Wie es ist, mit 82 Jahren bei Grindr unterwegs zu sein

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Wie es ist, mit 82 Jahren bei Grindr unterwegs zu sein

Chris Wilson findet seine Sexpartner auch im hohen Alter noch online und ist dabei überaus erfolgreich.

Wenn es seine Sache gibt, die homosexuelle Männer in ihrem Umfeld bemerken, dann ist das die vorherrschende Altersdiskriminierung. Auf einschlägigen Seiten gibt es beim Thema Alter oft strenge Richtlinien: Niemand über 40, niemand über 30 und manche erlauben nicht mal Mitglieder über 25. Anscheinend ist das Schwulsein nicht nur teuer (jedes Jahr muss eine neue Lederjacke gekauft werden), sondern auch nur für junge Leute geeignet.

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Dementsprechend ist Chris Wilson—seit den frühen 70er Jahren stolzer Schwuler—definitiv eine Art Pionier. Im Alter von 82 Jahren ist er immer noch aktiv in der Sex- und Single-Szene der kanadischen Provinz Québec unterwegs und bei diversen Apps wie zum Beispiel Grindr angemeldet. Wir haben uns mit Wilson getroffen, um darüber zu reden, wie es sich anfühlt, als Achtzigjähriger auf Online-Partnersuche zu gehen.

Chris Wilson (Fotos: Keith Race)

VICE: Wann hast du dich zum ersten Mal für Dating-Seiten interessiert?
Chris Wilson: Das war so vor sieben Jahren. Ich bekam eine Spam-Mail, die irgendwie mein Interesse weckte. Ich landete auf einer Website namens „Horny Matches", wo es allerdings richtig viele Fake-Profile gab und irgendwie nie jemand online war. Dann sah ich einen Squirt-Banner und legte mir dort gleich einen Account an. Vor gut fünf Jahren bekam ich schließlich Besuch von einem Freund, der mich auf Grindr aufmerksam machte. Ich sah mich dort etwas um und es dauerte auch eine Weile, bis ich mich daran gewöhnt hatte.

Schließlich gibt es dort ja viele verschiedene Codes und Regeln, auf die man achten muss, und die Leute vermitteln ihre Intentionen auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Für mich ist es vor allem wichtig zu spüren, wie weit entfernt die User eigentlich sind—und Grindr kriegt das ganz gut hin. Ich chatte liebend gerne mit Typen aus Montreal, aber Leute aus den USA meide ich eher, denn inzwischen wird man an der Grenze richtig streng kontrolliert und ich habe keine Lust, auf irgendeiner Überwachungsliste zu landen. Männer aus Ottawa lasse ich ebenfalls links liegen, denn die Stadt ist zum einen viel zu weit entfernt und zum anderen noch richtig langweilig.

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Wurdest du vom Altersunterschied bei Grindr nicht abgeschreckt? Es hat doch den Anschein, als würden dort vor allem junge Männer aktiv sein.
Als ich mir mein Profil anlegte, gab es schon ein paar aggressive Typen, die mich fragten, was ich überhaupt auf so einer Seite verloren hätte. Ich meinte dann immer: „Ich bin schwul, das ist eine Schwulenseite und Schwulsein definiert sich nicht über das Alter oder das Aussehen. Ich habe genauso das Recht wie ihr, hier zu sein. Ihr solltet lieber aufpassen, was ihr da von euch gebt, denn auch ihr werdet irgendwann in meinem Alter sein."

Ich habe allerdings keine Lust auf ausufernde Streitereien. Ab und an sehe ich noch ein paar beleidigende Sachen und wenn mir irgendwas mit Sodomie unterkommt, dann melde ich das sofort. Im Allgemeinen kann man aber sagen, dass die Leute in letzter Zeit viel höflicher geworden sind. Ich habe mal für die Gay Line gearbeitet—das ist eine freiwillige Telefonhilfe in Montreal. Dabei habe ich ziemlich schnell gelernt, wie man sich online korrekt verhält. Es ist auch schon vorgekommen, dass ich mich bei Grindr mit Leuten über ihren Gemütszustand unterhalten und sie dadurch letztendlich vom Selbstmord abgehalten habe.

Hast du mithilfe dieser Dienste auch schon mal einen festen Partner gefunden oder geht es dir hauptsächlich um Sex?
Von festen Beziehungen würde ich hier nicht reden, denn für so etwas interessiere ich mich in meinem Alter gar nicht mehr. Ich lebe mit einem Hetero zusammen und wir verstehen uns super. Wenn man jedoch mit einem attraktiven Hetero zusammenlebt, dann bedeutet das manchmal leider auch, dass man geil und unruhig wird. Dann kommt mir Grindr gerade recht. Zur Zeit habe ich vier „Friends with benefits" am Start. Einer davon kommt aus Sri Lanka, ist Krankenpfleger und schaut ab und zu bei mir vorbei. Das ist immer richtig entspannend. Dann ist da noch ein anderer Mann aus dem Libanon.

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Dein Sexleben hat irgendwie was von einer UN-Versammlung.
Ja, das stimmt! Ich bin viel herumgekommen und stehe auf alle Männer—ganz egal, woher sie stammen.

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Nutzt du neben Grindr und Squirt auch noch andere Seiten oder Apps?
Ich bin auch bei Adam4Adam und GayRomeo angemeldet. Bei GayRomeo habe ich bloß immer das Problem, dass Typen aus weit entfernten Ländern mit mir flirten wollen, zum Beispiel Inder oder Jamaikaner. Ich glaube, dass mich viele User einfach nur als alten Knacker ansehen, dem sie etwas Geld abluchsen oder über den sie nach Kanada kommen können. In meinem Profil heißt es: „Stehst du auf Achtzigjährige?"

Manchmal werde ich gefragt, was das bedeuten soll, und das ist ein großartiger Filter—ich habe nämlich keine Lust darauf, mich mit dummen Menschen zu unterhalten. Außerdem schreibe ich manchmal Folgendes: „Ich bin zwar nicht dein Daddy, aber ich spiele gerne deinen versauten, alten Onkel." Das klappt meistens. So wissen sie, dass ich keinen Bock habe, einen auf Sugar Daddy zu machen und jemanden finanziell zu unterstützen, der dann abhängig von mir wäre. Oft flirten Typen mit mir, die sich noch genau daran erinnern können, wie sie von ihren versauten, alten Onkels angemacht wurden.

Gab es auch schon Anfragen, die zu extrem waren?
Ab und an zeige ich Bilder von meinen Hunden. Daraufhin hat mich ein Typ mal gefragt, was ich von Sodomie halten würde. Ich habe ihn natürlich sofort gemeldet.

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Hast du dir schon den Film Geron angeschaut?
Ja. Ich musste mir dabei auch ein paar Tränen verdrücken. Meiner Meinung nach ist das ein toller Film, der vor allem den Jungspund anspricht, der sich immer noch irgendwo in den Körpern vieler alter Männer befindet. Außerdem ist Geron sehr aufschlussreich: In Schwulenkreisen gibt es viel Altersdiskriminierung und ich finde es wichtig, dass man darüber redet.

Bietet irgendeine dieser Seiten einen Seniorenrabatt an?
Nein, noch nicht.

Nimmst du Viagra?
Ich habe es mal mit Viagra probiert, bevorzuge aber immer noch Cialis. Leider wirkt das Ganze erst am nächsten Tag, deswegen muss ich immer im Voraus planen. Die Pillen funktionieren bei mir zwar schon, aber eigentlich brauche ich sie gar nicht.

In deinem Profil hast du angegeben, dass du auf „jüngere Typen" stehst. Das kann ja eigentlich nur vorteilhaft sein, denn auf diesen Seiten sind wohl kaum Männer über 82 aktiv, oder?
Nein. Es gibt aber viele festgelegte Altersgruppen. Typen zwischen 40 und 50 sind dort richtig präsent und dann gibt es auch noch viele Männer über 60. Ich finde es richtig abturnend, wenn jemand schreibt, dass er einsam ist. Das sollte man genießen. Ich bin zum Beispiel nie einsam.

Du scheinst viel Zeit online zu verbringen—gerade hast du Grindr auf deinem Smartphone geöffnet. Wie oft triffst du dich dann wirklich?
So ungefährt zweimal pro Monat—das ist mein Durchschnitt. Außerdem übernehme ich beim Sex auch nicht mehr wirklich den aktiven Part. Mit viel Überzeugungsarbeit könnte ich das zwar schon noch machen, aber ich gebe lieber Blowjobs oder spiele die passive Rolle. Es gibt viele Leute, die das selbst mit einem alten Mann gut finden. Manchmal hilft ihnen dabei eine frühere Erfahrung mit einer älteren Person. Einige junge Typen stehen gar nicht so sehr auf Gleichaltrige. Mit ihnen werde ich gerne intim. Ich bin allerdings auch kulturell sehr interessiert und deswegen gehe ich mit einem Date manchmal auf einfach nur auf ein Konzert.

Dein Coming-Out ist jetzt schon ziemlich lange her. Wie gestaltet sich heutzutage das Cruisen im Vergleich zu damals?
In den 70er-Jahren sein Coming-Out zu haben, bedeutete, dass man vor allem durch Bars zog und die Leute dabei ziemlich betrunken waren. Es kam auch schon mal vor, dass die ganze Nacht lang nichts lief oder dass man jemanden mit nach Hause genommen hat, bei dem man sich gar nicht so sicher war. Durch die Online-Apps bieten sich einem jetzt viel mehr Möglichkeiten.

Natürlich muss man auch erstmal herausfinden, wer es wirklich ernst meint, aber wenn man da erstmal den Dreh raus hat, dann kann man sich seine eigenen Bedingungen und Filter festlegen und so nur Leute treffen, die einem wirklich zusagen. Grindr ist vor allem auf Reisen extrem hilfreich. In London wurde ich zum Beispiel von gut 40 Typen angeschrieben. In sieben Tagen hatte ich acht Mal Sex!

Die Briten scheinen eine Vorliebe für die ältere Generation zu haben.
Allerdings.

Online scheint es also nicht wirklich viel Altersdiskriminierung zu geben?
Mir sind jetzt noch keine „Keine alten Säcke"-Profile oder Altersbeschränkungen untergekommen, aber das Ganze macht mich sowieso nicht wütend und ich fühle mich davon auch nicht bedroht. Als ich noch jünger war, habe ich ja genauso gedacht und stand überhaupt nicht auf ältere Männer. Ich respektiere eine solche Einstellung, so lange sie höflich und nicht verächtlich rübergebracht wird.