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Welchen Einfluss hat Fotografieren auf unsere Erinnerung?

Ich bin eigentlich immer davon ausgegangen, dass meine Erinnerungen an Orte, Ereignisse, Gesichter und Momente durch das Fotografieren verstärkt wurden. Jetzt stellt sich allerdings heraus, dass es unser Gedächtnis eher sabotiert als verbessert.

Mach ein Foto; davon hast du mehr. Louvre-Besucher fotografieren die Mona Lisa. Foto via WikiMedia.

Schon bevor es möglich war, 4.000 Bilder auf dem iPhone mit sich herumzutragen, habe ich viel fotografiert. Mir gefiel die Vorstellung, durch Fotos eine langfristige Verbindung zwischen mir und der Welt herzustellen. Fotos sind Artefakte meiner Erfahrungen und unanfechtbare Zeugnisse meiner persönlichen Sichtweise.

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Auch wenn ich mich immer noch an eine romantische Begründung dessen klammere, was andere als fanatische Jagd nach Schnappschüssen bezeichnen, regt mich die Art und Weise, wie die meisten anderen Menschen fotografieren, immer mehr auf. Ich hasse Leute, die mir auf Konzerten mit ihren leuchtenden Handys die Sicht versperren, nur um verwackelte Bilder oder Videos aufzunehmen, die sich nie jemand ansehen wird. Menschen, die Bilder von ihrem perfekten Frühstücksei auf Instagram posten oder auf Facebook todlangweilige Dinnerpartys dokumentieren, widern mich an. Und ich verachte Touristen, die in Museen von einem Kunstwerk zum nächsten hetzen und alle Gemälde, Skulpturen und Reliquien fotografieren, ohne ein einziges Mal von ihren LCD-Bildschirmen aufzublicken.

Dennoch muss ich zugeben, dass ich genauso schlimm bin wie alle anderen. Wenn ich ins Museum gehe, sehe ich Dinge, die ich in Erinnerung behalten will. Also mache auch ich ein Foto und hoffe, dass es meinem Gedächtnis später auf die Sprünge helfen wird. Derartige Maßnahmen sind nichts Neues. Seit jeher haben Menschen ihr Gedächtnis mit Hilfe externer Technologien erweitert. Von keilschriftlichen Handelsurkunden über die Bibel bis hin zu persönlichen Tagebüchern haben die Menschen Wege gefunden, ihr Wissen und ihre Erfahrungen festzuhalten. Allerdings war dies nie so einfach wie heute, wo du für 50 Euro einen Terabyte Speicherplatz in der Größe eines Taschenrechners bekommst und Tausende Bilder speichern kannst, die du dir nie wieder anschauen musst.

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Inwiefern aber hat unser exzessives Fotografieren und Sammeln Einfluss auf unsere Erinnerung? Psychologische Erkenntnisse besagen, dass wir viel mehr Informationen aufnehmen, als wir eigentlich haben wollen. Deshalb laufen in unserem Gehirn unablässig Berechnungen darüber, welche dieser Informationen am nützlichsten für uns sind und gespeichert werden. Wissenschaftler sprechen vom Effekt des intentionalen Vergessens, demnach man die Dinge, die als irrelevant gelten, eher vergisst. 2011 konnte anhand einer Studie gezeigt werden, dass dieser Effekt durch das Internet verstärkt wird: Informationen, die man googeln kann, behält man seltener im Kopf.

Ich bin eigentlich immer davon ausgegangen, dass meine Erinnerungen an Orte, Ereignisse, Gesichter und Momente durch das Fotografieren verstärkt wurden. Jetzt stellt sich allerdings heraus, dass es unser Gedächtnis eher sabotiert als verbessert. Letzten Monat hat die US-Wissenschaftlerin Lisa Henkel in der Fachzeitschrift Psychological Memory ihre These dargelegt, dass Fotografieren eine Art intentionales Vergessen auslöst. Mit Hilfe von Experimenten fand sie heraus, dass Personen sich schlechter daran erinnerten, was sie im Museum gesehen haben, wenn sie Fotos davon gemacht haben. „Wenn man auf den Auslöser drückt, wird eine Botschaft ans Gehirn geschickt, die besagt, dass die Kamera die Informationen für mich speichert“, erzählte sie mir im Dezember am Telefon. Dieser Effekt wurde nur dann aufgehoben, wenn die Versuchsteilnehmer eine kleinere Auswahl an Kunstwerken fotografieren sollten. In diesen Fällen haben sie sich genauso gut an das ganze Objekt wie an die fotografierten Teile erinnert. Eine Fokussierung schließt eine genaue Beobachtung des größeren Kontextes also nicht aus.

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Du musst dich nicht daran erinnern müssen, was du letzten Monat bei der Geburtstagsparty eines Freundes einer Freundin alles getrunken hast, aber es ist ganz schön scheiße, sich vorzustellen, dass wir möglicherweise weniger von der Welt mitbekommen, weil wir versuchen, zu viel von ihr festzuhalten. Ich habe mich mit Linda Henkel unterhalten, um mehr darüber zu erfahren, wie Fotografieren unser Gedächtnis und Vergessen beeinflusst.

VICE: Ich habe etwas über den „Tu-Effekt“ gelesen, wonach wir uns eher an Dinge erinnern, die wir tun, als an Dinge, die wir beobachten. Für mich war Fotografieren immer eher eine aktive Tätigkeit als eine passive Erfahrung. Aber Ihr Experiment legt nahe, Fotografieren als gedanklichen Akt aufzufassen.
Linda Henkel: Ich bin mit der Erwartung an die Versuche gegangen, dass Fotografieren unser Gedächtnis stärkt. Ich konnte es nicht in den Artikel aufnehmen, aber ich habe auch getestet, wie häufig sich die Versuchspersonen daran erinnern, ein Foto gemacht oder ein Objekt betrachtet zu haben. Dabei gab es keinen signifikanten Unterschied. Sie konnten sich gleich gut daran erinnern, wie sie ein Objekt wahrgenommen haben, egal, ob sie ein Foto gemacht oder es nur angesehen haben. Auch wenn man beim Fotografieren mehr macht, als sich etwas anzusehen, tust du letztlich nicht viel mehr. Es unterscheidet sich zu wenig vom bloßen Sehen.

In Ihrem Aufsatz heißt es: „Das Auge der Kamera ist nicht das innere Auge.“ Was bedeutet das?  
Die mentale Repräsentation ist nicht identisch mit dem, was man fotografiert. In meinem ersten Experiment mussten die Leute entweder ein Objekt ansehen oder ein Foto machen, auf dem das gesamte Objekt zu sehen war. Im zweiten Experiment mussten sie sich das Objekt entweder ansehen oder mit der Kamera auf ein bestimmtes Detail zoomen, zum Beispiel auf die Hände einer Statue oder den Himmel auf einem Gemälde. Man würde vermuten, dass sie sich besser an die herangezoomten Teile erinnern, aber sie hatten die Teile, die nicht herangezoomt waren, genauso gut im Gedächtnis. Die Kamera hält nur den Ausschnitt fest, auf den sich deine Augen richten, aber das menschliche Gehirn ist viel flexibler. Es formt eine mentale Repräsentation des gesamten Objekts. Du stellst dir die Statue immer als Ganzes vor, auch wenn du nur Teile davon betrachtest, und entsprechend erinnerst du dich auch daran. Das Gehirn speichert nicht das ab, was du fotografiert hast.

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Das heißt, das Foto ist eine Art Synekdoche oder eine visuelle Gedächtnisstütze.
Genau. Wenn du dir die Fotos später anschaust, geben sie dir wundervolle Anhaltspunkte. In Wirklichkeit sehen wir uns die Fotos aber nicht noch einmal an. Das habe ich jedoch nicht untersucht. Ich habe nur die Bilder machen lassen, ohne dass die Versuchspersonen die Gelegenheit hatten, sie später noch einmal anzusehen. Wenn du dir die Fotos nicht anschaust, fällt ihre Funktion als Gedächtnisstütze weg. Wenn du nicht einen Blick auf deinen Terminkalender wirfst, erinnerst du dich ja auch nicht an deine Verabredungen.

Aber es ist doch ein Unterschied, ob man ein statisches Kunstwerk fotografiert oder ein Erlebnis, bei dem man ja von vornherein nur ein Detail festhalten kann.
Aus dieser Studie kann ich nur Schlüsse darüber ziehen, wie wir uns an statische Objekte erinnern. Ich weiß nicht, wie es wäre, wenn die Versuchspersonen eine Szene oder ein komplexes Ereignis fotografieren würden. Es kann sein, dass wir mit sozialen Objekten, wie zum Beispiel Menschen, anders umgehen würden. Es gibt noch nicht viel Forschung dazu, was wir im Alltag fotografieren.

Ist es möglich herauszufinden, ob Fotografieren das Gedächtnis in bestimmten Situationen verbessert? Könnte es sein, dass man die Halbwertzeit seines Gedächtnisses verlängert, wenn man sich in bestimmten Abständen ein Foto ansieht?
In diesem Experiment habe ich versucht, ein Phänomen aus dem wirklichen Leben zu untersuchen—wir alle machen Fotos, die wir uns anschließend nicht mehr ansehen. Ich denke, dass wir einen etwas anderen Langzeiteffekt feststellen, wenn wir die Versuchspersonen nach einer Woche erneut testen. Es könnte aber auch anders sein. Die Erinnerung nimmt im Laufe der Zeit stark ab. Es wäre interessant zu sehen, welchen Einfluss die Zeit—mit und ohne Fotos—auf das Gedächtnis hat.

In dem Versuch machen die Leute Fotos von Dingen, für die sie sich nicht von sich aus begeistern. Führt das nicht dazu, dass sie sie schneller wieder vergessen?
Um die Kontrolle über das Experiment zu behalten, musste ich den Versuchspersonen vorschreiben, was sie sich ansehen. Sie haben die Objekte 25 Sekunden lang betrachtet, ohne zu wissen, ob sie danach ein Foto machen oder sie weiter ansehen sollten. Es kann sein, dass deine Gedächtnisleistung angetrieben wird, wenn du etwas siehst, das dir so wichtig vorkommt, dass du es fotografieren willst. Doch sobald du auf den Auslöser drückst, lagerst du die Erinnerung wieder an ein externes Gedächtnis aus. Der Effekt des Vergessens könnte also nichtsdestotrotz eintreten. Wir müssen noch eine Studie machen, um herauszufinden, wie sich Fotos, die aus eigenem Antrieb gemacht werden, von denen unterscheiden, die durch ein Experiment vorgeschrieben werden.

Fotografieren Sie nach dieser Studie anders?  
Nicht unbedingt. Mein Vater war Fotograf und ich habe immer gern fotografiert. Ich versuche, mir meine Bilder anzusehen. Ich mache aber auch Fotos mit meinem Handy, obwohl ich nie etwas mit ihnen anstellen werde. Eigentlich bin ich genauso wie alle anderen.