genug Kohle?“

„Das wird schon“, antwortet Marco eher in Richtung des kleinen Feuers, um das er sich gerade kümmert.

Sein Haar ist kurz geschnitten und seine Stimme ist wegen der Hormontherapie tiefer als früher.

Das Feuer brennt jetzt, klein aber beständig, das Hühnchen liegt auf dem Grill, und Marco kommt zu uns an den Tisch.

„Männer werden wie Scheiße behandelt“, sagt er. „Also, ich weiß, dass Frauen immer wie Scheiße behandelt werden. Aber als Mann, da rempeln dich die Leute einfach überall an. Du musst Türen aufhalten, aber niemand dankt dir dafür. Und du bekommst auch keine Komplimente, nie.“

„Ja“, zwitschert Sadie dazwischen. „Mädchen sagen sich ständig Dinge wie ,Oh Süße, du siehst so toll aus! Ich liebe dein Kleid! Warst du beim Friseur?‘“ „Ja“, sagt Marco und nimmt einen Schluck von seinem Bier. „Nichts davon.“ „Und das Händeschütteln hat mich anfangs fast umgehauen“, ergänzt er. „Frauen geben sich so die Hand.“ Er steht auf, um mir das zu demonstrieren. Er gibt mir ganz ruhig und normal die Hand. „Männer aber“, fährt er fort, „machen es so.“ Er greift meine Hand, reißt sie zu sich und zerquetscht mir mit einem finsteren Blick in den Augen meine Finger. Wir lachen über seine übertriebene Darstellung, die, wenn auch etwas ins Lächerliche verzerrt, gar nicht unrealistisch war. Es sind die kleinen Dinge, die ihn wahnsinnig machen, erklärt er uns, langsam würde er sich aber daran gewöhnen. Sadie arbeite ebenfalls daran, sich an diese Dinge zu gewöhnen. Sadie nennt sich selbst eine fehlgeschlagene Lesbe. Sie hatte in ihrem Leben mit drei Frauen Sex, und diese seien jetzt alle in verschiedenen Stadien einer Umwandlung zum Mann. Das schließt auch ihre aktuelle seit zweieinhalb Jahren währende Beziehung mit Marco ein. Als Sadie sich in Marco verliebte, war er eine Frau. Erica. Plötzlich fand sich Sadie also im Alter von 25—als sie gerade gedacht hatte, eine ziemlich genaue Ahnung davon zu haben, wer sie ist, und sich auch damit angefreundet hatte, lesbisch zu sein—in einer ernsthaften heterosexuellen Beziehung mit einem Mann wieder. Und das nicht mit irgendeinem Mann, sondern mit einem, der sich unbedingt von jeglicher queeren Identität, die er mal hatte, distanzieren will und gleiches auch von Sadie verlangt. Sie befinden sich in der Schwebe zwischen ihren zwei Identitäten—sie sind noch kein durchschnittlich heterosexuelles Paar, aber auch kein lesbisches mehr.

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Sadie und Erica zuvor.

„Wenn ich daran denke, weswegen ich mich in Erica verliebt habe, dann war das nicht unbedingt ausreichend für eine langfristige Beziehung.“

„Sie hatte diesen Rockstar-Vibe. Sie spielte E-Gitarre in ihrer Unterwäsche. Sie war scharf“, sagt Sadie.

Erica war robust, mit Ecken und Kanten. Anfangs mochte Sadie das an ihr. Jetzt ist sie überzeugt davon, dass sie Ericas „Bad Boy“-Persönlichkeit, die sie so sexy und faszinierend fand, irgendwann über gehabt hätte.

Als Erica anfing, Testosteron zu nehmen, hatte Sadie Angst, sie könnte dadurch aggressiver werden, denn das ist ein häufiger Nebeneffekt.

„Als sie ein Mann wurde, wurde sie immer sanfter.“ Sadie spekuliert, dass Ericas Wut größtenteils aus dem Gefühl resultierte, sich im falschen Körper zu befinden. Mit ihrer Umwandlung kehrte ein innerer Frieden ein. Sie wurde eine zunehmend zufriedenere Person.

Als Kind betete Erica, dass sie zu einem Jungen heranwachsen würde, aber als sie stattdessen ein Mädchen wurde, entwickelten sich auch Depression und Wut. Die Mädchen an ihrer katholischen Schule haben sie als einen Tomboy mit kurzen Haaren schikaniert. Diese Erfahrung ist nicht ungewöhnlich: Einer 2011 vom NCTE (National Center for Transgender Equality) herausgegebenen Studie zufolge berichten 90 Prozent der transsexuellen Menschen von Misshandlungen und Belästigungen.

Als Erica zum ersten Mal darüber sprach, wie verwirrt sie sich fühlt und dass eine Umwandlung für sie in Frage kommt, waren sie und Sadie erst einige Monate zusammen, kannten sich aber schon drei Jahre. Sadie sagte, das wäre für sie keine große Überraschung gewesen—sie wusste, dass Ericas innerer Konflikt sie seit langem beschäftigte und in ihrer Kindheit eine Geschlechtsidentitätsstörung diagnostiziert wurde.

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Noch bis 1997 wurde jeder, der das andere Geschlecht annehmen wollte, als Transvestit eingestuft, was im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, einem Klassifikationssystem der American Psychiatric Association, als „sexuelle Dysfunktion“ gelistet war.

In der dritten Ausgabe dieses Buches, erschienen 1997, wurde Transvestismus dann in drei neue Unterklassen aufgeteilt. Die neuen Diagnosen hießen nun Transsexualismus, Störung der Geschlechtsrollenidentität in der Kindheit und Präadoleszenz und atypische Geschlechtsidentitätsstörung. Die Klassifizierungen wurden mit jeder Ausgabe neu debattiert und revidiert und werden auch für die aktuelle Ausgabe wieder überarbeitet, so Nicole Giordano, die Untersuchungen zur Geschlechtsidentität betrieben hat.

„Eine Desorientierung der Geschlechtsidentität oder eine sonstige Form der Abweichung von der Geschlechterrolle zu erleben, ist noch keine psychische Störung“, sagt Giordano. „Stattdessen ist die Abweichung der gesellschaftlichen Norm, die definiert, dass es zwei geschlechtliche Identitäten gibt, das, was zu Stress, Depressionen und Angstzuständen führt.“

Die NCTE-Studie von 2011 zeigt außerdem, dass Selbstmordversuche bei transsexuellen Mensch in den USA 26 Mal häufiger als im Landesdurchschnitt vorkommen.

Die Studie stellt jedoch auch fest, dass es fast unmöglich ist, verlässliche statistische Zahlen über die transsexuelle Community zu sammeln, da aufgrund des gesellschaftlichen Stigmas viele über ihre Erfahrungen schweigen.

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***

Erica zuvor.
Der erste Schritt der Umwandlung von Erica zu Marco bestand darin, sich die Haare abzuschneiden. Das war sehr bedeutend.
„Es war, als würde ich eine jahrelang getragene Maske abstreifen“, sagte Marco. „Ich war endlich nackt. Und ich wurde seit meiner Kindheit zum ersten Mal wieder gemobbt.“ Sadie und Marco erinnern sich an solche Ereignisse, es waren Abende, an denen sie zusammen ausgingen und irgendwo ein Fremder laut darüber nachdachte, ob Marco ein Mann oder eine Frau sei. Dieses Anglotzen konnte ihnen den Abend versauen. „Es war seltsam“, erzählt Sadie. „Ich hatte mittlerweile keine Probleme damit, dass wir in der Öffentlichkeit als lesbisches Paar auftreten, aber mich als Teil eines Transgenderpärchens zu zeigen, war mir unangenehm. Die Leute starrten uns an.“
Aber wenn man sich Marco jetzt ansieht, würde man nie auf die Idee kommen, er sei jemals eine Frau gewesen—er ist zwar ein bisschen klein, hat aber breite Schultern, einen kräftigen Kiefer und eine tiefe Stimme.

Am 2. Mai dieses Jahres hat er sich die Brüste entfernen lassen und sich damit des letzten für Außenstehende sichtbaren Anzeichens seiner Vergangenheit als Erica entledigt. Die Umwandlung untenrum—die finale OP—soll im Mai 2013 vollzogen werden.

Bisher war es immer Marco gewesen, der bei jedem Schritt, angefangen beim Abschneiden der Haare über die erste Testosteronspritze bis hin zur amtlichen Namensänderung, zuvor nervös gewesen war, während Sadie ruhig blieb und ihn unterstützte. Sie hat Marcos Hand gehalten, ihm versichert, dass alles gut gehen würde, ihn daran erinnert, dass es das ist, was er wollte, und dass er im Nachhinein glücklich sein würde. Nachdem Marco diese Hürden genommen hatte und aufgeregt und erleichtert war, war es Sadie, die anfing auszuflippen. „Während er sich beruhigte, tickte ich aus.“ Nun, da sich Marco wohler in seiner Haut fühlte und sich sicher war, das Richtige getan zu haben, sah sich Sadie mit ihren eigenen Gefühlen konfrontiert. Sie ging zur Therapie und musste sich eingestehen, dass diese ganze Erfahrung auch sie an ihre Grenzen gebracht hatte. Sowohl Sadie als auch Marco trauern um Erica, als wäre sie eine andere Person, die sie beide lieben und vermissen. Vor Kurzem kam Marcos Schwester zu Besuch und zeigte ihnen ein altes Video, in dem Erica zusammen mit ihrer Mutter ein Lied von Frankie Valli singt. „Es war genau die Erica, die ich damals kennengelernt habe“, erzählt Sadie, die sich daran erinnert, wie sehr sie ihre eigene Reaktion auf das Video überrascht hat. Sie war es gewohnt, über Erica zu sprechen oder Geschichten über sie zu hören. Während sie sich das Video anschaute, wurde ihr aber schlagartig bewusst, dass diese Person für immer fort war. Das war nicht einfach zu verkraften.

Sadie und Marco danach.
Sadie versuchte es bei einer Selbsthilfegruppe für Partner von Transsexuellen, wurde aber von dem, was sie dort erlebte, enttäuscht. „Ich hab versucht, aufgeschlossen zu bleiben, aber die Unterhaltungen drehten sich nur um die Kosten der Operation und die Bürde, die unsere Partner tragen mussten. Auf die Last, die wir als Partner eines Transsexuellen auf uns nehmen mussten, wurde kaum eingegangen. Nach Gleichgesinnten suchte ich auf diesen Treffen, um ehrlich zu sein, vergebens.“ Sie gab die organisierten Selbsthilfegruppen auf und suchte gezielt nach Menschen, die sich in einer ähnlichen Situation befanden und die sie entweder persönlich kannte oder von denen sie durch gemeinsame Freunde gehört hatte. „Es war schön zu hören, dass es tatsächlich Leute gab, die das Ziel dieser Reise, die mir zuerst unmöglich und endlos erschien, erreicht haben.“ Mit der Zeit freundete sich Sadie mit der Idee einer semi-heterosexuellen Beziehung ebenso an, wie Marco sich damit anfreundete, ein Mann zu sein. „Ich kann Zeit mit neuen Freunden verbringen und von meinem ‚Freund’ erzählen, ohne mir dabei wie eine Lügnerin vorzukommen“, sagte sie. Beide wollen Kinder und träumen von einer perfekten Zukunft in der Vorstadt. Sie denken darüber nach, wem sie es erzählen und wem nicht und ob sie vielleicht einfach vorgeben, eine ganz normale Familie zu sein. Sadie findet, sie müssen offen damit umgehen, falls sie es irgendwann ihren Kindern sagen wollen. Sie will ihren Kindern nicht sagen müssen, dass sie über die Vergangenheit ihres Vater schweigen sollen. Es ist nichts, wofür man sich schämen muss. „Ich hätte nie gedacht, eines Tages meinen Kindern erklären zu müssen, dass ihr Vater als Frau geboren worden ist.“ Sie haben vor, sehr offen mit ihren Kindern umzugehen und ihnen Marcos Vergangenheit so verständlich wie möglich zu machen. „Er will eine heterosexuelle Beziehung, aber ich habe das Gefühl, es auf diese Weise darzustellen, wäre unauthentisch. Wir sind kein heterosexuelles Paar. Sind wir einfach nicht.“ Auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt müssen die Beiden ein ungewöhnlich hohes Maß an Schmerzen durchleben. Aber wie sie so Händchen haltend auf ihrer wunderschönen Dachterrasse stehen, ähneln sie mehr einem Bilderbuchpaar als einer Anomalie. „Letztendlich geht’s uns besser als den meisten Paaren, die ich kenne“, sagt Sadie. „Wir sind glücklich, aufrichtig und wir lieben uns.“